Nach dem Anschlag auf Shinzō Abe hat sich die Situation in Japan komplett verändert. Die LDP hat den Wahlkampf, der für die Partei bisher nicht gut lief, abgebrochen, und der Wahlausgang scheint derzeit völlig offen.
Auf den ehemaligen japanischen Premierminister Abe wurde am 8. Juli vormittags um 11 Uhr während einer Wahlkampfveranstaltung in Nara ein Mordanschlag verübt. Der Attentäter hatte sich bei der Straßenveranstaltung unter die Zuschauer gemischt, und als Abe das Wort ergriff, hatte er sich von hinten genähert und eine Waffe gezogen. Diese Waffe bestand aus zwei zusammengebundenen, 40 Zentimeter langen Rohren.
Nach dem ersten Schuss blieb Abe noch stehen und wandte sich um. Der folgende zweite Schuss traf ihn dann tödlich. Er soll noch bei Bewusstsein gewesen sein, als er mit Herzmassage behandelt wurde, litt jedoch unter großem Blutverlust. Abe wurde umgehend ins Spital gebracht, verlor aber das Bewusstsein und verstarb am Nachmittag gegen 5 Uhr.
Einer Handyvideoaufnahme ist zu entnehmen, dass nach dem ersten Schuss keine sichtbare Reaktion der Sicherheitsbeamten erfolgte. Obwohl der Knall sehr laut war, wurde er Zeugen zufolge nicht für einen Schuss, sondern für einen geplatzten Reifen oder für die Explosion eines Feuerwerkskörpers gehalten. Die Tatwaffe dürfte der mutmaßliche Attentäter selbst hergestellt haben, und da Japan sehr strikte Waffengesetze hat – privater Waffenbesitz ist verboten –, wurde es offenbar nicht für möglich gehalten, dass auf offener Straße geschossen wird. Erst nach dem zweiten Schuss wurde der Attentäter überwältigt.
Ersten Informationen zufolge heißt der mutmaßliche Attentäter Tetsuya Yamagami, ist 41 Jahre alt und stammt aus Nara. Von 2002 bis 2005 war er in Hiroshima bei der Marine der japanischen Selbstverteidungskräfte verpflichtet. In seiner nach dem Attentat durchsuchten Wohnung wurde Sprengstoff gefunden, und er gab nach seiner Verhaftung an, wegen eines Grolls gegen Abe dessen Ermordung geplant zu haben.
Nach seinem Rücktritt begann eine instabile politische Phase
Politische Attentate ereigneten sich in Japan in den letzten Jahren selten, aus diesem Grund waren die Sicherheitsvorkehrungen wohl nachlässig. In den 60er und 70er Jahren hatte es brutale Mordanschläge auf Politiker gegeben, die in der aufgeheizten politischen Atmosphäre damals meist von Links- oder Rechtsextremisten ausgegangen waren. Obwohl es danach noch vereinzelt zu politischen Anschlägen kam, hatte sich seit den 80er Jahren die politische Lage weitgehend beruhigt.
Trauer und Entsetzen über den Mordanschlag sind sowohl in Japan als auch international groß. Abe stammte aus einer angesehenen Politikerfamilie und wurde 1954 in Tokyo geboren. 1993 gewann er den Wahlkreis, den sein Vater bis zu dessen Tod innegehabt hatte, und machte danach innerhalb der LDP, der Liberaldemokratischen Partei, politische Karriere. 2006 wurde er mit 52 Jahren erstmals Premierminister. Diese erste Amtszeit verlief jedoch wenig erfolgreich und aufgrund einer chronischen Krankheit musste er 2007 sein Amt wieder niederlegen.
Nach seinem Rücktritt begann eine instabile politische Phase, in der die Premierminister fast jährlich wechselten. Abes Partei verlor 2009 die Wahlen gegen ein Parteienbündnis, doch 2012 kam die LDP wieder an die Macht. Abe konnte sich gegen interne Parteirivalen durchsetzen, wurde ein zweites Mal Premierminister und hielt sich danach acht Jahre unangefochten im Amt.
2020 trat er nach einer für japanische Verhältnisse ungewöhnlich langen Amtszeit als Premierminister aus gesundheitlichen Gründen zurück, behielt aber großen Einfluss in seiner Partei. Vor allem die von ihm vorangetriebene Politik einer exzessiven Staatsverschuldung wurde unter seinen Nachfolgern fortgesetzt.
Verhältnis zu Nachbarstaaten Japans hatte sich verschlechtert
Abes Sympathiewerte waren während seiner Amtszeit hoch. Die Wähler rechneten es ihm als Verdienst an, wieder Stabilität in die japanische Politik gebracht zu haben. Er bemühte sich, die Deflation zu bekämpfen, unter der die japanische Wirtschaft lange Zeit litt. Er setzte auf wirtschaftliche Maßnahmen, wie Quantitative Easing und eine Unterstützung japanischer Firmen. Der neue Präsident der Japanischen Zentralbank ergriff im Einvernehmen mit Abe Maßnahmen, die zu einer massiven Abwertung des Yen gegenüber dem Dollar und dem Euro führte, was den exportorientierten Unternehmen zugute kam, und gab ein Inflationsziel von 2 Prozent aus.
Es gelang Abe, die japanische Wirtschaft vorübergehend aus der Rezession herauszuführen und die Beschäftigungszahlen in die Höhe zu bringen. Die von ihm vorangetriebene Erhöhung der Mehrwertsteuer verursachte dann aber einen wirtschaftlichen Einbruch, und mit Beginn der Corona-Krise ging die Wachstumsphase endgültig zu Ende.
Ein wichtiges außenpolitisches Ziel Abes war, ein Abkommen über die Rückgabe der südlichen Kurilen mit Russland zu erreichen. Die Sowjetarmee hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere japanische Inseln nördlich von Hokkaido besetzt, und Bestrebungen, sie zurückzufordern, hatten schon im Kalten Krieg eingesetzt.
Mit Politikern aus dem Westen und auch mit Putin war Abe immer gut ausgekommen, doch das Verhältnis zu anderen Nachbarstaaten Japans hatte sich in seiner Amtszeit verschlechtert. Mit China wegen des Konflikts um die Senkaku Inseln, mit Südkorea aus wirtschaftlichen Gründen.
Das dominierende Wahlkampfthema war die steigende Inflation
Bei der Wahlveranstaltung, anlässlich der das Attentat stattfand, ging es um die am Sonntag, den 10. Juli, bevorstehende Oberhauswahl. Abe wollte mit seinem Auftritt die Kandidaten seiner Partei unterstützen. Das dominierende Wahlkampfthema war die steigende Inflation und die zunehmende Schwäche des Yen.
Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine waren die Preise an den Tankstellen stark gestiegen. Der Anstieg schien kaum zu bremsen, stabilisierte sich dann aber auf sehr hohem Niveau. Zugleich erhöhten sich die Tarife für Strom und Gas, und die Preise im Supermarkt, vor allem für Importprodukte, stiegen. Die Ursache war, dass der schwache Yen weiter gegenüber dem Dollar und dem Euro an Wert verlor. Die Kaufkraft des Yen fiel auf den Wert in den 70er Jahren zurück.
Der derzeitige Premierminister Kishida lehnte ein Entlastungspaket ab und weigerte sich, Maßnahmen gegen die Teuerung zu ergreifen. Er betonte, dass die Inflation in Japan im Vergleich zu Europa oder Amerika gering sei. Viele Leute spürten die Teuerung dennoch im Geldbeutel. Deshalb bot Kishidas Politik allen anderen Parteien eine große Angriffsfläche, und es wurde gefordert, wenigstens vorübergehend die Mehrwertsteuer zu senken.
Nach dem Anschlag auf Abe hat sich die Situation jedoch komplett verändert. Auf Anweisung des derzeitigen Premierministers Kishida hat die LDP den Wahlkampf, der für die Partei bisher nicht gut lief, abgebrochen, und der Wahlausgang scheint derzeit völlig offen.