Plötzlich sahen wir zwei Schatten über unseren Köpfen vorbeihuschen, gefolgt von einem deftigen Knall, der durch Mark und Beine ging. Es waren zwei Kampfflugzeuge, die über uns hinwegflogen mit einem heftigen Überschallknall, der uns so lähmte, dass wir gar nicht realisierten, dass gleichzeitig mehrere Panzer in einem horrenden Tempo auf uns zurasten.
Ich habe meine Rekrutenschule 1977 als Füsilier absolviert und danach acht Wiederholungskurse und drei Ergänzungskurse besucht. Das waren 47 Wochen Militärdienst in einer Milizarmee. Dieses knappe Jahr ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Einsatz meines Freundes Ben in Israel, der einen dreijährigen Militärdienst zu leisten hatte und des Weiteren auch noch zu Wiederholungskursen eingezogen wurde. Und natürlich hatte Ben auch schon Ernstfälle zu überstehen, von denen ich glücklicherweise verschont worden war.
Aber vor allem die Wiederholungskurse hatten es in sich, besuchte ich doch diese in der Ära Mabillard. Dieser Walliser Ausbildungskommandant hatte damals das Gefühl, dass die "Hippiegeneration" verweichlicht sei und die Militärausbildung unbedingt härter werden müsste. Das führte zu ziemlich unappetitlichen Szenen mit erfrorenen Soldaten, Zusammenbrüchen während der ausgedehnten Märsche und tödlichen Schießunfällen. Um es aber gleich zu sagen, ich machte nie gerne Militärdienst, ob weich oder hart. Die Diensttage waren für den verwöhnten linken "Stadtmenschen" aus Basel ein Kulturschock. Als Jungkommunist schwärmte ich zwar von den militärischen Leistungen des Vietcong, als ich jedoch selbst Übungen in dieser Kategorie zu absolvieren hatte, relativierte sich meine Begeisterung umgekehrt proportional zum Umfang der Nachtmärsche in Regen und Kälte.
Damals gab es noch keinen Zivildienst. Den Dienstunwilligen standen drei Möglichkeiten offen: eine Gewissensprüfung, der Psychiater oder das Gefängnis.
Obwohl ich mich politisch sehr für einen Zivildienst engagierte, kam er für mich nie infrage. Meine älteren PdA-Genossen (PdA – Partei der Arbeit – die offizielle kommunistische Partei) hatten zwar ihre Vorbehalte gegen die Armee, die sie immer im Verdacht hatten, die Speerspitze des Bürgertums gegen die Arbeiterklasse zu sein. Aber der Pazifismus gehörte nie zu den Kernforderungen dieser klassischen kommunistischen Partei. Das galt auch für die Mehrheit der jüngeren Sozialdemokraten, die ebenfalls den Marschbefehl erhielten. Im Falle eines Angriffs auf die Schweiz wären wir ohne Zögern an die Front gegangen. Niemals – so unsere Überzeugung – hätten wir uns für einem Einsatz gegen die eigene Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Das große Privileg einer Milizarmee. Und so rückten wir linken Aktivisten in diese Milizarmee ein und trafen dort Bauern, Handwerker, Büroangestellte, Lehrer, kurz einen recht repräsentativen Schnitt unserer Schweizer Gesellschaft in den 70er Jahren.
Wir klopften uns die Kälte aus den Gliedern und warteten auf den Übungsabbruch
Ich hatte in meiner Dienstzeit viele Erlebnisse. Ein Vorfall hingegen hat meine Einstellung bis heute geprägt. Wir befanden uns in einem dreitägigen Manöver im Luzernischen. Wir lagen in der Nähe eines Bauernhofs und langweilten uns mehrheitlich. Lustlos bauten wir an den Stellungen, aus denen wir einen allfälligen Panzerangriff hätten verhindern sollen. Es war schon im November, entsprechend kalt waren die Nächte, die wir draußen verbringen mussten. Am Morgen des dritten Manövertags schien uns die Sonne ins Gesicht, und wir waren froh, dass die ganze Übung um 11.00 Uhr fertig sein sollte. Wir klopften uns die Kälte aus den Gliedern und warteten auf den Übungsabbruch.
Plötzlich sahen wir zwei Schatten über unseren Köpfen vorbeihuschen, gefolgt von einem deftigen Knall, der durch Mark und Beine ging. Es waren zwei Kampfflugzeuge, die über uns hinwegflogen mit einem heftigen Überschallknall, der uns so lähmte, dass wir gar nicht realisierten, dass gleichzeitig mehrere Panzer in einem horrenden Tempo auf uns zurasten. Genau auf so einen Fall hatten wir jahrelang trainiert. Innert 30 Sekunden hätten aus unseren Rakrohren auf jeden Panzer zwei Panzerraketen landen sollen. Etwa 50 Meter vor uns bremsten die Panzer ab und französisch sprechende Panzergrenadiere standen vor uns und lachten uns aus. Von unserer Seite fiel kein einziger Schuss. Diese Begebenheit ist mehr als eine dieser "Militärgeschichtchen", die man sich vorzugsweise in Männerbünden an Stammtischen gegenseitig erzählt.
Ich erinnere mich auch heute noch an diese Situation, vor allem, wenn ich die täglichen Strategieberichte und Durchhalteparolen an die Ukraine aus den gemütlichen Fernsehstudios und Redaktionsstuben des Westens vernehme. Damals wähnte ich mich für einige Sekunden im Ernstfall und mir zitterten die Hände. Ein Kamerad neben mir sah mich an und flüsterte: "Zum Glück ist das nur ein Manöver!" Dabei hätte man noch einberechnen müssen, dass im Ernstfall von den Flugzeugen Bomben auf uns heruntergeprasselt wären und wohl auch die Panzer uns eingedeckt hätten.
Für die immer zahlreicheren Militärumgeher in meinem Freundeskreis – mittlerweile war der Zivildienst eingeführt und die Gewissensprüfung abgeschafft worden – hatte man zu Militärfragen eine einfache Antwort: "Wir haben eh keine Chance!"! Oder: "Krieg ist nie eine Lösung!"
Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine löste einen regelrechten Schock aus.
Die Initiative zur Abschaffung der Armee wurde von 36 Prozent der Bevölkerung angenommen (1989), die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge scheiterte einmal an der Urne (2014) und wurde sechs Jahre später nur hauchdünn (50,1 Prozent) angenommen. Die Armee wurde immer mehr für Bewachungsaufgaben eingesetzt (WEF – Davos). Willkommen waren die Milizsoldaten auch als Pistenpräparatoren für die Weltcup-Skirennen oder Terrainhersteller bei den beliebten Schwingfesten. Zuverlässig agierte die Armee immer im Fall von Naturkatastrophen, was aber traditionell immer ihre Aufgabe war. Die Ausgaben betrugen im Jahr 2022 5,87 Milliarden Franken, was 0,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht.
Als ehemaliger Militärdienstleister und Befürworter der Beschaffung von Kampfflugzeugen wurde ich in meinem Milieu und Freundeskreis stets belächelt. Selbst engste Verbündete in den Lehrerkreisen konnten meine Argumentation nicht nachvollziehen. Ich erklärte ihnen jeweils lapidar: "Entweder haben wir eine technisch gut ausgerüstete Armee, die wir im Ernstfall für die Landesverteidigung einsetzen können, dann brauchen wir auch einen Schutzschild im Himmel. Oder wir schaffen sie ab."
Im September 2021 wurde das ohnehin schon strenge Waffenausfuhrgesetz der Schweiz unter dem Druck einer Volksinitiative noch weiter verschärft. Nun war es nicht nur mehr verboten, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, wie bis anhin. Die Käufer mussten neuerdings eine Erklärung unterschreiben, wonach auch der Weiterverkauf dieser Waffen in allfällige Kriegsgebiete untersagt wurde.
Der 24. Februar 2022 änderte alles. Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine löste einen regelrechten Schock in der westlichen Zivilgesellschaft aus. Die westlichen Regierungen, angeführt von den USA, überboten sich mit Solidaritätserklärungen, lieferten massenweise modernste Waffen und verhängten Sanktionen gegen Russland.
Bewusst werden, was sich in den Gräben dieses grauenhaften Schlachtens abspielt
Der verblüffendste Sinneswandel vollzog sich aber bei einem Teil der etablierten Linken. Über Nacht wurden aus diesen Friedensaktivisten regelrechte Kriegsrhetoriker. Die Ukraine verteidige unsere westlichen Werte. Sie brauche dringend Waffen, man dürfe die Neutralität und das soeben verschärfte Waffenausfuhrverbot nicht so stur auslegen. Auch der Widerstand gegen neue Kampfflugzeuge schmolz umgekehrt proportional zur Kriegseuphorie.
Eifrig wurden in den Medien die Möglichkeiten neuer ukrainischer Offensiven ausgelotet, die Kriegsberichterstattung geriet immer wie mehr zu einer Propaganda- und Wunschoffensive. Keine Frage, ich unterstütze die Ukraine in ihren Bemühungen gegen die russische Aggression fast vorbehaltlos. Und – würde ich in Kiew leben – hätte ich ohne zu zögern meinen Anteil an der Verteidigung meines Landes geleistet. Trotzdem weiß ich, dass jeden Tag, jede Stunde hunderte von jungen Männern an der Front verbluten, Russen und Ukrainer. Gar nicht zu reden von den zahllosen Kriegsversehrten und getöteten Zivilisten in der Heimatfront. Der Satz: "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen!" geht aus der Sicht wohltemperierter Fernsehstudios und Parlamentssäle leicht von den Lippen.
Als jemand, der die Frontrealität und das Soldatensein vergleichsweise nur im Promilleansatz erlebt hat, habe ich größte Mühe damit, wenn sich über Nacht Armeeabschaffer, Zivildienstleister, Pazifisten und Friedensaktivisten in Kriegsrhetoriker verwandeln und dem ukrainischen Volk eine billige Solidarität vorgaukeln. Ich hüte mich davor, diese Zeilen damit abzuschließen, dem ukrainischen Volk irgendwelche Ratschläge zu geben. Ich appelliere aber daran, dass sich unsere westlichen Kriegskommentatoren immer wieder bewusst werden, was sich derzeit in den Gräben dieses unnötigen und grauenhaften Schlachtens abspielt.