Alain Pichard, Gastautor / 20.09.2023 / 12:00 / Foto: Pixabay / 45 / Seite ausdrucken

„Zum Glück ist das nur ein Manöver!“

Plötzlich sahen wir zwei Schatten über unseren Köpfen vorbeihuschen, gefolgt von einem deftigen Knall, der durch Mark und Beine ging. Es waren zwei Kampfflugzeuge, die über uns hinwegflogen mit einem heftigen Überschallknall, der uns so lähmte, dass wir gar nicht realisierten, dass gleichzeitig mehrere Panzer in einem horrenden Tempo auf uns zurasten.

Ich habe meine Rekrutenschule 1977 als Füsilier absolviert und danach acht Wiederholungskurse und drei Ergänzungskurse besucht. Das waren 47 Wochen Militärdienst in einer Milizarmee. Dieses knappe Jahr ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Einsatz meines Freundes Ben in Israel, der einen dreijährigen Militärdienst zu leisten hatte und des Weiteren auch noch zu Wiederholungskursen eingezogen wurde. Und natürlich hatte Ben auch schon Ernstfälle zu überstehen, von denen ich glücklicherweise verschont worden war.

Aber vor allem die Wiederholungskurse hatten es in sich, besuchte ich doch diese in der Ära Mabillard. Dieser Walliser Ausbildungskommandant hatte damals das Gefühl, dass die "Hippiegeneration" verweichlicht sei und die Militärausbildung unbedingt härter werden müsste. Das führte zu ziemlich unappetitlichen Szenen mit erfrorenen Soldaten, Zusammenbrüchen während der ausgedehnten Märsche und tödlichen Schießunfällen. Um es aber gleich zu sagen, ich machte nie gerne Militärdienst, ob weich oder hart. Die Diensttage waren für den verwöhnten linken "Stadtmenschen" aus Basel ein Kulturschock. Als Jungkommunist schwärmte ich zwar von den militärischen Leistungen des Vietcong, als ich jedoch selbst Übungen in dieser Kategorie zu absolvieren hatte, relativierte sich meine Begeisterung umgekehrt proportional zum Umfang der Nachtmärsche in Regen und Kälte. 

Damals gab es noch keinen Zivildienst. Den Dienstunwilligen standen drei Möglichkeiten offen: eine Gewissensprüfung, der Psychiater oder das Gefängnis.

Obwohl ich mich politisch sehr für einen Zivildienst engagierte, kam er für mich nie infrage. Meine älteren PdA-Genossen (PdA – Partei der Arbeit – die offizielle kommunistische Partei) hatten zwar ihre Vorbehalte gegen die Armee, die sie immer im Verdacht hatten, die Speerspitze des Bürgertums gegen die Arbeiterklasse zu sein. Aber der Pazifismus gehörte nie zu den Kernforderungen dieser klassischen kommunistischen Partei. Das galt auch für die Mehrheit der jüngeren Sozialdemokraten, die ebenfalls den Marschbefehl erhielten. Im Falle eines Angriffs auf die Schweiz wären wir ohne Zögern an die Front gegangen. Niemals – so unsere Überzeugung – hätten wir uns für einem Einsatz gegen die eigene Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Das große Privileg einer Milizarmee. Und so rückten wir linken Aktivisten in diese Milizarmee ein und trafen dort Bauern, Handwerker, Büroangestellte, Lehrer, kurz einen recht repräsentativen Schnitt unserer Schweizer Gesellschaft in den 70er Jahren. 

Wir klopften uns die Kälte aus den Gliedern und warteten auf den Übungsabbruch

Ich hatte in meiner Dienstzeit viele Erlebnisse. Ein Vorfall hingegen hat meine Einstellung bis heute geprägt. Wir befanden uns in einem dreitägigen Manöver im Luzernischen. Wir lagen in der Nähe eines Bauernhofs und langweilten uns mehrheitlich. Lustlos bauten wir an den Stellungen, aus denen wir einen allfälligen Panzerangriff hätten verhindern sollen. Es war schon im November, entsprechend kalt waren die Nächte, die wir draußen verbringen mussten. Am Morgen des dritten Manövertags schien uns die Sonne ins Gesicht, und wir waren froh, dass die ganze Übung um 11.00 Uhr fertig sein sollte. Wir klopften uns die Kälte aus den Gliedern und warteten auf den Übungsabbruch.

Plötzlich sahen wir zwei Schatten über unseren Köpfen vorbeihuschen, gefolgt von einem deftigen Knall, der durch Mark und Beine ging. Es waren zwei Kampfflugzeuge, die über uns hinwegflogen mit einem heftigen Überschallknall, der uns so lähmte, dass wir gar nicht realisierten, dass gleichzeitig mehrere Panzer in einem horrenden Tempo auf uns zurasten. Genau auf so einen Fall hatten wir jahrelang trainiert. Innert 30 Sekunden hätten aus unseren Rakrohren auf jeden Panzer zwei Panzerraketen landen sollen. Etwa 50 Meter vor uns bremsten die Panzer ab und französisch sprechende Panzergrenadiere standen vor uns und lachten uns aus. Von unserer Seite fiel kein einziger Schuss. Diese Begebenheit ist mehr als eine dieser "Militärgeschichtchen", die man sich vorzugsweise in Männerbünden an Stammtischen gegenseitig erzählt.

Ich erinnere mich auch heute noch an diese Situation, vor allem, wenn ich die täglichen Strategieberichte und Durchhalteparolen an die Ukraine aus den gemütlichen Fernsehstudios und Redaktionsstuben des Westens vernehme. Damals wähnte ich mich für einige Sekunden im Ernstfall und mir zitterten die Hände. Ein Kamerad neben mir sah mich an und flüsterte: "Zum Glück ist das nur ein Manöver!" Dabei hätte man noch einberechnen müssen, dass im Ernstfall von den Flugzeugen Bomben auf uns heruntergeprasselt wären und wohl auch die Panzer uns eingedeckt hätten.  

Für die immer zahlreicheren Militärumgeher in meinem Freundeskreis – mittlerweile war der Zivildienst eingeführt und die Gewissensprüfung abgeschafft worden – hatte man zu Militärfragen eine einfache Antwort: "Wir haben eh keine Chance!"! Oder: "Krieg ist nie eine Lösung!"

Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine löste einen regelrechten Schock aus.

Die Initiative zur Abschaffung der Armee wurde von 36 Prozent der Bevölkerung angenommen (1989), die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge scheiterte einmal an der Urne (2014) und wurde sechs Jahre später nur hauchdünn (50,1 Prozent) angenommen. Die Armee wurde immer mehr für Bewachungsaufgaben eingesetzt (WEF – Davos). Willkommen waren die Milizsoldaten auch als Pistenpräparatoren für die Weltcup-Skirennen oder Terrainhersteller bei den beliebten Schwingfesten. Zuverlässig agierte die Armee immer im Fall von Naturkatastrophen, was aber traditionell immer ihre Aufgabe war. Die Ausgaben betrugen im Jahr 2022 5,87 Milliarden Franken, was 0,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht. 

Als ehemaliger Militärdienstleister und Befürworter der Beschaffung von Kampfflugzeugen wurde ich in meinem Milieu und Freundeskreis stets belächelt. Selbst engste Verbündete in den Lehrerkreisen konnten meine Argumentation nicht nachvollziehen. Ich erklärte ihnen jeweils lapidar: "Entweder haben wir eine technisch gut ausgerüstete Armee, die wir im Ernstfall für die Landesverteidigung einsetzen können, dann brauchen wir auch einen Schutzschild im Himmel. Oder wir schaffen sie ab." 

Im September 2021 wurde das ohnehin schon strenge Waffenausfuhrgesetz der Schweiz unter dem Druck einer Volksinitiative noch weiter verschärft. Nun war es nicht nur mehr verboten, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, wie bis anhin. Die Käufer mussten neuerdings eine Erklärung unterschreiben, wonach auch der Weiterverkauf dieser Waffen in allfällige Kriegsgebiete untersagt wurde. 

Der 24. Februar 2022 änderte alles. Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine löste einen regelrechten Schock in der westlichen Zivilgesellschaft aus. Die westlichen Regierungen, angeführt von den USA, überboten sich mit Solidaritätserklärungen, lieferten massenweise modernste Waffen und verhängten Sanktionen gegen Russland. 

Bewusst werden, was sich in den Gräben dieses grauenhaften Schlachtens abspielt

Der verblüffendste Sinneswandel vollzog sich aber bei einem Teil der etablierten Linken. Über Nacht wurden aus diesen Friedensaktivisten regelrechte Kriegsrhetoriker. Die Ukraine verteidige unsere westlichen Werte. Sie brauche dringend Waffen, man dürfe die Neutralität und das soeben verschärfte Waffenausfuhrverbot nicht so stur auslegen. Auch der Widerstand gegen neue Kampfflugzeuge schmolz umgekehrt proportional zur Kriegseuphorie. 

Eifrig wurden in den Medien die Möglichkeiten neuer ukrainischer Offensiven ausgelotet, die Kriegsberichterstattung geriet immer wie mehr zu einer Propaganda- und Wunschoffensive. Keine Frage, ich unterstütze die Ukraine in ihren Bemühungen gegen die russische Aggression fast vorbehaltlos. Und – würde ich in Kiew leben – hätte ich ohne zu zögern meinen Anteil an der Verteidigung meines Landes geleistet. Trotzdem weiß ich, dass jeden Tag, jede Stunde hunderte von jungen Männern an der Front verbluten, Russen und Ukrainer. Gar nicht zu reden von den zahllosen Kriegsversehrten und getöteten Zivilisten in der Heimatfront. Der Satz: "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen!" geht aus der Sicht wohltemperierter Fernsehstudios und Parlamentssäle leicht von den Lippen. 

Als jemand, der die Frontrealität und das Soldatensein vergleichsweise nur im Promilleansatz erlebt hat, habe ich größte Mühe damit, wenn sich über Nacht Armeeabschaffer, Zivildienstleister, Pazifisten und Friedensaktivisten in Kriegsrhetoriker verwandeln und dem ukrainischen Volk eine billige Solidarität vorgaukeln. Ich hüte mich davor, diese Zeilen damit abzuschließen, dem ukrainischen Volk irgendwelche Ratschläge zu geben. Ich appelliere aber daran, dass sich unsere westlichen Kriegskommentatoren immer wieder bewusst werden, was sich derzeit in den Gräben dieses unnötigen und grauenhaften Schlachtens abspielt. 

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Manuel Leitgeb / 20.09.2023

Jeder, der gedient hat, sei es “nur” im Wehrdienst (Rekrutenschule in Österreich) oder als Milizsoldat hat für solche Neo-Kriegsrhetoriker, wie sie der Autor beschrieben hat, nur Verachtung übrig. Und das zu Recht! Dazu ein paar “Schmankerln” aus Österreich zur Ergänzung: Schon lange verwalten die Verteidigungsminister nur mehr den Abriß des Militärs, manche arbeiten auch aktiv daran mit. Unser schlimmster Minister war vor ca. 10-15 Jahren, der nicht nur die Beschaffung der Eurofighter “nachverhandelte” mit dem Ergebnis von nur Teilzeiteinsatzfähigkeit und die Panzerwaffe demolierte, sondern auch ständig Propaganda abließ wie “es wird keine Panzerschlacht im Marchfeld mehr geben”, Panzer haben als Waffe keine Zukunft mehr”, “In Europa wird es sowieso keinen Krieg mehr geben, weil wir sind umgeben von Freunden”. Oder der schiache alte Zausel der die Hofburg besetzt hat und sich Bundespräsident nennt (obwohl weder Ahnung von den Rechten noch den Pflichten dieses Amtes): Selbst hat er sich dem Wehrdienst entzogen (als es noch keinen Zivildienst als Ersatz gab) und immer stolz betont er sei “Kriegsdienstverweigerer” gewesen, aber vor einigen Monaten wollte er, daß unsere jungen Soldaten jetzt(!) zum Einsatz in die Ukraine geschickt werden. Neutralität? Aktive Kriegsregion? Ach geh, die Soldaten sollen “eh nur” Minen räumen im Hinterland, das läßt sich doch mit der Neutralität vereinbaren und passieren wird denen scho nix. Daß dies die aktive Kriegsteilnahme als Konfliktpartei bedeutet muß der Herr Professor ja nicht wissen. Ich bitte die Leser um Verzeihung für meinen “Rant” aber ich bin der Meinung, es zeigt, daß der von Herrn Pichard erwähnte Schlag Kriegsrhetoriker über Ländergrenzen hinweg der gleiche ist bzw. sich überall eingenistet hat, insbesondere auch in der höchsten Politik der meisten westlichen Länder.

Boris Kotchoubey / 20.09.2023

“Kriegsrhetoriker” und “billige Solidarität” sind die korrekten Worte. Eine wahre Solidarität mit der Ukraine haben westliche Politiker nicht, denn sie brauchen keine freie und unabhängige Ukraine, sondern eine, die vom russischen Imperium ins Imperium von Klaus Schwab und Uschi vdL gewechselt hat.

rolf schwarz / 20.09.2023

Hoffentlich lesen die begeisterten Kriegstrommler wie z.B. Osthold, Heinisch und Co. auch mal so etwas, wenn sie die Ukrainer vom warmen Sofa oder Talkshow-Sessel aus an die Geschütze schicken.

Wolfgang Janßen / 20.09.2023

Mein Vater war Soldat im 2. Weltkrieg. Er erzählte nie von Heldentaten sondern nur vom Grauen der Realität. Von den Schreien der Verwundeten und den toten Kameraden, mit denen man am Vorabend noch über die Pläne für die Zeit danach gesprochen hatte. Es gab in den 70er Jahren mal ein Titelbild vom Stern oder Spiegel, auf dem ein vietnamesischer Soldat abgebildet war, dem gerade der halbe Unterarm weggeschossen worden war und die Knochen herausschauten. Es wirkte geradezu unwirklich in seiner Grausamkeit.

Jens Happel / 20.09.2023

Der Artikel hat mir gut gefallen. Er ist aus einer sehr persönlichen Sicht geschrieben. Ich könnte ihn, von den persönlichen Erlebnissen abgesehen, so unterschreiben. Ich denke wir sollten es durch politische Mittel und Waffenlieferungen versuchen zu ermöglichen, dass die Ukraine gewinnen kann. Ob sie den Preis für den Sieg in Form von Tod, Verstümmelung, Zerstörung und Leid “zahlen” wollen, müssen die Bürger der Ukraine aber selbst entscheiden. Ich finde die Forderung nach dem Stopp von Waffenlieferungen -  mit dem Argument, um Leid zu verhindern - eine Bevormundung. Dürfen das die Ukrainer nicht selbst entscheiden, wieviel Leid sie für die Freiheit akzeptieren? Hätten die USA im zweiten Weltkrieg, keine Waffen an Großbritannien geliefert, wären im Krieg gewiss weniger Briten getötet worden, da sie den Krieg dann wahrscheinlich verloren hätten. Aber hätte eine Besatzung oder ein von den deutschen eingestzetes Marionettenregime auf Dauer nicht mehr Leid verursacht? Wie sehe es in der Ukraine nach einem russischen Sieg aus? Fragt doch mal Prigoschin, Girkin, Nawalny oder Pussy Riot! Mich hätte auch die Meinung von den vielen russischen Oligarchen interessiert, die einer Selbstmordpandemie zum Opfer gefallen sind. Wie sehen das Schwule und Lesben?

Dr. Konrad Voge / 20.09.2023

Herr Pichard, haben Sie sich auch mal mit den Ursachen des russischen Einmarschs beschäftigt? Der Krieg begann spätestens 2014 auf dem Maidan. Die USA hatte ihn aber schon vorher vorbereitet.

Achim Voß / 20.09.2023

Endlich beschreib jemand wie es wirklich ist. Es krepieren immer die kleinen Bürger und die Oberen sitzen in ihren Sesseln und stopfen sich die Taschen voll. Unsere Salonbolschewiken sollten sich schämen für das Schlachten zu werben und irgendeine positive Agenda über diesen Krieg zu verbreiten.

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