Von Rocco Burggraf.
Der Zusammenbruch der Carolabrücke in Dresden lässt sich wie eine Metapher auf den Zustand Deutschlands lesen. In der Tat geht es wohl um die bröckelnde Substanz des Landes. Hier eine technische Analyse.
Spektakuläre Bilder. Einhundert Meter „Carolabrücke“ liegen in der Elbe. Chaos und Entsetzen im erwachenden Dresden. Für die "Weiße Flotte" und alle übrigen Schiffe, Straßenbahnen, Individualverkehr ist dort erst mal Feierabend. Auch der beidseitig verlaufende Elberadweg ist an dieser Stelle bis auf Weiteres unterbrochen. Die konkreten Auswirkungen des Crashs auf den Berufsverkehr im ohnehin mit Baustellen förmlich zugepflasterten Straßennetz sind kaum zu übersehen. Wie immer, wenn irgendwo eine Brücke zu Bruch geht, sprechen wir nicht über Wochen und Monate, sondern über Jahre, die bis zur Wiederherstellung vernünftiger Verkehrsabläufe vergehen.
Und schon geht’s rund im Netz. Das Qualitäts-TV der ARD sortiert die exotische Hauptstadt im Osten gleich mal nach Nordrhein-Westfalen, andere wissen von einem Terroranschlag, wieder andere haben herausgefunden, dass die neuen Straßenbahnen viel zu schwer sind. Daher nun mein Beitrag zur Versachlichung der Debatte. Zu allererst – am nächsten dran sind alle, die ein Sinnbild der in allen erdenklichen Sphären bröckelnden deutschen Substanz erkennen. Denn genau darum geht es hier mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Zunächst ein paar Daten zur verkehrstechnisch wichtigsten der vier innenstadtnahen Brücken. Die an gleicher Stelle bereits 1892 errichtete 340 Meter lange Vorgängerbrücke – ein Schmuckstück der Bogenbrückenbaukunst – wurde einen Tag vor Ende des Zweiten Weltkrieges von der SS gesprengt. 1952 widerfuhr den verbliebenen Resten das gleiche Schicksal. Die beiden noch verbliebenen Mittelpfeiler im Fluss wurden schließlich 1960 in Vorbereitung des Neubaus abgerissen. Ab 1967 wurde vom „VEB Brückenbau“ in vierjähriger Bauzeit die neue, 32 Meter breite, schon zur Entstehungszeit ob ihrer auf's Notwendigste reduzierten Gestaltung stark kritisierte Brücke aus Spannbetonelementen errichtet. Sie erhielt 1971 zunächst den Namen Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke und erst später ihren ursprünglichen Namen zurück.
Als technische Meisterleistung gefeiert
Die Bauart der Brücke war zur Entstehungszeit durchaus ein statisches Wagnis, da mit Spannbetonträgern dieser Dimension kaum Erfahrungen vorlagen. Die riskante Konstruktion wurde in der Fachpresse als technische Meisterleistung gefeiert und vor zwei Jahren erst ob ihrer baugeschichtlichen und technischen Bedeutung unter Denkmalschutz gestellt. Die Wahl der Konstruktion könnte sich im Rückblick nun als Fehlentscheidung erwiesen haben. Da nur ein Pfeiler im Fluss eingesetzt werden sollte, mussten oberhalb des schiffbaren Teils der Elbe schließlich 120 Meter bis zum Widerlager überbrückt werden. Ein „Spannbetonrekord“ in der DDR, auch wenn man heute in China bei Stützweiten oberhalb von 500 Metern angekommen ist.
Die Konstruktion der Carolabrücke besteht – wichtig für's Verständnis – aus drei parallel verlaufenden, also weitgehend voneinander unabhängigen Spannbetonhohlkörpern, sogenannten "Gerberträgern". Es handelt sich also genaugenommen um drei lose miteinander verbundene Brücken. Einer dieser Träger (der Altstadt zugewandt) ist nun in unbelastetem Zustand und – soweit wie bisher bekannt – auch ohne ein erkennbares unmittelbares externes Ereignis, eine sogenannte „dynamische Lasteintragung“ (beispielsweise durch ein Schiff bei zu hohem Pegelstand), in der Nacht zusammengebrochen. Es handelt sich um den Teil, auf dem nicht die Autofahrbahnen, sondern Straßenbahngleise und Gehweg verlaufen.
Was genau hat aber nun zum Einsturz geführt? Ein Statiker wäre wahrscheinlich am ehesten auskunftsfähig. Ich bin als Architekt mit statischen Kenntnissen aber soweit ausgestattet, dass ich mir eine erste Einschätzung zutraue. Die will ich kurz darlegen: 1. Externe Impacts hatten wir ausgeschlossen. 2. Auf den ersten Blick naheliegend, aber aus meiner Sicht ebenfalls auszuschließen, ist, dass die derzeit laufenden Umbauten und Sanierungen die Ursache darstellen. Zwar wurden die sogenannten Brückenkappen erweitert, Fahrbahndecken mit nichtmetallisch bewehrtem Beton erneuert, allerdings – soweit man sehen kann – nicht an den jetzt zerstörten Stellen und nicht mit Zusatzlasten, die eine mit hohen Sicherheitskoeffizienten berechnete Brücke zum Einsturz bringen würden. Die Ursache muss eine andere sein.
Es gibt zwei anhand der Fotos klar erkennbare Bruchstellen. Eine liegt ziemlich genau in der Mitte des längsten Abschnitts in Nähe der gelenkigen Verbindung, die andere unmittelbar am Pfeiler. Es wäre von erheblichem Interesse, welche von beiden zuerst versagt hat. In beiden Fällen ist allerdings eine Materialermüdung in Form von feuchtebedingten chemischen Reaktionen in den Trägern selbst bzw. deren Auflagern auf dem Pfeiler anzunehmen. Materialermüdung heißt in diesem Fall, dass der Beton durch Witterungseinflüsse, permanente Schwingungen und natürliche Alterung rissig wird. Durch diese Risse hindurch dringt Feuchtigkeit ein, verbindet sich mit Auswaschungen und Streusalz zu Chlorid, verursacht alkalische Reaktionen und gelangt bis zu den Stahleinlagen. Das Ergebnis ist Korrosion, die immer auch bei korrosionsgeschütztem Stahl auftritt. Korrodierter Stahl in rissigem Betongefüge versagt irgendwann seinen Dienst.
Unangenehme Fragen für die Brückeninspektoren
Begünstigend könnte zudem gewirkt haben, dass durch den Wetterumschwung der letzten Tage eine erhebliche Abkühlung der Konstruktion zu einer thermischen Längenverkürzung der Spannstähle geführt hat. Dies wiederum führt zu einer erheblichen Zunahme der inhärenten Zugspannung. In einer bereits angegriffenen Konstruktion könnte dies zum Abriss der Stahlstäbe von den Ummantelungen oder Widerlagern führen. Dies wäre anzunehmen, wenn die mittige Bruchstelle der auslösende Faktor gewesen wäre. Sollte die Brücke am Pfeiler zuerst versagt haben, müsste man sich besonders die stahlbewehrte Auflagerkonstruktion ansehen. Hier könnten korrodierte Stähle möglicherweise zu einem plötzlichen Absacken des Brückenauflagers unter Druck und anschließend zum Schwingen und Versagen der gelenkig aufgebauten Gesamtkonstruktion geführt haben.
In beiden genannten Fällen wie auch jeden anderen gutachterlichen Feststellungen werden sich die beteiligten Brückeninspektoren jedenfalls unangenehmen Fragen zu ihren Bauzustandsanalysen stellen müssen. Das warnende Sinnbild ist eindeutig: Das Bröckeln der Substanz führt irgendwann über Nacht zum plötzlichen Zusammenbruch der Gesamtkonstruktion. Das Vertrauen nach dem Motto: „Es wird schon noch ’ne Weile halten“ ist verdammt gefährlich!
Update: Als Dresdner ist mir also nach den sarkastischen Witzeleien, die jetzt das Netz fluten, nicht zumute. Der Nachmittag diente eher dazu, etwas Licht in den „Nineeleven Dresdens“ zu bringen. Ich habe mit zahlreichen Fachkollegen telefoniert, gechattet und gemailt. Die Frage, wer die Schuld für dieses Desaster trägt, wird schon jetzt heiß diskutiert und wird zu personellen Konsequenzen führen müssen. Zusammengetragen habe ich Folgendes:
Der beim Bau verwendete Stahl gilt meinen Informationen zufolge seit längerem als anfällig für die sogenannte Spannungsrisskorrosion. Ein Phänomen, das zum spontanen, ankündigungslosen Zerreißen der Spannstähle führen kann. Durch rissigen Beton und eindringende Feuchte potenziert sich das seit langem bekannte Risiko noch weiter. Die Lebensdauer von Spannbetonbrücken wird in der Fachliteratur nicht zuletzt deshalb mit maximal 80 Jahren angegeben. Das war offensichtlich auch der Stadt bekannt. Daher sollte auch die derzeit laufende Sanierung der drei parallel verlaufenden Brückenteile die letzte ihrer Art sein. Ein Plan für das Danach, der angesichts des nötigen Planungsvorlaufs längst hätte veranlasst sein müssen, existiert nach meinen Informationen allerdings nicht.
TÜV-Berichte attestierten bereits 2021 eine Reihe schwerer Mängel
Im letzten, der alle sechs Jahre vorgeschriebenen TÜV-Berichte wurden dem jetzt eingestürzten Brückenzug C der Carolabrücke bereits 2021 eine ganze Reihe schwerer Mängel attestiert. Darunter Korrosionsschäden und eine mangelhafte Abdichtung der Gleisabschnitte nach unten. Die Einstufung des Brückenteils erfolgte daher mit den Noten 3,0 bis 3,4. Gleichbedeutend mit dem Prädikat „nicht ausreichend“ (sicher). Welche regulatorischen Spitzfindigkeiten dazu geführt haben, dass der Brückenabschnitt nicht gesperrt oder dort wenigstens umgehend Sanierungsmaßnahmen eingeleitet wurden, wird Gegenstand weiterer Aufarbeitungen sein. Jedenfalls wurde drei Jahre lang praktisch kaum etwas unternommen, was den unsicheren Zustand hätte beheben können. Stattdessen wurden die besser eingestuften Brückenzüge A und B saniert. Soweit wie möglich jedenfalls. Was in diesem Fall heißt, gegen weitere Einflüsse von außen – so gut es eben ging – geschützt. Bereits eingetretene Schäden in der Stahlstruktur selbst mit bildgebender Diagnostik vollständig zu erfassen, scheint so aufwändig zu sein, dass man darauf verzichten musste. Zu fragen ist dennoch, warum der im TÜV-Bericht deutlich schlechter eingestufte Brückenteil nicht zuerst saniert, sondern als letzter mit einem Baubeginn erst 2025 eingeordnet wurde. Dies gilt vor allem, weil davon auszugehen war, dass die dort fahrenden Straßenbahnzüge durch die erzeugten Erschütterungen einen erhöhten Verschleiß der Tragstruktur bewirken würden.
Am 14. Juni dieses Jahres hatten die Freien Wähler / Freien Bürger im Stadtrat nach monatelangem Hin und Her einen Antrag zur Abstimmung gestellt, der den städtischen Behörden endlich einen klärenden aktuellen Zustandsbericht zu den Dresdner Brücken abverlangte. Mit den Stimmen von RotRotGrün wurde dieser Antrag abgelehnt. Der Baubürgermeister Kühn, studierter Soziologe und seines Zeichens Angehöriger der Grünen, hatte bereits ein Jahr zuvor in einer Nachricht auf Twitter einen bekannten Kommunalpolitiker zurechtgewiesen, der öffentlich moniert hatte, die zuständigen Behörden ließen Dresdner Brücken „vergammeln“. Dies „entbehre jeder Grundlage“. Er lehnte den Antrag vor wenigen Wochen erneut ab.
Dipl.-Ing. arch Rocco Burggraf, Jahrgang 1963, ist freier Architekt und Stadtplaner. Er lebt und arbeitet in Dresden. Diesen Beitrag veröffentlichte er zuerst auf seinem Facebook-Account.