Im Gegensatz zu Deutschland ist Japan praktisch ein Verkehrsparadies für Leute wie mich, die gern unterwegs sind, aber nie einen Führerschein besaßen.
In England fuhr vor 200 Jahren die erste Lokomotive, die nicht nur Güter, sondern auch Personen beförderte und zehn Jahre danach begann auch der deutsche Personenverkehr 1835 auf einer Bahnstrecke zwischen Fürth und Nürnberg. Fast 50 Jahre später, als in Japan im Zuge der Meiji-Reform mit abendländischen Beratern und Fachleuten westliche Technologien eingeführt wurden, nahm ein zuerst von britischen Ingenieuren entwickelter Eisenbahnbetrieb 1872 auch hier seine Fahrt auf. Während nun japanische Zugfahrten übers ganze Land sich im 20. Jahrhundert in Konkurrenz zu Automobilität und Fliegerei ausbreiteten und glänzend bewährten, rutschte der Zustand der Deutschen Bahn währenddessen in beklagenswerte Tiefen ab. 2024 kam hier im Fernverkehr mehr als jeder dritte Zug verspätet an, wenn wir mal Pünktlichkeit und Verlässlichkeit der Bahn als Standards ansetzen – wobei zur weiteren Verdunkelung dieser Sicht in Deutscher-Bahn-Statistik ein Zug erst dann als verspätet gilt, wenn er ab sechs Minuten überschreitet und ausgefallene Züge nicht einmal berücksichtigt werden.
Wie erscheint auf diesem Sektor das moderne Japan? Obwohl geologisch für verkehrstechnische Maßnahmen schwierig zu erschließendes, da sehr bergiges Land, haben sich in Japan zahlreiche, zuverlässige Bahnverbindungen bewährt. Von Monorail auf Okinawa im Süden, über zahllose Bahnstrecken allerorten auf Honshu, bis hin zu Schnellzügen (Shinkansen, Bullet Train), die inzwischen bis auf die Nordinsel nach Hokkaido donnern, mit zusätzlich weitreichenden Busverbindungen von unzähligen Stationen, auf vielen Inseln. Wer in japanischen Städten vor dem Tableau mit Fahrplänen steht, wird sich bald die Haare raufen – selbst wenn auf nahezu allen Bahnhöfen des Landes und allen wichtigen Schildern großer Städte die Beschriftung auch auf Rōmaji ローマ字, also mit lateinischen Buchstaben, erscheint – und es künftig mit einer Smartphone App wie Japan Transit Planer oder auf Google Maps versuchen, sein Ziel zu finden. Sinnvoll wäre auch Suica Mobile Card, um nicht beim Umsteigen zwischen verschiedenen Fahrgesellschaften jedes Ticket einzeln kaufen zu müssen.
Dieses Land mit zahlreichen Bus-, Zug-, Fähr- und Fluggesellschaften ist praktisch ein Nahverkehrsparadies für Leute wie mich, die gern unterwegs sind, aber nie einen Führerschein besaßen und die Aspekte schätzen, welche Japans Nahverkehrssystem besonders auszeichnen – Zuverlässigkeit, Sicherheit und Sauberkeit (Guten Morgen, Deutschland!). Eine gerühmt minutengenaue Pünktlichkeit ihrer Züge findet sich bei all ihren Fahrgesellschaften, die gewöhnlich kommunal kontrolliert und auf ihren Hauptstrecken spätestens seit der Aufsplittung der staatlichen Japan National Railways von privatisierten Teilgesellschaften betrieben werden. Ihre Fahrplanmäßigkeit ist so legendär wie es ein skurriler Rechtsstreit wurde, den ein japanischer Lokführer gegen seine Bahngesellschaft erfolgreich führte (allerdings verstarb er vor Urteilsverkündung) – aufgrund ihm ungerechtfertigt erscheinenden Verdienstabzuges wegen einer einzigen Minute Verspätung, nach seiner Argumentation ohne eigenes Verschulden, woraufhin ihm seine Firma den Lohn um 43 Yen (heute circa 25 Cent) gekürzt hatte.
Eine Alternative zu Flugreisen
In japanischen Zügen gibt es extra Waggons (Green Car) mit bequemeren Sitzen und Platzgarantie für die Passagiere, die einen saftigen Aufpreis in Kauf nehmen und in diversen Großstädten werden abends separierte Frauenabteile bei einigen Zügen ausgewiesen. Zeit ist ein wichtiges Kriterium in Japan und zu Stoßzeiten morgens sowie abends ist so mancher Waggon übervoll, dabei ist es erstaunlich ruhig und die Leute versinken in Buch, Schlummer oder Smartphone. In Bahnen ist es unter Japanern unüblich für andere aufzustehen, sodass Gebrechliche oder Leute mit ausreichend Zeit in solchen Stunden gerade in Ballungszentren selten unterwegs sind.
Die Hochgeschwindigkeits-Shinkansen-Bahnen demonstrieren den Höhepunkt japanischer Eisenbahn-Ingenieurstechnik, von dessen Tokaido-Shinkansen-Strecke (genau die fährt bei uns durch den Ort) ihr Konstruktionsdirektor behauptet haben soll: „The Tokaido Shinkansen is the height of madness.“ („Die Tokaido-Shinkansen ist der Höhepunkt der Verrücktheit.“, siehe Christopher P. Hood: Shinkansen: From Bullet Train to Symbol of Modern Japan). Ihr spezifisches Streckennetz wird betrieben von der JR Railway Group und ihre Schnellzüge sind vor allem so praktisch wie stabil gebaut und so simpel wie sinnvoll organisiert. Gedacht sind sie vor allem für diejenigen, die schnell und sicher ohne eigene Fahrleistung, dafür allerdings mit finanziellem Mehraufwand, zuverlässig an ihr Ziel kommen wollen – Geschäftsreisende üblicherweise.
Prinzipiell bilden Shinkansen ein zwar aufwendiges, dennoch aber simples und effizientes Schnellzugsystem, seit Jahrzehnten (Guten Morgen, Deutsche Bahn!) bewährt sowie bekannt für seine zuverlässigen Zugverbindungen, die entlang der Strecken ausschließlich eigene Spuren befahren und damit durchgängig eine hohe Reisegeschwindigkeit erzielen. Sie bieten daher eine Alternative zu Flugreisen, auch deshalb, weil ein Bahnhof im Gegensatz zum Flughafen zumeist im Stadtzentrum liegt. Von Nord bis Süd verlaufen die wichtigen Shinkansen-Strecken und zwei kleinere (Mini) unter folgenden Namen:
– Hokkaido
– Tohoku
– Joetsu
– Hokuriku
– Tokaido
– Sanyo
– Kyushu
– Nishi-Kyushu
– Akita (Mini-Shinkansen)
– Yamagata (Mini-Shinkansen)
Stressfrei in Japan von A nach B kommen
Ihre vorne bizarr geformten, doch aerodynamisch sowie Schall vermeidend, perfektioniert in schnabelartiger Prägung zulaufenden Triebwägen werden streckenweise über 300 Km/h schnell (in der Spitze freilich zu höheren Geschwindigkeiten fähig; die neueste Shinkansen-Serie L0, Highspeed Maglev Train, kam bei Tests schon auf 603 Km/h) und bringen die Fahrgäste mit präzisem Takte hin und zurück. Es gibt nur ein oder zwei Spuren in ihre jeweilige Richtung, die mit besonderer Spurbreite auf separierten und voll elektrifizierten Schnellzugtrassen verlaufen und keine Verknüpfung zu anderem Zugverkehr haben, außer den geteilten Bahnhofsgebäuden. Effektiv und einfach wird hier zu jedem Aspekt organisiert und geordnet – Informationen auf JR-Websites stehen auch auf Englisch zur Verfügung und bereitwillig Auskunft erteilende Beamte warten an den entsprechenden Schaltern.
Shinkansen-Tickets können bis zum jeweiligen Heimatort ausgestellt werden, auch wenn dieser keine Shinkansen-Station ist. Mit ihren Codes eröffnen sie den Zugang zur jeweiligen Plattform; von einem Bahnsteig fährt der Zug in diese Richtung und vom Bahnsteig gegenüber in die andere; dazwischen sausen ungerührt und häufig ungebremst andere Shinkansen auf ihren Geleisen hindurch, die nicht in diesem Bahnhof halten. Es ist jedes Mal beeindruckend, wenn solche Züge im wahrsten Sinne des Wortes vorbeidonnern und damit ihren zusätzlichen Namen Bullet-Train bestätigen.
Sitzt du in einem dieser Züge und in Gegenrichtung saust ein anderer an dir vorbei, dann erbebt der gesamte Waggon, die Fenster vibrieren und der Schall drückt aufs Trommelfell – faszinierend. Wir nahmen bislang in Japan Gelegenheiten für Fahrten in verschiedenste Richtungen wahr und fuhren mit Gepäck und verpackten Rädern entlang der historischen Strecke Tokaido mit Shinkansen der neueren Generation N 700/Supreme. Alles passte, Wesentliches wurde so verlässlich wie pünktlich angesagt, erledigt und kann hiermit nur wärmstens demjenigen weiterempfohlen werden, der stressfrei in Japan von A nach B über längere Strecken gelangen und inländische Flüge vermeiden will.
Beruhigendes Gefühl von Sicherheit
Größeres Sperrgepäck ist wie in allen anderen Bahnen nicht zugelassen, also auch keine herkömmlichen Fahrräder – wir brachten unser Renn- sowie Klapprad in ihren speziell dafür gefertigten Taschen und konnten sie bequem hinter der Tür verstauen. In vielen Zügen stehen Steckdosen, USB-Anschlüsse zur Verfügung und in einigen gar Erfrischungsservice mit Snacks und Getränken – in der First Class (Green Car) Standard. Natürlich gibt es auch hier, wie überall in Japan, bequeme sowie überaus saubere Toiletten, getrennt nach den zwei Geschlechtern – Männer sind hier im Vorteil, denn für sie gibt's häufig noch ein Kabinett für den Stehpinkler. Sie sind ausgestattet mit all dem Komfort, der japanische Toiletten im internationalen Vergleich so glänzen lässt und mit großzügigen Waschgelegenheiten innen sowie außen (Japaner achten sehr auf Reinlichkeit).
Alle Informationen können über QR-Codes eingesehen werden, die Internetverbindungen sind ausreichend stabil und bis vor Kurzem noch fand sich zwischen den Waggons ein kleines Steh-Raucherabteil, da alle Züge als Nichtraucher deklariert sind – ein offenbar von ansteigender Gesundheitsmode übernommener Aspekt, denn eigentlich gibt’s in Japan bis heute recht viele Raucher. Eher spartanisch offenbaren sich Waggonabteilungen – hinter automatischen Türen Stauraum für größeres Gepäck und dann natürlich ein Gang in der Mitte. Fensterluken, die sich nicht öffnen lassen wie im Flugzeug (natürlich arbeiten die Klimaanlagen fehlerfrei – Guten Morgen, Deutsche Bahn!); rechts zwei, drei Sitze, links zwei, drei und ihre Reihen lassen sich gar mittels einfacher Hebelung in ihrer Bodenverankerung um 180 Grad herumdrehen, wenn der Zug in die andere Richtung geht.
Es steht alles das zur Verfügung, was die Reisenden sicher, schnell und hinreichend bequem an ihr Ziel bringt. Shinkansen sind also recht behaglich, sehr zuverlässig, überaus pünktlich und haben somit alles das in den wichtigsten Aspekten, die Bahnverbindungen ausmachen, was deutsche Züge kaum mehr haben. Persönlich fallen mir im Vergleich zusätzlich noch als überaus angenehm eine bezaubernde Stille und ein beruhigendes Gefühl von Sicherheit auf.
Wenn in einem Land wie Deutschland, das im Zuge von Modernisierung und Industrialisierung vom 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein Höchstleistungen in Ingenieurskunst und Forschung erbrachte und einst japanische Moderne mitinitiierte, heutigentags selbst öffentlicher Personenverkehr im Vergleich zum heutigen Japan so mangelhaft funktioniert, ist dies ein sehr trauriger Befund.
PS: Anschließen möchte ich zum Schluss noch einen Filmtip – Bullet Train. Eine witzige Gangsterkomödie, deren Plot nahezu ausschließlich in einem unserer Shinkansen (zwischen Tokyo und Kyoto) spielt. Ein Kulturen übergreifendes, zugegebenermaßen recht splatterhaft-blutiges Potpourri, angereichert mit jeder Menge japanischer Stereotype. Besetzt mit grandios aufspielenden Akteuren, beispielsweise einem glänzend aufgelegten Brad Pitt in Hochform sowie Sanada Hiroyuki, der westlichem Publikum noch jedes japanische Klischee brillant vorzuspielen vermag, vom Samurai bis zum Yakuza – so amüsant wie selten.
Bernd Hönig ist Altertumswissenschaftler (Magister Artium Religionswissenschaft/Judaistik), Jahrgang 1966, lebte fast 30 Jahre in Berlin, traf seine heutige Ehefrau Mayu 2016 in Deutschland und lebt jetzt mit ihr in Japan. Dieser Beitrag erschien zuerst auf seinem Blog japoneseliberty.com. Dort beleuchtet er bevorzugt nichtalltägliche Themen, beurteilt aus der liberalen Sicht eines abendländisch freien Geistes.