Fabian Nicolay / 16.12.2023 / 06:00 / Foto: Imago / 29 / Seite ausdrucken

Zoon politikon: Die Kunst des Überlebens in unwirtlicher Umgebung

Auch die künftigen Archäologen der jeweiligen „Moderne“ werden ihre Funde unter dem Einfluss des Zeitgeistes betrachten. Wie werden sie wohl über die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts urteilen, vorausgesetzt es gibt aussagekräftige Funde und Dokumente?

Unsere Zivilisation ist ein System materieller Objekte aus Menschenhand und nichtmaterieller Gegenstände des menschlichen Geistes, also erdachter und fabrizierter Artefakte, die Menschen benötigen, um ihr Überleben zu sichern und ihr Gemeinwesen zu organisieren. Für die Griechen des klassischen Altertums waren damit alle Aspekte der menschlichen Schöpferkraft und Kreativität gemeint: also Technik im Sinne einer allumfassenden Kunstfertigkeit (altgriechisch. „techne“).

Die Zivilisation und ihre Artefakte, im Prinzip alle menschenerdachten „Techniken“, bilden jedoch allenfalls eine dünne, fragile Schicht von Gegenwart über den massiven Ablagerungen nicht erinnerter, nicht erzählter Vergangenheiten des Homo sapiens und deren wertvollsten zivilisatorischen Erkenntnissen, die der Menschheit für immer verlorengegangen sind.

Viele historische Ereignisse, Errungenschaften und Protagonisten aus tausenden Generationen – auch die aus einer jüngeren Vergangenheit – sind nicht mehr mit Dokumenten oder Artefakten belegbar. Das Vergessen geht schnell. Aber es existiert darüber hinaus eine überlebenstechnische Metaebene, die in einer Summe evolutionärer „Logik“ über die Generationen hinweg präsent ist und starken Einfluss auf uns ausübt. Sie ist uns ins Blut übergegangen: Diese evolutionäre Logik der „techne“ ist unser Immunsystem gegen eine unwirtliche, mitunter gefährliche, natürliche Umgebung geworden.

Die Natur orchestriert „laute“ Ereignisse der Ausrottung

Aus der Dunkelheit ihrer Unbewusstheit wirkt diese Logik auch in die Gegenwart des „zoon politikon“, des sozialen Tieres hinein, dessen „Vernunft“ und „Irrtum“ ein Regelsystem der Evolution ist. Kein Mensch jedoch war je dem Planeten und der planetaren Schöpfung gegenüber fremd – auch wenn das heute gern behauptet wird.

Diese angeblich feindliche „Fremdheit“ des Menschen in seinem planetaren Habitat ist eine ideologische Finte von Fanatikern, die den Menschen als kategorischen Schädling diffamieren wollen. Das heißt jedoch nicht, dass der Mensch tatsächlich der Natur keinen Schaden zufügt – das tut er sichtbar und mitunter massiv – er schadet sich und seiner Zukunftsfähigkeit damit jedoch auch selbst.

Es ist die „Natur“ der Evolution, neben den geologischen und kosmischen Katastrophen auch Spezies zu erschaffen, die allein durch ihren quantitativen Erfolg das „schöne Gleichgewicht“ der Ökosphäre stören und manches Mal sogar ins Wanken bringen können. Viele „grüne“ Ideologen treten wie geistig vernagelte Schirmherren eines ökologischen Status quo auf, den es nie gab: Die Natur ist ein dynamisches System, ein Gleichgewicht findet nicht statt.

Demgemäß ist es übertriebener Romantizismus und Hybris zugleich, die Natur als Opfer des Menschen darzustellen – es ist umgekehrt der Fall und es steht nur die Frage im Raum, wann die Natur diesen (letzten) Beweis erbringen wird. Denn sie orchestrierte solche „lauten“ Ereignisse der Ausrottung wie jene „Big Five“ immer selbst, sogenannte Faunenschnitte, in denen das Leben und die Vielfalt der Spezies auf der Erde eine tödliche, katastrophale Krise durchschreiten mussten, ohne dass der Mensch bei diesem Massensterben seine Hände im Spiel hatte. Die Natur hat kein schlechtes Gewissen, sie ist gewissenlos.

Die ganze Last der Erinnerung

Zurück zur Zivilisation: Wie eine durchlässige Membran trennt die Gegenwart die Untiefen des Unbewussten und Vergessenen von der Anwesenheit des Bewussten und Überlieferten. Unser Blick reicht nur wenige Jahrtausende zurück. Meist ist nur Schemenhaftes erhalten und auffindbar. Zwei seltene Zufälle, die zusammenwirken müssen.

Dieser rare Blick in die Rudimente der weiten Vergangenheit ist so spekulativ wie der in die Zukunft. Das ist wahrlich nicht viel im Angesicht der langen Menschheitsgeschichte und ihrer Artefakte, denn fast alles, was je erlebt und mit menschlichen Sinnen erfasst und gedacht wurde, konnte sich nur zu Lebzeiten als Realität manifestieren und entglitt alsbald dem Erinnern. Es sickerte unwillkürlich durch die Membran der folgenden Zivilisationen hindurch und sollte fortan für immer abwesend bleiben.

Die „Membran“ muss die ganze Last der Erinnerung auf ihrer Oberfläche tragen – genau das ist Zivilisation, eine fragile Angelegenheit, die wir mit Geschichtsschreibung, Dichtung, Philosophie, Musik, Kunst und Architektur daran hindern möchten, ins große Vergessen zu diffundieren. Aber auch die profanen Artefakte des technischen und kommunizierenden Menschen lohnen, an der Oberfläche gehalten zu werden.

Fast alles wird interessant, je weiter es entfernt liegt

Was wird man in 100 oder 1.000 Jahren über Autos oder das Internet wissen? In Pompeji wurden vor fast 2.000 Jahren – heute vielbestaunte – „wertvolle“ Mosaike in zerbrochenen Patrizierhäusern verschüttet und sind uns wahrscheinlich gerade deshalb erhalten geblieben – aber auch die beiläufigen, „wertlosen“ Graffiti an den römischen Hauswänden, eben genau die „Gegenstände“ subkultureller Kommunikation, die dort unter Asche begraben wurden, können Substanzielles über den Alltag und das Denken der römischen Vorfahren erzählen.

Kunst und Alltag, das ist die Materie, die vom Können und vom Leben des Menschen erzählen. Im Zustand Jahrtausende währender Verschüttung reift auch das Profanste zu edlem Gut: Es wird in seiner Aussagekraft genauso wertvoll wie kultische Kunstgegenstände, die damals schon horrende Summen kosteten und Einzelstücke waren.

Es spielt keine Rolle, ob und welche Überlieferung von Kunst und Alltag wir beabsichtigen oder für würdig erachten. Fast alles wird interessant, je weiter es zeitlich entfernt liegt und von den „Narrativen“ des damaligen Zeitgeistes entkleidet sich vor dem Finder aufblättert. Denn die Zensur des Zeitgeistes gab es schon immer, unter dem babylonischen Herrscher Hammurabi, Kaiser Nero in Rom, den Ottonen und ihren mönchischen Urkundenfälschern, unter den Mandarinen der Ming-Dynastie, unter der Heiligen Inquisition, Napoleon, den mörderischen Apparaten der Diktaturen des 20. Jahrhunderts und den geistig-moralischen „Säuberern“ der McCarthy-Ära in den 50er Jahren (willkürliche Auswahl). Man kommt dem Zeitgeist und seiner Geschichtsklitterung im Nachhinein auf die Schliche, so man es überhaupt beabsichtigt.

Erblasser und Chronisten sind gefragt

Aber mit den Jahrhunderten verblasst auch der Einfluss des Zeitgeistes und lässt die Dynamik seines Wirkens sachlicher abgrenzen oder ausblenden. Auch die Archäologen der jeweiligen „Moderne“ werden ihre Funde unter dem Einfluss des Zeitgeistes betrachten. Wie werden sie wohl über die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts urteilen, vorausgesetzt es gibt aussagekräftige Funde und Dokumente? Was würden sie schlussfolgern, wenn die digitale Pornografie in ihrer schieren Masse Artefakte an die Nachwelt hinterließe?

„Zivilisierte“ Erinnerung muss in mühevollen Prozessen der Herstellung von Artefakten haltbar gemacht, der Hoffnung und den folgenden Generationen als Botschaft übergeben werden. Erst seit relativ kurzer Zeit kann die Menschheit dabei auf Werkzeuge „exohumaner“ Erinnerung zurückgreifen, die eine zuverlässige Verlängerung des Wissens in die Zukunft ermöglichen (durch Schrift, Bild, Stein und Umformung der Natur). Wird sie auch in Zukunft in der Lage sein, mit nachfolgenden Generationen erfolgreich zu kommunizieren, wenn heute zunehmend volatile „Dinge“ wie die Digitalität „handfeste“ Artefakte substituieren oder simulieren? Erblasser und Chronisten sind gefragt, haltbare Zeitdokumente auf die Reise zu schicken. Allerdings müssen die Nachfolgenden es finden, entziffern und bewerten können.

Je mehr Zeit über den archivierten Erinnerungen vergeht, umso fragiler wird ihre Präsenz. Vulkanausbruch, Bibliotheksbrand, Bildersturm, Kriegsgeschehen oder die wankelmütige Moral der Gesellschaft sind zwar schicksalhafte Vollstrecker des Vergessens und Verfälschens, jedoch nicht immer gewinnen sie das letzte, „wahrhaftige“ Wort über die Bewertung vergangener Ereignisse und Personen. Die Zivilisation muss täglich gegen ihr eigenes, öffentlich betriebenes Vergessen und Verformen antreten, um auch ihrer versuchten Selbstverleugnung widersprechen zu können, für die der Zeitgeist Pate steht.

Hochgejubeltes Artefakt der Geschichtsschreibung

Der Zeitgeist des Anthropozäns ist besonders zynisch und prahlerisch. Er behauptet von sich, Anwalt der Schöpfung zu sein und begründet daraus jene Sonderrechte, die sich Menschen in machtvollen Positionen schon immer reserviert haben. Der Zeitgeist ist selbst ein hochgejubeltes Artefakt des zoon politikon und seiner Geschichtsschreibung.

Wer weiß – vielleicht wird eine in der zugeschütteten Ruine eines Plattenbaukellers trocken gelagerte Fernsehzeitschrift in 500 Jahren ein Sensationsfund sein. Man würde spekulieren: Die „mythische Stadt Berlin“ wird darin in einer Art seriellen Sprechtheateraufführungen gefeiert, die auf technische Apparate unbekannter Bauweise in Privathäuser übertragen wurden und wahrscheinlich kultischen Charakter hatten… Schon in 100 Jahren, wenn alle Zeitzeugen verstorben sind, wird man vieles, was sich heute und in den vergangenen zwei Dekaden ereignet hat, was gedacht, verfügt, technisch genutzt und zum Alltagsleben gezählt wurde, nur anhand des Auffindbaren interpretieren lassen. Es steht heute in Zweifel, ob digitale Quellen dann zweifelsfrei authentisches Material liefern können, oder ob überhaupt die nächsten 100 Jahre kontinuierlich Strom für die Archive bereitsteht.

Was zum Bewahren und Erinnern strebt – das Erhabene – kann immer scheitern. Und doch: Auch profane Zeitbeschreibungen und Momentaufnahmen von Gesellschaftszuständen, falsche und utopische Weltbilder werden begraben und irgendwann vielleicht vom Zufall wieder exhumiert werden. Dann dürfen sie vielleicht eine Renaissance erleben. Viele Menschen heben scheinbar sinnlose Dinge auf, nur um sie weiterzugeben, Autoren schreiben abstruse Gedanken auf und machen sie zur archäologischen Post. Wen kümmert es. Auch eine „Leitkultur“ hat ihre Halbwertszeit im Angesicht von Völkerwanderung, Religion und schicksalhafter Einmischung von hellsichtigen oder finsteren Einzelpersonen.

Es ist Teil unserer Aufgabe, späteren Generationen aus unserer Sicht mitzuteilen, wie gelebt, gedacht, geliebt und gemordet wurde. Auch der rote Handabdruck in einer steinzeitlichen Höhle war vom Bewusstsein getragen, dass nachfolgende Generationen diesen Gruß verstehen werden. Der Gedanke des Grüßenden hat sich verselbstständigt und die Jahrtausende überlebt als zivilisatorische Chiffre des Optimismus. Denn wer die Zukunft grüßt, glaubt an sie.

Dieser Text erschien zuerst in leicht gekürzter Fassung im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.

 

Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.

Foto: Imago

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Leserpost

netiquette:

Gerhard Schmidt / 16.12.2023

#Peter Holschke: Weder gegen Klima und Corona.

Okko tom Brok / 16.12.2023

“Die Natur ist ein dynamisches System, ein Gleichgewicht findet nicht statt.” In der Biologie spricht von einem “Fließgleichgewicht”. So ist es gleichzeitig dynamisch und immer wieder auf Gleichgewicht angelegt.

Peter Holschke / 16.12.2023

Ein Endzeitgesang! Ja, dass kenn wir dann schon, aus der Zeit vor 1914. Lasst uns in einen Krieg springen, gegen Corona, das Klima, die Russen. Alles fällt vom Himmel, Hauptsache das Schafsein bleibt gesichert. Holt die Laute raus und besingt das Schicksal, statt den richtigen Leuten in den Arsch zu treten.

Thomas Szabó / 16.12.2023

Was werden die Friseur & Fotografen-Rechnungen der grünen Minisiterinnen der Generationen der Zukunft sagen?

Dirk Jungnickel / 16.12.2023

“Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?” ( Thomas Mann, Beginn der Joseph - Romane ) Diese fällt mir sofort nach der Lektüre von F. Nicolays tiefsinnigen Essay ein ....

Hubert Romero / 16.12.2023

@ Albert Pflüger: Meine jahrzehntelangen Gedanken in treffende Worte gegossen, danke!

Angelika Meier / 16.12.2023

Historisch würde ich spätestens ab 1500 den Aufstieg Europas, und ab 1918 oder spätestens ab 1945 seinen Abstieg sehen.

Hartmut Laun / 16.12.2023

Das Römische Imperium hatte für seine Geschichtsfälschungen einen passenden Spruch: Was nicht in den Büchern steht, das ist nicht in der Welt. Und was in 100 Jahren noch im Internet, als Videos, als Text oder als Bilder zu finden sein wird, um zu wissen, wie es 2020 bis 2023 wirklich war, das wird getreu dem Spruch von oben aus dem Alten Rom nicht anders sein. Und die wenigen Schnipsel, die dann einer noch findet und veröffentlichen kann, der ist dann eben ein Schwurbler, Querschläger, Nazi, Verschwörer, ein Staatsfeind.

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