Thilo Sarrazin / 11.04.2022 / 06:25 / Foto: Achgut.com / 146 / Seite ausdrucken

Zeitenwende? Ja, aber anders!

Als Putin am 24. Februar den Befehl zum russischen Überfall auf die Ukraine gab, schien es undenkbar, dass das hochgerüstete Russland diesen Feldzug nicht in wenigen Tagen oder Wochen für sich würde entscheiden können. Es kam anders.

Die ukrainische Armee hat zwar weniger Flugzeuge, Panzer und schwere Artillerie. Aber sie ist besser ausgebildet und weitaus motivierter. Zudem ergießt sich jetzt ein unablässiger Strom an Waffen und Munition aus dem Westen in die Ukraine. Putin kann aber nicht mehr zurück, ohne sein Prestige und auch seine Position zu gefährden, und so kann sich der Krieg noch lange hinziehen. 

Für die Milliardenschäden an der ukrainischen Infrastruktur, die russische Raketen, Bomben und Granaten verursachen, werden in jedem Falle die Russen selber zahlen müssen. Die 660 Mrd. Dollar an Guthaben der russischen Zentralbank, die im Westen eingefroren sind, werden nie mehr nach Russland zurückkehren, sondern dem Wiederaufbau der Ukraine zufließen.

Gleichgültig, wie lange der Krieg noch dauert, welche menschlichen und finanziellen Opfer er noch kostet und wie er letztlich ausgeht – drei Ergebnisse stehen bereits heute fest. Sie werden unseren Ausblick auf die Welt und die realen Verhältnisse für lange Zeit prägen:

Zurück in der Wirklichkeit

Die pazifistische Grundeinstellung, die den Westen seit Jahrzehnten prägte, hat mitten in Europa den Kontakt mit der Wirklichkeit nicht überlebt, sie ist grundlegend gescheitert. Es ist eben nicht möglich, jemanden, der Konflikt und Gewalt sucht, durch eigene Friedfertigkeit zum Frieden zu zwingen, wenn er diesen nicht will.

Russland kann vom Westen aus weder beherrscht noch besiegt werden. Wir haben auch keinen Einfluss darauf, ob es jemals zu einer gefestigten, friedlichen Demokratie wird. Also wird die Bundeswehr und mit ihr die gesamte NATO dauerhaft aufrüsten, und an den östlichen Grenzen des Bündnisgebiets werden präsente Truppen in größerer Zahl permanent stationiert sein.

Die populistischen Strömungen in den westlichen Ländern haben mit Putins Überfall auf die Ukraine ein Vorbild und eine Identifikationsfigur verloren. Ihre Anhänger und Wähler werden aber auch das populistische Geschäftsmodell hinterfragen: Ein politischer Führer, der sich aus der Kontrolle des Rechts und der Einbindung in demokratische Prozeduren löst, gewinnt eben eine unkontrollierte Freiheit nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen. Das führt Putin in Russland seit Jahren vor und zeigt es jetzt der gesamten Welt durch das Grauen eines unprovozierten Krieges. Im Vergleich dazu wirkt doch die Unbeweglichkeit eines mit 1000 Fäden rechtlicher Prozeduren in seiner Bewegungsfreiheit gefesselten demokratischen Gullivers geradezu beruhigend und vertrauenerweckend.

USA wieder auf dem Weg zu einer Führungsmacht

Durch den russischen Überfall auf die Ukraine und die Weigerung Chinas, sich davon politisch und moralisch zu distanzieren, haben die westlichen Industriestaaten, die ja auch sämtlich demokratische Staaten sind, zu einer neuen Einheit gefunden. Diese reicht von Australien, Japan und Südkorea im Pazifik bis ins Baltikum und nach Polen. Und die unbestrittene Führungsmacht in diesem Block freier, demokratischer Industrieländer sind erneut die USA. Ihre drohende Abkopplung von Europa ist historisch revidiert. Putin hat durch seinen Angriff dem Block der freien westlichen Welt für viele Jahrzehnte ein neues Leben eingehaucht.

Russland und China gehen schon seit Jahrzehnten erneut in eine autoritäre Richtung. In beiden Ländern finden individuelle Freiheiten zunehmend dort ihre Grenzen, wo es um die Rechte nationaler Minderheiten oder die Interessen der Machthaber geht. China verbindet das autoritäre Modell mit wirtschaftlicher Leistungskraft. Russland verbindet es mit Korruption und Ineffizienz. Bei beiden werden sich die wirtschaftlichen Bindungen zu den demokratischen westlichen Industriestaaten eher lockern. Denn was ein starker Westen künftig bestimmt nicht braucht, das ist Rohstoffabhängigkeit von Russland und technologische Abhängigkeit von China.

Gleichzeitig kann sich der Westen auf einen großen „Brain Gain“ freuen: Solange man Russland und China noch verlassen darf, wird es für die wissenschaftlichen und technischen Eliten dieser Länder immer attraktiver werden, in den Westen zu gehen – rechtzeitig, ehe die Machthaber aus beiden Ländern ein neues Völkergefängnis machen.

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Jürgen Fischer / 11.04.2022

“Few people can be happy unless they hate some other person, nation, or creed.” ― Bertrand Russell (Nur wenige Menschen können glücklich sein, wenn sie nicht einen anderen Menschen, eine andere Nation oder ein anderes Glaubensbekenntnis hassen.)

Leo Hohensee / 11.04.2022

@Thomas Baader an @@ Chris Kuhn: - Herr Baader Sie schreiben: - “.......Nein, lieber Chris, Sie verstehen leider nichts von Weltwirtschaft. Die Sanktionen schaden nicht der EU mehr als Russland. ... ” - Ich weiß nicht wieviele Rädchen in Russland ineinander greifen müssen, um ein Ergebnis zu erzielen, könnte mir aber vorstellen, dass die wirtschaftlichen Abläufe dort weniger verflochten sind als im Westen. Deshalb bin ich mal gespannt wie schnell und wo mehr zusammenbricht. Sie scheinen das schon zu wissen. Außerdem, egal wie groß das Maß der zerstörerischen / selbst gewählten Zerstörung im Westen ist, es wird sehr viele Menschen treffen, und es wird sehr viele Existenzen treffen. Ich erwarte auch ein Platzen der weltweiten Finanzblase in Kürze. Die Dinge, vermute ich mal, werden einander verstärken. Die Finanz-Hazardeure werden - ach wie willkommen - alles auf Putin schieben können. Schon Scholl-Latour wusste zu berichten, dass Sanktionen in einem Krieg noch nie etwas (Gescheites) bewirkt haben. Lassen wir die Sanktionen sein und benutzen wir sie als Pfand dafür, dass Putin an den Verhandlungstisch kommt. Aber da hat sich EU-Chefdiplomat Josep Borrell ja schon öffentlich geäußert: “This war will be won on the Battlefield”. Also keine Verhandlungen - nur noch Krieg und weitere Zerstörung nach Borrell. Die EU definiert sich als Friedensprojekt. Am 9.4. hat die EU den Friedensnobelpreis bekommen. Am 9.4. tat der Chefdiplomat dieses Friedensprojektes diesen Ausspruch. Der Mann gehört rausgeschmissen! Und auch ich erinnere noch mal an den amerikanischen Chefstrategen Zbigniew Brzezinski und dessen ausgearbeitete Pläne für Deutschland und Russland. Demnach darf Amerika niemals (!) zulassen, dass D und Russland wirtschaftlich zusammen finden.

Dr. Robert Lederer / 11.04.2022

3. Die düsteren Konsequenzen des Plans der RAND Corporation („Extending Russia“), Russland zu überdehnen, wie sie auch bei dem Blog von Th. Meyssan Voltairenet.org beschrieben wurden, zeigte am 10.4. der US-Wirtschaftswissenschaftler M. Hudson auf: „Dritter Weltkrieg zeichnet sich am Horizont ab und der Dollar verschlingt den Euro“. Mit den masochistischen Sanktionen wird nämlich u.a. der Euro zerstört. Die RAND Corporation beschäftigt 1800 Forscher in 50 Ländern. Manlio Dinucci beschrieb in einem Artikel die Vorschläge der Studie von 2019: Ukraine. Alles stand im Plan der Rand Corp geschrieben, und durfte übrigens deshalb keinen Artikel bei der berühmten linken Zeitung Il Manifesto mehr schreiben. Wie Walter Jens (Momos) 1967 an den Bayr. Fernsehjournalisten Hans Heigert schrieb: Das haben Sie nicht gelesen, und das haben Sie nicht gelesen (damals Studentenbewegung, heute: die Zerstörung Europas). Ohne dieses Wissen kann man aber den Ukraine-Konflikt nicht verstehen, man kann natürlich rum schwurbeln und seine Vorurteile gegen Russland pflegen. Und wie frei wir sind (hahahahahaha) Jedenfalls vermutet Prof. Hudson, daß Russland und China eine neue Weltordnung schaffen könnten, die die NATO-Staaten nicht braucht.  

P. F. Hilker / 11.04.2022

90 % der Leserkommentare könnten dem “Spiegel” entlehnt sein. Die USA sind natürlich der Buhmann. Nein sind sie nicht. Und die Irakkriege waren richtig! Wusste nicht, dass so viele Leser unter Realitätsverlust leiden.

Helmut Kassner / 11.04.2022

Um des Friedenswillen und um einigermaßen sicher leben zu können, werden wir nicht umhin kommen anzuerkennen, dass es Großmächte gibt und dass diese ihre Einflusszonen beanspruchen. Damals in Jalta haben die Großmächte das ausverhandelt und sie haben sich an das Vereinbarte gehalten. Deshalb hatten wir tatsächlich und trotz des kalten Krieges ein friedliches Leben. Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der SU hat der Westen allen voran die USA ihre Einflusszone bis an die Grenzen Russland geschoben. Das konnte nur schief gehen. Die Lösung des Konfliktes Ukraine liegt in direkten Verhandlungen Russlands mit den USA und in der Anerkennung und Beachtung von Einflussspähren für die jeweilige Großmacht. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist, so bedauerlich das ist, zweitranging. Was nützt uns dies für die Ukraine, wenn Europa in Schutt und Asche gelegt wird oder wirtschaftlich danieder liegt. Wenn das Volk Kubas sich in wirklich freier Entscheidung dem Warschauer Pakt angeschlossen hätte, dann hätten die USA das niemals akzeptiert. Ich möchte leben und nicht irgendwelchen hehren Zielen geopfert werden. Und eine weitere Überdehnung der EU begünstigt nur deren Zerfall und damit ist niemanden geholfen. Im Moment scheinen die Verantwortlichen in Ost und West unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.

Dr. Robert Lederer / 11.04.2022

Sehr geehrter Herr Sarrazin, ich bin ein großer Bewunderer aller Ihrer Bücher (na ja, die Diss. vielleicht ausgenommen, ich war ja ein LINKER Jungsozialist). Seit vielleicht 2 Jahren schreiben Sie so dahin: während Ihre Bücher von Gelehrsamkeit strotzten, und Sie eine intellektuelle Größe darstellten, an der sich der Abstieg der deutschen Universitäten und die Belanglosigkeit der deutschen Intelligenz gezeigt haben, sind diese Artikel, die ich von Ihnen jetzt las, von einer gewissen Beliebigkeit. Ich greife ein paar Punkte heraus, an denen sich zeigt, daß Sie offenbar Null Ahnung haben, worum es bei dem Ukraine Konflikt geht. 1. Die pazifistische Grundeinstellung des Westens (fast Satire). Der berühmteste Friedensforscher Galtung kurz vor dem 2. Irakkrieg 2002 in der taz: „Die USA sind ein geofaschistisches Land. Es ist auf der Weltebene faschistisch, obwohl es zu Hause demokratische Züge hat. Es ist ein Fehler zu glauben, bei Demokratie im Inland gibt es keinen Faschismus. Ich sehe Faschismus als Gewaltfrage: also bereit zu sein, eine beliebige Menge von Leben zu opfern zur Erreichung politischer Ziele; zu sagen, es gibt etwas Höreres als menschliches Leben. Die Schätzungen der von den USA weltweit getöteten Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg schwanken zwischen 12 und 16 Millionen.“ Nach einer Studie der Brown University (Rhode Island) haben Kriege der USA seit 2001 bis zu 59 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. 2. Worum es bei dem Ukraine Konflikt geht , zeigt pädagogisch gut formuliert der Artikel von Thomas Röper auf seiner anti Spiegel Seite „Wie Geopolitik funktioniert“, auch die Interviews von John Mearsheimer und eine einstündige Vorlesung von ihm sind nützlich. G. Friedmans 14 Minuten vor dem Chicago Council on Global Affairs (2015) sind die beste brutale Einführung in das, wozu die USA die Europäer benutzen und wozu die sich jetzt auch benutzen lassen.  

Ilona Grimm / 11.04.2022

@Lars Bäcker: Zur US-Geostrategie empfehle ich auf Youtube den Vortrag (11 Minuten, Ausschnitt) von Dr. George Friedman bei „The Chicago Council for Foreign Affairs, STRATFOR vom 05.02.2015 (der per Datum 12.07.2017 auch mit deutscher Übersetzung zur Verfügung steht). Aber Vorsicht: Ein paar Schreckmomente könnten sich einstellen.  Dr. Friedman spricht nämlich Klartext! - - - Für Foristen, die gut Englisch verstehen, empfehle ich den knapp zweistündigen Exkurs von „Gonzalo Lari on Victoria Nuland“ aus Charkiv. Lari geht rücksichtslos in die Tiefen der Persönlichkeit von Nuland (als wichtigste Strippenzieherin der US Regierung) in der Ukraine (und allgemein der US-Geopolitik).

Sigrid Leonhard / 11.04.2022

“Es ist eben nicht möglich, jemanden, der Konflikt und Gewalt sucht, durch eigene Friedfertigkeit zum Frieden zu zwingen, wenn er diesen nicht will.” Als ich noch den ÖRRundfunk nebst Nachrichten einschaltete (ist schon 1,5 Jahre her), hatte ich immer den Eindruck, dass die transaltlantischen Nachrichtensprecher (=alle) äußerst kriegslüstern wirken.

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