Von Volker Stanzel. China gilt manchem als Beleg, wie schlecht Demokratien mit der Pandemie-Gefahr umgegangen sind, und wie vorzüglich es den Chinesen ergangen sei, die sich unter Gewaltandrohung über Monate einsperren ließen. China will solche Lösungen für die ganze Welt.
Von Volker Stanzel
Wer sich ein wenig mit China beschäftigt hat, von seiner komplexen, vielfältigen Kultur fasziniert ist, wer mit so vielen neugierigen, den Überraschungen dieser Welt gegenüber aufgeschlossenen Menschen dort Umgang pflegte, den machen diese Entwicklungen fassungslos. Es bedrückt den Beobachter, wie sich all das auf das Innenleben der chinesischen Gesellschaft auswirkt.
Die immer totalere Überwachung in den sozialen Medien, Videokameras überall, immer schärfere Gesetze gegen alles, was Dissens sein könnte. Nicht „mannhaft“ wirkende Darsteller dürfen im Fernsehen nicht mehr auftreten, Stars, die zu viel verdienen, werden verfemt und im Netz gemobbt. Erfolgreiche Firmen – vornehmlich aus dem Internet-Bereich – müssen ihre Gewinne an den Staat abtreten. Schulkinder dürfen kein Englisch mehr lernen, sondern müssen die „Gedanken“ Xi Jinpings auswendig aufsagen können. Die Zeit am Bildschirm wird Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren jetzt gesetzlich vorgeschrieben (vielleicht ein Traum auch mancher westlichen Eltern) – nur noch drei Stunden am Wochenende. Videospiele müssen von Staats wegen überdies politisch und historiografisch korrekt sein, sonst werden sie aus dem Netz verbannt.
Auch hier hat die Pandemie die Durchsetzung dieser Maßnahmen erleichtert, denn zur Angst vor der Partei kam die Angst vor der Krankheit. Gegen diese konnte nur die Partei – genauer: nur Xi Jinping persönlich – helfen. Nun gibt es Raum für eine plausible Erzählung davon, wie schlecht Demokratien mit der Gefahr umgegangen sind, und wie vorzüglich es den Chinesen ergangen sei, die sich unter massiver physischer Gewaltandrohung über Monate in ihre Wohnungen einsperren ließen.
Für den im nächsten Jahr anstehenden XX. Parteitag der KPCh werden daher zwei Kampagnen vorbereitet. Eine hat die Neubestimmung der chinesischen Geschichte der letzten siebzig Jahre zum Ziel. Was bisher noch als „Fehler“ erschienen ist, wie etwa der mörderische „Sprung nach vorn“ in den 1950er Jahren, wird reingewaschen werden. Zudem soll die Gesellschaft weiter nach „links“ verortet werden. Als ideologische Richtschnur zählt fortan nur noch das bereits in der Verfassung festgeschriebene „Denken Xi Jinpings“.
Die KP will „chinesische Lösungen“ für die Probleme der Welt
Damit dürfte wohl auch fortgesetzt werden, was wir bisher schon als „Ausgreifen“ der Politik der KPCh über die Grenzen des Landes hinaus erleben. Da geht es nicht nur darum, chinesische Vertragsbedingungen weltweit durchzusetzen, wie wir das bei der „neuen Seidenstraße“ bereits beobachten. Da geht es nicht nur darum, dass China sich die Hoheit über Seegebiete von der Fläche Mexikos in Südostasien militärisch sichert, seine Soldaten in Indien über die Grenze hinweg angreifen, oder dass es Taiwan tagtäglich mit Flügen seiner Kampfjets und seiner Marine terrorisiert. Stolz berichtete das Staatsfernsehen CCTV, zum chinesischen Nationalfeiertag, dem 1. Oktober, hätten 38 Kampfjets Taiwan als „Militärparade in der Luft“ überflogen.
Aber es geht noch viel mehr:
- Nun nimmt Peking ohne Zögern zum Beispiel kanadische Staatsbürger als Geiseln in Haft, wenn eine chinesische Staatsangehörige in Kanada in ein Strafverfahren verwickelt werden könnte, und lässt sie erst nach Rückkehr der eigenen Staatsangehörigen wieder frei.
- Unlängst stellten die sogenannten Pekinger „Wolfskrieger-Diplomaten“ der australischen Regierung eine Liste mit 14 Forderungen für „besseres Verhalten“ zu. Diese müssten erfüllt werden, wolle Australien Wirtschaftssanktionen vermeiden. Der Grund dafür: Canberra hatte öffentlich gefordert, Peking solle die wahren Ursachen der Corona-Pandemie untersuchen und offenlegen.
- Immer mehr Buchverlage, auch in Europa, sehen sich von Geschäften in der Volksrepublik ausgeschlossen, wenn sie Bücher mit Landkarten veröffentlichen, die nicht die Territorialansprüche Pekings widerspiegeln. D.h. Taiwan, die Südchinesische See und umstrittene Gebiete im Himalaya müssen auf Karten als „China zugehörig“ gekennzeichnet sein.
- Der Vertrag mit Großbritannien von 1997 über die politischen Freiheiten und die Verfassung Hongkongs wird von Peking einseitig für null und nichtig erklärt.
- Und ein neues Sicherheitsgesetz bedroht seit diesem Jahr auch Nicht-Chinesen mit Strafen, wenn sie Positionen vertreten, die nicht mit den politischen Vorgaben der KP übereinstimmen – selbst, wenn diese „Verstöße“ gar nicht in China passiert sind.
Alles das klingt erschreckend, und wir fühlen uns dabei vielleicht zunächst an das aggressive Gebaren der einstigen Sowjetunion erinnert. Doch das, was der „Economist“ unlängst „die neue Wirklichkeit Chinas“ nannte, unterscheidet sich grundsätzlich von den alten westlichen Auseinandersetzungen mit der UdSSR. Bei allem imperialen Ehrgeiz der KPdSU waren die russischen Kommunisten doch als marxistische Partei noch immer Fleisch von unserem Fleisch. Das heißt, auch sie fühlten sich dem Erbe der Aufklärung verpflichtet.
Das ist im Falle der VRCh anders. Die KP bekennt sich zum sogenannten „Sozialismus chinesischer Prägung“ (中国特色社会主义). Chinas Kommunisten bieten der Welt an, sogenannten „chinesischen Lösungen“ für ihre Probleme zu folgen – also den Vorgaben der KPCh zu gehorchen. Das dürfen wir als Abschiedserklärung gegenüber den mit der UN-Charta universalisierten Werten der Aufklärung verstehen.
Die Herausforderung durch die neue Weltmacht erkennen
Es ist damit auch der Abschied von den Regeln, mit denen unsere komplizierte globalisierte und pluralisierte Welt in Gang gehalten wird. Ein Beispiel: Hätte Peking sich Ende 2019 an die Regeln der Weltgesundheitsorganisation gehalten, das heißt, schon die ersten Corona-Fälle gemeldet und internationalen Experten Zugang zum Reich der Mitte gestattet – wie viele hunderttausende oder Millionen Menschen wären dann heute noch am Leben?
Aber der KP und ihrem Führer Xi Jinping geht es einzig um die eigene Reputation. Und deshalb sehen wir, dass diese KP, die „immer recht hat“, die Welt in eine Katastrophe trieb, während Kritiker der Pandemiepolitik Pekings bestraft werden.
Aber Vorsicht! Das alles ist grundsätzlich ganz und gar legitim. Für die Staaten der Welt existiert keinerlei unabänderliche Verpflichtung auf die Werte der Aufklärung, selbst wenn sie das, wie jedes Mitglied der Vereinten Nationen, einmal unterschrieben haben. Jeder kann sich davon abwenden, denn wir haben keine Weltregierung. Schließlich ist das, was wir als „Aufklärung“ verstehen, das heißt, das Streben nach rationaler Urteilskraft, individueller Freiheit und individuellem „Glück“, eine mindestens bis auf die griechischen Philosophen zurückgehende Geschichte von fortdauerndem Ringen mit langen, schmerzhaften und grauenhaften Rückschlägen – und davon können gerade wir Deutsche beim Blick ins 20. Jahrhundert ein Lied singen. Dennoch, beim Umgang mit einer neuen und einflussreichen Weltmacht sollten wir genau wissen, mit wem und mit welcher Herausforderung wir es zu tun haben.
Geistiger Verlust durch Abwanderung von Dissidenten
Dieses Dilemma kennen die Menschen in China naturgemäß selbst am besten. Sie ziehen daraus Konsequenzen, die uns auf den ersten Blick befremden. Die vergleichsweise wenigen Andersdenkenden und Regimekritiker, die mit klarem Blick erkennen, was mit ihrem Land geschieht, und deshalb die KP kritisieren und anklagen, sie finden wenig Resonanz unter ihren Landsleuten.
Bei einer international besetzten Podiumsdiskussion unlängst beim „Internationalen Literaturfestival Berlin“ waren sieben von acht Teilnehmern der Meinung, eine demokratische Entwicklung in China sei ausgeschlossen. Der Grund: Die große Mehrheit der Menschen hätte das Angebot der KP akzeptiert, Wohlstand im Tausch gegen politisches Stillhalten genießen zu dürfen. Sie müssen ein vorschriftsgemäßes Leben führen und verstummen. Nur ein Panelist konnte sich eine Demokratisierung in China vorstellen, aber nur als Ergebnis eines Putschs innerhalb der KP.
Die engagiertesten Köpfe, Dissidenten und Menschen, die bereit sind, selbst ihr Leben für Veränderung in ihrem Land aufs Spiel zu setzen, sie müssen China letztlich verlassen. Das geschieht aber nicht in Form eines „Braindrains“, eines Abwanderns von Wissenschaftlern und Experten, die anderswo mehr Einkommen suchen und finden. China trifft es schlimmer. Das Land erleidet einen geistigen Verlust. All dies geschieht einer großen und alten Kultur, die eine Bereicherung der Weltkultur gewesen ist. Diese Kultur fehlt uns jetzt, gerade in der Zeit der großen globalen Umwälzungen, einer Epoche, in der wir eigentlich neue Ideen und kreative Gedanken überall sehnlichst bräuchten.
Die KPCh sieht geistige Freiheit als Bedrohung ihrer Macht
Goethe hat gesagt, dass freier geistiger Austausch den Menschen ebenso viel nütze wie der Freihandel der Waren. Die KPCh jedoch sieht geistige Freiheit als Bedrohung ihrer Macht. Sie hat zurück in die Geschichte geblickt und daraus das gelernt, was ihr am ehesten zupasskam. Sie will eine Gesellschaft schaffen, die eingeschlossen ist wie – auch das ist eine alte chinesische Fabel – ein Frosch, der im Brunnen gefangen ist(井底之蛙)und den Ausschnitt des Himmels, den er über sich sieht, für die ganze Welt hält.
Eingeschlossen hinter einer neuen Chinesischen Mauer können die roten Mandarine 1,4 Milliarden Menschen nach Gutdünken zum Erhalt ihrer Macht einstellen. Die Unternehmen folgen furchtsam den Vorgaben der Staatswirtschaft, und die Menschen funktionieren als gehorsame Untertanen, die das denken und sagen, was die Partei ihnen vorgibt.
Also sehen wir vom Ausland aus hilflos zu, wie Menschen, die sich ein anderes, menschlicheres System vorstellen können, verbannt oder gar umgebracht werden, wie etwa der Schriftsteller Liao Yiwu und der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Wir müssen zusehen, wie in Tibet eine alte Religion vernichtet wird oder wie in Xinjiang mehr als eine Million Moslems in Lager eingesperrt sind.
Eben deshalb müssen wir versuchen, uns einen Reim darauf zu machen, was da geschieht in China, im bevölkerungsreichsten Land der Erde und einer von zwei verbleibenden Supermächten. Wir sollten verstehen, wie zutiefst tragisch diese Entwicklung zu enden droht. Wir können aus dem Mut von Menschen wie Wei Jingsheng, Liao Yiwu, Liu Xiaobo und anderen Dissidenten vieles über China und seine Kultur lernen. Und wenn wir uns eine gemeinsame, eine universale Zukunft mit China vorstellen, dann in der Hoffnung, dass dieses China ein Land sein wird, das von Menschen wie ihnen und ihren Leidensgenossen geprägt sein wird.
(Aus einem Vortrag am 8. Oktober, gehalten auf dem Literaturfestival „Literatur im Nebel“ in Heidenreichstein, Österreich.)
Teil 1 finden Sie hier.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei „Der Rikscha-Reporter“, dem Blog von Jürgen Kremb.
Dr. Volker Stanzel ist ehemaliger deutscher Botschafter in Peking und Tokio sowie Politischer Direktor im Auswärtigen Amt. Er publiziert zu außenpolitischen Themen sowie Asien und forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dazu lehrt er an der Hertie School in Berlin.