Dieser Beitrag handelt von der medialen Reaktion auf die Aktion #allesAufDenTisch und damit von Journalisten und ihren sogenannten Experten.
RND/DPA steht unter dem Agentur-Artikel, der die Leser über den Hashtag #allesAufDenTisch informiert. Ein konkreter Autor ist in dem Artikel nicht genannt, wir dürfen also von einem Schöpferkollektiv ausgehen, wie das bei Agenturmeldungen und Nachrichten im Allgemeinen üblich ist. Und um Nachrichten wird es sich doch handeln, oder? Die Rede ist von einer Kunstaktion, die sich unter anderem mit den Corona-Maßnahmen kritisch befasse, es handele sich um eine Anknüpfung der Aktion #allesDichtMachen aus April, teilweise steckten dieselben Akteure dahinter. Auch die Erklärung, es handele sich um dialogische Videos, die Schauspieler und andere Künstler mit „Wissenschaftlern vieler Disziplinen…“, aber auch Anwälten zu verschiedenen Themen geführt hatten, stimmt.
Soweit, so neutral, wenn auch nicht sonderlich informativ, denn dazu hätte man ja inhaltliches exzerpieren oder vielleicht einen Link zur Webseite der Aktion setzten müssen, um dem Leser diese Aufgabe zu überlassen. „Gott bewahre!“, wird man sich bei RND und DPA wohl gedacht haben. „Lasst uns lieber gleich mitliefern, was die Leser davon zu halten haben. Meinung und Wertung unter Nachrichten zu verstecken, ist heute schließlich die beliebteste Beschäftigung aufstrebender Journalisten, die es aus den Schreibbergwerken der DPA mal in die gut besoldeten Sessel beim öffentlich bezahlten Rundfunk schaffen wollen.
Auftritt: ein Experte
Zeit also, dem Meinungsfreiheitsspuk dieser renitenten Künstler den passenden Stempel aufzudrücken:
Nach Ansicht eines Experten für Verschwörungsideologien befeuert die Aktion ein „schädliches Narrativ“. Über die Schauspieler und Künstler verbreiteten sich wissenschaftliche Minderheitenmeinungen über die Pandemie-Leugner-Szene hinaus, diese würden als Mehrheitspositionen dargestellt, sagte Politikwissenschaftler Josef Holnburger. „Durch einen wissenschaftlichen Anschein werden die Beiträge aufgewertet.“
Bei „nach Ansicht eines Experten“ schaltet die Großhirnrinde des Lesers in den Energiesparmodus. Das Denken hat der Experte schon erledigt, da muss der Leser nun nichts mehr ran. Bei „Verschwörungsideologien” und „schädliches Narrativ“ holt der Leser tief Luft, die Bedrohung baut sich auf. Doch bei „wissenschaftliche Minderheitenmeinung“ entspannt sich der Leser, es sind nur wenige, die Mehrheit ist auf Linie, das Adrenalin verlässt den Körper, Ruhe kehrt ein in sein inneres Zweifeln, er ist gerettet. Danke, RND! Und weil die Geister nun im Gleichklang sind, schiebt RND ihm noch eine Begründung nach, falls mal jemand fragt: der „wissenschaftliche Anschein“ ist es, der erweckt sein soll. Da kommen die „Ahhhs“ und „Unglaublichs“ bei Nachfragen von Kollegen und Freunden ganz von selbst. Er weiß Bescheid, der Herr X, der liest RND, und dort hat ein Experte zu ihm gesprochen.
Von Mehrheitspositionen ist übrigens nirgends die Rede, und dass ausgerechnet ein geschwätziger Politikwissenschaftler den Daumen über den Aussagen von Fachanwälten, Epidemiologen und zahlreichen Universitätsprofessoren heben und senken zu dürfen glaubt, ist nichts als ein schlechter Witz. Doch weiter im Artikel.
„Solche Debatten würden aber auf Konferenzen und in Studien geführt – zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sagte Holnburger. Zudem ließen sie sich selten nur durch zwei Personen darstellen. „Mit der Aktion zieht man den Diskurs aus der Forschung heraus.“
„Kümmer‘ dich nicht um diese Debatte, Menschlein!“
Debatten? Welche Debatten? Es geht um Fragen und Antworten, einen Dialog, keine Debatte! Wenn Herr Drosten im NDR-Podcast ein paar Gefälligkeitsfragen beantwortet, verlangt seltsamerweise niemand, das solche „Debatten” in die Fachwelt gehören. Holnburger unterstellt, das Dialogformat „Laie – Experte” solle den fachlichen Disput ersetzen, was definitiv weder der Anspruch noch der Fall ist. Die Verdrehung beabsichtigt noch etwas anderes. Der Vorwurf, man wolle den Diskurs aus der Forschung „heraus ziehen”, sagt, „Kümmer‘ dich nicht um diese Debatte, Menschlein, das erledigt die Forschung, störe deren Kreise nicht! Was dir frommt, teilen dir beauftragte Herolde schon noch mit.“ Das eigentliche Dilemma ist doch, dass der Journalismus in dieser Pandemie komplett versagt hat, denn die Wissensvermittlung, das Nachbohren, das Verständlichmachen, das Abbilden der wissenschaftlichen Debatte findet medial nicht statt. Nur Verächtlichmachung gibt es reichlich.
Was spricht dagegen, sich als Laien mit Wissenschaftlern und Spezialisten ihres Fachgebiets zu unterhalten? Die Quasseltanten Illner, Will und Maischberger machen in ARD und ZDF den ganzen Tag nichts anderes! Was fürchtet Holnburger oder das RND, könnte der Zuschauer erfahren? Und warum sollte ich zum Beispiel in Sachen Medienrecht und Meinungsfreiheit ausgerechnet einen Politikwissenschaftler um seine Einschätzung bitten, statt damit zu Joachim Steinhöfel zu gehen? Welche Anmaßung, welche Unverfrorenheit, solch ein Stück als Nachricht zu tarnen! Aber es kommt noch besser, das RND zitiert den „Experten“ und dessen trübe Quellen:
„Es entstehe ein Ungleichgewicht („false balance“) der wissenschaftlichen Standpunkte, so der Geschäftsführer des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), das unter anderem Desinformation in sozialen Medien beobachtet. „Man holt sich Vertreter und Vertreterinnen einer wissenschaftlichen Minderheitenmeinung und setzt ihnen Gesprächspartner aus Kunst, Kultur und Schauspiel gegenüber statt anderer Forschender.“
Methode Böhmermann als Kronzeuge eines Politikwissenschaftlers
Sie lesen richtig, liebe Leser! Um die Unwissenschaftlichkeit und Gefährlichkeit der Aktion zu belegen, soll uns Böhmermanns Zensur-Hirngepinst der „false balance“ als kritische Methode verkauft werden! Böhmermann, ein im weitesten Sinne Ahnungsloser aus „Kunst, Kultur und Schauspiel“, wird zum Kronzeugen eines Politikwissenschaftlers bei der pauschalen Beurteilung von Aussagen anderer Wissenschaftler, von deren Fachgebieten er nicht die leiseste Ahnung hat. Das ist keine Kasperklatsche, hier soll das Argument gleich mit dem ganzen Kasper erschlagen werden. Mir fehlen die Superlative, um diesen Mount Everest der Frechheit, diesen Marianengraben der Niedertracht angemessen zu beschreiben.
Der Text rudert im Folgenden etwas zurück, man merkte wohl, dass die Stalinorgel etwas zu laut geraten war. Ja, der eine oder andere anerkannte „Mensch auf seinem Gebiet” (wichtig, immer eine Armlänge Abstand davor, die Kollegen Wissenschaftler zu nennen) sei schon dabei…
„In den Videos kommen einige Menschen zu Wort, die Experten auf ihrem Gebiet sind, darunter der Medizinstatistiker Gerd Antes oder der Virologe Klaus Stöhr. Ihre Stimmen wurden in der Pandemie regelmäßig in großen Medien gehört.“
…große Medien, Sie wissen schon, liebe Leser, man möchte nicht versehentlich ins eigene Nest…, aber:
„Mehrere der Gesprächspartner sind jedoch bereits durch Äußerungen aufgefallen, die die Gefahr durch das Coronavirus verharmlosen.“
„Durch Äußerungen aufgefallen” ist nur eine Daumenschraubenumdrehung entfernt vom „ungefestigten Klassenstandpunkt” frühere Epochen. Einmal Kritik und Bähmm: Querdenker! „Spiel nicht mit dem Schmuddelkind“, hieß es schon bei Franz Josef Degenhardt. Dass es die „großen” Medien waren, die den Schmutz erst verteilten, muss dem Leser nicht in Erinnerung geraten. Wichtig ist, dass gefestigte RND-Autoren und ein Politikwissenschaftler vor einer Aktion bekannter Künstler warnen, die „Minderheitsmeinungen” verbreite, um die man sich besser nicht kümmern sollte. Fragt sich, was wohl die (vorgeblichen) Mehrheitsmeinungen, die „anderen Forschenden” zur Qualität der Aktion beizutragen hätten.
Gesprächsverweigerung, Diskursignoranz oder auch: kneifen
Denn so bolzenfesten, ja, 24-karätigen Meinungen wie denen eines Christian Drosten, von Karl Lauterbach, Jens Spahn, Richard Precht, Harald Lesch oder Mai Thi Nguyen-Kim dürfte die Skepsis von Leichtmatrosenkünstlern doch kaum gewachsen sein, oder? Ein Wort, ein „Wir”, eine Kausalkette und eine Solidaritätsverpflichtung später wären Interviewpartner wie Zuschauer doch sicher restlos überzeugt – oder etwa nicht?
Wir werden es nie erfahren, denn besagte helldeutsche Corona-Experten von der aufmerksamkeitssatten Provenienz sagten den Machern der Aktion ab oder meldeten sich gleich gar nicht auf die Anfrage. Nennt man Gesprächsverweigerung, Diskursignoranz oder, wo ich herkomme, auch kürzer: kneifen. Man bewegt sich lieber im bekannten, eingehegten medialen Biotop, in dem alle Fragen längst beantwortet sind und jede staatliche Maßnahme eine verkündete Wahrheit ist, die man feiern und runterschlucken muss.
Vielleicht hat man auch einfach nur Angst vor der Erkenntnis, dass die „Minderheitsmeinung“ von mehr Menschen geteilt wird, als vermutet? Im alten Rom machte ein Politiker einst den Vorschlag, alle Sklaven an der Kleidung zu kennzeichnen. Dieses Ansinnen wurde mit der nachvollziehbaren Begründung abgelehnt, dass wenn die Sklaven erst sähen, wie viele sie seien, es Probleme mit der Akzeptanz der Hierarchie geben könnte. Doch genug von den Zahlenspielchen und eingebildeten Mehrheiten, Wahrheiten kommen ohnehin nie durch die Zusammenzählung von Köpfen, durch für abgeschlossen und erledigt erklärte Diskurse oder Politologengeschwätz zustande. Als etwa im Jahr 1931 das Buch „100 Autoren gegen Einstein“ erschien, in dem besagte 100 Physiker „process verbal“ gegen Einsteins Relativitätstheorie führten, soll Einstein nur verwundert ausgerufen haben: „Warum so viele? Hätte ich unrecht, würde einer genügen.“
Ich hoffe, die Kunstaktion bekommt eine weitere Fortsetzung und ich hätte auch schon einen Hashtag dafür: #wovorHabtIhrAngst
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.