Von Josef Bayer.
Wie oft haben Sie schon mal mit einer Verpackung Probleme gehabt? Niemals? Kaum zu glauben. Denken Sie an Milchflaschen, bei denen Sie nach dem Abschrauben eines Deckels, was schon einiges an Kräften erfordert, eine Plastiklasche hochziehen müssen, bevor Sie an die Milch kommen. Diese reißt dann gelegentlich so, dass man anschließend ein scharfes Messer bemühen muss, um das Loch für die Flüssigkeit ausschneiden zu können.
Irgendwie sind das Aktionen, an die man eigentlich für eine so triviale Sache wie das Öffnen einer Packung nicht gedacht hätte. Menschen mit auch nur geringen Behinderungen an den Händen sind hier bereits aufgeschmissen. Das ist aber eine Lächerlichkeit gegenüber Verpackungen für technisches Gerät.
Ich habe mir heute eine Mehrfachsteckdosenschiene mit sechs Steckplätzen und Überspannungs- und Blitzschutz des Typs Primera-Tec der Firma Brennenstuhl für schlappe 32 Euro gekauft. Meine Frau, die wusste, dass ich so etwas brauche, rief entsetzt: „Um Gottes Willen! Was ist denn das?“ Sie erkannte von der martialischen Aufmachung her gar nicht, worum es sich handelte.
Am Ende hilft nur Gewalt
Ich nahm sofort die stärkste zur Verfügung stehende Schere und schnitt das obere Ende der Packung auf. Es gelang gerade noch, bevor die Schere kaputt ging. Dann versuchte ich, die Packung mit Muskelkraft weiter aufzureißen. Es ging schwer. Schließlich krachte die Plastikhülle in einem Ruck auseinander, wobei mir die rasierklingenscharfen Abrisskanten ein paar blutige Schrammen an den Händen bescherten.
Eine sehr sympathische Verpackung, muss ich sagen. Beim nächsten mal ziehe ich mir Mauererhandschuhe an und setze mir die Taucherbrille auf, bevor ich dann das gekaufte Produkt unter Zuhilfenahme der Instrumente in meinem kleinen Werkzeugkasten auszupacken versuche. Beim Neukauf eines Zahnbürstchens werde ich mich wohl vorerst noch auf mein Scheren-Set verlassen. Aber wer weiß.
Das Thema Verpackungen beginnt mich zu fesseln. Ich google und lese:
Unser neuer Flowpact-Typ ist Teil einer neuen Produktinitiative für starre Verpackungen und andere Marktsegmente“, sagt Lada Kurelec, Global Business Director PP für das Petrochemiegeschäft bei Sabic. Versuche bei mehreren Verpackungsherstellern haben die Vorteile der neuen Produkte mit ihrer hohen Steifigkeit und Schlagzähigkeit bereits unter Beweis gestellt. „Sabic PP FPC70 kommt dem anhaltenden Trend zu Dünnwandverpackungen entgegen. Das Material ermöglicht Wanddickenreduzierungen von bis zu 10 % und hohe Einspritzgeschwindigkeiten.“ PP FPC70 ergänzt die kürzlich eingeführten Flowpact-Typen FPC45 (MFI 45) und FPC100 (MFI 100). Starre Verpackungen aus dem Material, einschließlich heiß befüllbarer Anwendungen, bieten laut Hersteller eine höhere Stapelbelastbarkeit als vergleichbare Produkte aus aktuellen Benchmark-Materialien. Die Polymerchemie des neuen Materials führt nach Angaben von Sabic gegenüber schlagzähmodifizierten Standardcopolymeren zu einem ausgewogenen Eigenschaftsprofil mit hoher Steifigkeit, Schlagzähigkeit und Wärmeformbeständigkeit. PP FPC70 eigen sich für Behälter zur Verpackung von Lebensmitteln und Non-Food-Produkten sowie für Verschlusskappen und Haushaltswaren.
Es kommt auf die Perspektive an
Da ich von der Profession her Linguist bin, schlägt mich natürlich augenblicklich die Vokabel Schlagzähigkeit in ihren Bann. Viele Begriffe der Sprache haben ja einen sogenannten „aspektuellen“ Charakter, d.h. es ist eine Frage, ob sie aus der Perspektive des Sprechers oder aus der Perspektive eines anderen zu interpretieren sind. Obwohl bei Schlagzähigkeit durchaus eine aspektuelle Mehrdeutigkeit mitschwingt, muss diese reizende Neuschöpfung in erster Linie von der Sicht des Produkts aus erfunden worden sein.
Das Produkt wird auch bei Großbelastungen beim Stapeln in Transporten nicht beschädigt. Die andere Frage ist, wie sich die Schlagzähigkeit seiner Verpackung bei denjenigen auswirkt, die das Produkt gekauft haben und sich nun mit dieser fabelhaften Eigenschaft seiner Umhüllung unter Hinzuziehung von mittelschwerem Gerät, Muskelkraft und Risiken für die körperliche Unversehrtheit auseinandersetzen müssen.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Analogien kommen mir in den Sinn. Ich wollte z.B. neulich die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz mit dem Velo(ziped) überwinden. Leider hatte ich dabei den „Hauptzoll“ erwischt. Dort kann man zwar komfortabel mit dem Auto passieren, aber mit einem Velo wird es sehr sehr schwierig, da man dann mit dem Velo auf der Autobahn fährt, was selbstverständlich streng untersagt ist.
Der Tunnel, der in die Freiheit führt
Direkt benachbarte Sträßchen und Feldwege kann man nicht erreichen, denn einen Radweg gibt es nicht. Fußgänger wären selbstverständlich von vorne herein verloren. Als ich schließlich an der Grenze gestrandet war und sah, dass ich dem düsteren Areal des Grenzübergangs nicht mehr legal entkommen konnte, zeigte mir einer der Grenzpolizisten freundlicherweise eine Art „Fluchtweg“ durch eine gerade unversperrte Tür und einen dahinter liegenden Tunnel, der zwar illegal ist, der mir aber das Entkommen aus der prekären Situation ermöglichte. Grenze ja, aber für wen eigentlich?
Denken Sie mal darüber nach, was Ihnen sonst alles begegnet, was nicht für Menschen des Alltags gemacht ist, sondern für die Überirdischen oder für irgendwelche höheren Bestimmungen. Behördenbescheide mit Zahlungsaufforderungen nach Baumaßnahmen vor Ihrer Wohnung, um die Sie niemals gebeten haben, und die noch nicht einmal angekündigt wurden, Geschwindigkeitsreduktion auf 30 km/h bei leergefegter Straße, Biotonnen, Einweg- und Mehrwegflaschen usw. Achten Sie darauf: Es beginnt bei den ganz kleinen Dingen wie bei der Schlagzähigkeit, und es hört dort auf, wo man Ihnen den Hals zuschnürt.
Prof. Dr. Josef Bayer unterrichtet Allgemeine und Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Konstanz