Wolfram Ackner / 19.03.2018 / 06:28 / Foto: Pixabay / 85 / Seite ausdrucken

Wolfram Ackner, Schweißer, an Durs Grünbein, Dichter

Manchmal reibe ich mir verblüfft die Augen. Durs Grünbein sagte in der Süddeutschen Zeitung, dass „dieselben Leute, die in die Sozialsysteme des Westens eingewandert seien (also die Ostdeutschen) sich heute über den Zuzug aus anderen Erdteilen beklagen“. Ist das tatsächlich derselbe Durs Grünbein, der sich über Uwe Tellkamps Behauptung beklagt, dass 95 Prozent der Flüchtlinge nur zu uns kommen, um in unser Sozialsystem einzuwandern?

Diejenigen Journalisten und Politiker, die Tellkamp jetzt der Verbreitung von „fake news“ zeihen – kommt mir das nur so vor oder sind das nicht dieselben Leute, die uns auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise tagtäglich mit Jubelmeldungen traktierten? Darüber, um wie viel gesünder und besser ausgebildet als der Durchschnittsdeutsche doch die Flüchtlinge sind, was sie für einen Segen für die Zukunft unserer Renten und die Stabilisierung unserer finanziell darbenden Krankenkassen darstellen, die uns diesen damals schier endlosen Strom von hauptsächlich jungen Männern als „Frauen, Kinder und Familien" zu verkaufen suchten und den Umstand, das viele zehntausende ohne Pass kamen, damit erklärten, dass das traumatisierte Menschen aus Kampfgebieten sind, die keine Zeit fanden, mehr als das lebensnotwendigste einzustecken? Also ihre Handys? Ich frag ja nur …

Einige der progressiven ostdeutschen Kultur- und Politikgrößen fühlen sich offenbar berechtigt, ihre konservativeren Landsleute vorsätzlich auf das heftigste zu provozieren. Wie neben Grünbein beispielsweise auch schon die damalige Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt, die in einer Bundestagsdebatte sagte: „30 Prozent der Kinder und Jugendlichen heute haben bereits einen Migrationshintergrund und dabei habe ich die Ossis jetzt noch nicht mitgerechnet.“

Als Filmjunkie beschleicht mich da immer der leise Verdacht, dass die Ewigmorgigen durch den Film „Monster AG" dazu motiviert wurden, durch ihr provokatives, faktenfreies Dampfgeplauder die mögliche Erzeugung emissionsfreier Kreisch-Energie zu erforschen. Und als nutzbringendes Beiprodukt, sozusagen als Fernwärme, produziert man wütende Zuschriften, die man dann mit besorgtem Gesichtsausdruck in die Kameras halten kann, um sich über „Hetze“ und den „schwelenden Hass“ in der Gesellschaft zu sorgen und mehr Geld und Einfluss für politisch nahestehende Vereine und Organisationen zu fordern, welche die Gesellschaft in die erwünschte Richtung treiben.

90 Wochenstunden und 200.000 Kilomerter

Ich bin ein in Leipzig geborener Deutscher mit „zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern, da weiß man gleich, woher der braune Wind weht“ (na, erinnern Sie sich noch, von wem diese nächste Provokation kam? Kleiner Hinweis: „zwei Bier, vier Messwein, da weiß die Verkehrskontrolle gleich, woher die Fahne weht").

Lassen Sie mich Ihnen kurz meine „Einwanderung“ in das Sozialsystem meines eigenen Landes schildern. Seit 1989 arbeite ich ununterbrochen im Rohrleitungs- und Anlagenbau, davon 17 Jahre auf Montage und Auslandsmontage. In den 90er Jahren war für mich die 50-Stunden-Woche die Norm, die 60-70-Stunden-Woche keine Seltenheit. Ich weiß nicht, wie viele Sonntagnächte und Freitagabende ich stundenlang im Stau hockte, weil hunderttausende ostdeutsche Pendler und Monteure auf dem Weg zu ihren westdeutschen Baustellen und Büros die Autobahnen verstopften.

Ich hatte Zeiten, in denen ich dreihundert Stunden im Monat arbeitete, oder alle vier, fünf Wochen mal für ein verlängertes Wochenende nach Hause kam. Ich hatte Zeiten, in denen ich es schaffte, in vier Jahren beruflich 200.000 Kilometer runterzureißen – mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Wiederverkaufswert meines privaten PKWs, in dem ich oft genug noch Firmenwerkzeug mitnehmen musste. Bei Havarien oder Abstellungen in industriellen Großanlagen kam es auch schon vor, dass ich zwanzig Stunden am Stück in Dreck, Staub und Hitze durcharbeitete. Aber ich will mich nicht beschweren.

Zumindest konnten wir uns als Familie in den diesjährigen Winterferien das erste Mal seit drei Jahren wieder einen Urlaub leisten. Vier Tage auf einem Bauernhof in der Rhön. Und außerdem bin ich weiß Gott kein Extremfall. Ostdeutsche Kollegen von mir standen auch schon 25-30 Stunden am Stück auf der Baustelle, solange eben, bis die Havarie beseitigt war. Schon peinlich, mit welcher Selbstverständlichkeit wir „Migranten im eigenem Land“ es uns in der sozialen Hängematte bequem gemacht haben. Deswegen sind wir auch immer heilfroh, dass solch gesalbte grüne Großdenker uns Dunkeldeutsche noch nicht komplett abgeschrieben haben als bornierten, latenzfaschistoiden Menschenmüll, der nichts von seinem Wohlstand abzugeben bereit ist, sondern versuchen, uns durch das Vorhalten des Spiegels die Chance auf Läuterung und Bewusstseinserweiterung einzuräumen.

Nach der Geburt des zweiten Kindes ins Berufsleben

Bei meiner Frau ist es ähnlich. Nach der Geburt des zweiten Kindes und dem Babyjahr wieder ins Berufsleben eingestiegen, allerdings gezwungenermaßen in den ersten Monaten auf 450-Euro-Basis ... und zwar nicht, wie bei Stuttgarter Bekannten, verteilt auf zehn Stunden und drei Tage die Woche, sondern über siebzehn Wochenstunden von Montag bis Freitag. Der Job am entgegengesetzten Ende der Stadt, das eine Kind zum Tagesvater, das andere Kind zur weit entfernten Kita, summa summarum dreieinhalb Stunden täglich mit der Straßenbahn unterwegs, um zwanzig Euro am Tag nach Hause zu bringen, und zwar mit etwas in der Tasche, was eine Katrin Göring-Eckardt nicht vorzuweisen hat – einem Universitätsabschluss.

Doch der Einsatz lohnte sich, schon bald winkte ein echter Dreißig-Stunden-Vertrag und ein fast schon vierstelliges Gehalt, so dass sich auch meine Frau dank Oma-Sponsoring ein winziges gebrauchtes Auto kaufen konnte, um nicht mehr jede Woche zwanzig Stunden in der Straßenbahn verbringen zu müssen. Nur für eine reguläre Durchsicht in der Werkstatt hat es seit mittlerweile 100.000 km bei uns beiden nie gereicht, aber toi toi toi, Daumen drücken, liebe Leser. Das Fahrverbot kommt hoffentlich schneller als die unbezahlbare Großreparatur.

Schließlich ist es für uns wichtiger, die noch offen stehenden 360 Monatsraten für unsere Doppelhaushälfte abzuzahlen. Wohlgemerkt, unsere bis ins Rentenalter hinein zu finanzierende Doppelhaushälfte, die wir ohne die Beinahe-Unmöglichkeit, eine gute, bezahlbare 4-Raum-Wohnung in Leipzig zu finden, und ohne die durch die „Eurorettung“ verursachte Unmöglichkeit, auf einem anderem Weg noch für das eigene Alter vorzusorgen, niemals gekauft hätten. Und, glauben Sie mir, es macht mir keinen Spaß, hier rumzujammern, zumal wir uns trotzdem noch als privilegiert empfinden.

Es macht einen halt nur stinksauer, wenn man als ein Mensch, der sein ganzes Leben lang immer nur sehr hart arbeitete, um sich aus eigener Kraft über Wasser zu halten und nicht zum Mündel der Betreuungsindustrie zu werden, nun ausgerechnet von Leuten mit idiotischen, beleidigenden Behauptungen diskreditiert wird, die vermutlich eher selber nicht unbedingt auf der Seite der Wertschöpfung zu finden sind. Denn, wie drückte es ein befreundeter Regisseur so schön süffisant aus: „Ein Dichter von, sagen wir es milde, genial weltfremder Lyrik kann heute gar nicht überleben ohne den fast komplett verstaatlichten Literaturbetrieb, ohne diese spezielle Tafel, an der Stipendien, Preise, Goethe-Reisen, pop-ups in den elektrischen Medien verteilt werden.“

Die Hälfte meiner Kollegen sind Osteuropäer

Grünbeins zweiter pauschaler Vorwurf, wir Ostdeutschen wehren uns gegen den Zuzug aus anderen Erdteilen, ist genauso völlig daneben. Noch nicht einmal in den Programmen von Pegida und der AfD wird Grünbein Passagen finden, die sich generell gegen Zuwanderung aussprechen, geschweige denn, dass sich der Rest der ostdeutschen Bevölkerung gegen Zuwanderung sperrt. Ich arbeite seit etwa zwanzig Jahren für Menschen, die als Migranten nach Deutschland kamen und hier Firmen aufbauten, Leute wie mich in Lohn und Brot brachten. Die Hälfte meiner Kollegen sind Osteuropäer, die hart arbeiten und viele Entbehrungen auf sich nehmen, um ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Als ob es da irgendwelche Respekt- und Akzeptanzprobleme geben würde!

Und Herr Grünbein macht wirklich einen Fehler, wenn er denkt, Leute wie er wären die Fürsprecher dieser Menschen. Es gibt nämlich einen Grund, warum beispielsweise der Anteil der AfD-Wähler unter den Russlanddeutschen überproportional hoch ist. Ich habe auch ausländische Kollegen, die seit 25 Jahren hier leben, gut Deutsch sprechen, gut verdienen, gut integriert sind und denen es in der Vergangenheit nicht vergönnt war, ihre Familien nachzuholen und ihre Kinder aufwachsen zu sehen, obwohl sie Familienzusammenführung und Lebensunterhalt ohne jede staatliche Unterstützung auf die Reihe gekriegt hätten.

Bildet sich Herr Grünbein tatsächlich ein, diese Menschen, denen nichts geschenkt wurde, würden diesen generösen, alles hinnehmenden Harakiri-Kurs der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik unterstützen? Die, die ich kenne, greifen sich alle nur fassungslos an den Kopf. Oder bildet sich Herr Grünbein ein, das es die integrierten, laizistischen Zuwanderer aus dem islamischen Kulturkreis gut finden, wie sich jetzt als Folge der „Willkommenspolitik“ der politische Islam – und damit die Zustände, vor denen sie geflohen sind – immer weiter in Deutschland ausbreiten?

Wie sie selbst, die jahrelang nie oder kaum Probleme ob ihres optischen Andersseins in Deutschland erfahren hatten, plötzlich auf der Straße auch ängstliche oder ablehnende Blicke ernten, weil es immer mehr Menschen gibt, die – aus Gründen – großes Unbehagen bis hin zur Furcht vor „südländischen“ Männern entwickelt haben? (In England schreibt man übrigens statt „Südländer“ von der „asian community“, um das mit einem Tabu belegte „M-Wort“ nicht in den Mund nehmen zu müssen).

Wenn Herr Grünbein wissen möchte, wie ein durchaus relevanter Teil der Zuwanderercommunity tickt, dann empfehle ich zur Lektüre die Artikel „Das Korrektiv der Migrantenkinder“ von Sofia Taxidis und „Seit gestern bin ich Nafri“ von Karim Dabbouz.

Der Sound der privilegierten Staatskünstler

Weitere Äußerungen Grünbeins in diesem SZ-Interview fand ich eher unfreiwillig erheiternd. Etwa, dass er den Umstand, dass es plötzlich im Jahre 2018 viele Menschen gibt, die laut Meinungen äußern, für die man im Jahre 2015 noch ans Kreuz genagelt wurden wäre, damit erklärt, dass ihn diese Menschen an die Mitläufer der Montagsdemos in der DDR erinnern: „Als es kein Risiko mehr war, auf die Straße zu gehen, waren sie plötzlich alle dabei – und marschierten dem Begrüßungsgeld entgegen.“ 

Dieser Sound der privilegierten Staatskünstler ist mir aus Wendetagen noch allzu gut im Ohr geblieben. Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym, einer, der schon zu Ostzeiten in die glitzernde Warenwelt des Westens reisen durfte, ließ sich 1990 vom SPIEGEL 3.000 Mark für einen Essay bezahlen, in dem er – so wie heute Durs Grünbein – aus Enttäuschung über den Mangel an utopistischem Idealismus unter der einfachen Bevölkerung diese auf das heftigste beleidigte: 

„Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch edlen Blicks einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie mit kannibalischer Lust in den Grabbeltischen, von westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg plaziert, wühlten.“

Nun, es ist Grünbeins gutes Recht, uns Andersdenkenden an den Kopf zu werfen, dass wir ihn an die Mitläufer von damals erinnern, die dem Begrüßungsgeld zustrebten (obwohl ich persönlich erstmalig schon am gewalttätigen Samstag des 07.10.89 gegen den SED-Staat demonstrierte und danach jeden Montag, bis auch mir die „Deutschland, einig Vaterland“-Rufe zu laut wurden, weswegen ich mich den winzigen Gegendemonstrationen der Leipziger Anarchoszene anschloss und das Begrüßungsgeld zwar als toll empfand und komplett in Schallplatten umsetzte, aber garantiert nicht wegen der hundert Mark auf die Straße gegangen bin, genausowenig wie die anderen Demonstranten.

Wir wollten einfach nicht mehr unter der eisernen Knute der roten Dummschwätzer leben, aber zum ersten gibt er damit unfreiwillig zu, dass es früher für die eigene Karriere und Reputation gefährlich war, solche Sichtweisen öffentlich zu äußern (Beispiele gibt es weiß Gott genug), und dann nehme ich mir im Gegenzug auch das Recht heraus, zu sagen, dass mich Herr Grünbein an die DDR-Funktionäre und Journalisten von einst erinnert, die phantastische Geschichten von der Stärke, Friedlichkeit und Güte des Sozialismus fabulierten, während das ganze Land unterdrückt, militarisiert und runtergewirtschaftet wurde.

„Konstruktiver Dialog mit der Partei- und Staatsführung“

Nur mit dem Unterschied, dass heute eben nicht mehr dieser oder jener Wirtschaftsplan „um 328,5 Prozent übererfüllt“ wurde, sondern uns Tag für Tag mitgeteilt wird, dass wir im „sichersten, besten, reichsten, tolerantesten“ Deutschland aller Zeiten leben, Dass es „uns“ so „unfassbar gut geht“, während in Wahrheit die Gutmeinenden sich mit immer intoleranteren Methoden an ihre schwindende Deutungshoheit klammern, unzählige Menschen wirklich strampeln müssen, um den Kopf über Wasser zu halten, und es hinter vorgehaltener Hand bei vielen Menschen gar kein anderes Thema mehr zu geben scheint als die durch die unkontrollierte Massenmigration hervorgerufene Kriminalitätssteigerung und die Angst vor einer weiteren Ausbreitung des politischen Islam.

Auch mit seiner Äußerung, dass ihm nach der Diskussion mit Tellkamp die tiefe Spaltung in Deutschland bewusst geworden ist („Die einen bedauern dies und sind der täglich sich ausweitenden Spannungen müde“, andere aber „begrüßen die Spaltung und versprechen sich vom offenen Streit eine reinigende Wirkung“) erinnert er mich sehr an die einstigen Bannerträger des Sozialismus, welche die wankende DDR dadurch zu stabilisieren suchten, indem sie der Bevölkerung erzählten, dass jetzt aber nun wirklich genug demonstriert sei, die Regierung habe die Botschaft vernommen und verstanden, aber jetzt sei es Zeit, die Straßen wieder freizugeben und in einen konstruktiven Dialog mit der Partei- und Staatsführung zu treten. 

Aber so ist das halt in einer lebendigen Demokratie, Herr Grünbein. Die Anti-AKW-Bewegung hat sich vom offenen Streit eine Änderung der Politik versprochen, genauso wie die gegen die Nachrüstung protestierende Friedensbewegung und viele andere linke Organisationen. „Kohl muss weg!“ war in den Neunzigern ein gängiger Slogan bei Demonstrationen, ohne dass Journalisten auf den Gedanken gekommen wären, düster und unheilvoll darüber zu raunen, dass dieses „muss weg“ nicht die Forderung nach Rücktritt meint, sondern in Wahrheit etwas ganz ganz anderes.

Und heute nehmen wir Andersdenkenden uns eben das Recht heraus, „Merkel muss weg“ zu rufen und unser Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit wahrzunehmen, um sichere Grenzen und die Einhaltung von Recht und Ordnung zu fordern, auch wenn ihr uns diese verfassungsmäßigen Rechte – oft mit Gewalt und Nötigung – zu verwehren sucht, und ihr diesen Protest mit ähnlichen Methoden zu delegitimieren versucht, die im Herbst 89 die DDR-Führung anwandte, um die Dissidentenszene wieder klein zu kriegen. Denn Demokratie bedeutet eben nicht, dass automatisch das passiert, was die selbsternannten Fortschrittlichen für richtig halten, und es das Ende der Demokratie bedeutet, wenn ein anderer Kurs eingeschlagen wird, den man jederzeit bei wechselnden Mehrheitsverhältnissen auch wieder korrigieren kann. 

Ich bin die Nebelwolken leid

Ich persönlich unterstütze in der Flüchtlingspolitik den Kurs der Osteuropäer und Österreicher, den unsere veröffentlichte Meinung als undemokratisch geißelt, und wünsche mir denselben Kurs für mein eigenes Land. Denn was genau ist an der Haltung dieser Länder undemokratisch? Es gibt in Europa die einen, die wollen alle Grenzen einreißen, die Nationalstaaten abschaffen und es gibt die anderen, die das ablehnen und ihre Identität und Kultur erhalten wollen. Für mich bedeutet Demokratie, die Optionen und den Weg klar zu benennen und sie dem Wähler zur Entscheidung vorzulegen. Und genau das geschieht nicht in Europa, wo eine kleine Elite alles hinter Nebelwolken verschwinden lässt, bis sie ihren Willen hat, wie es selbst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit bemerkenswertem Stolz zugab:

"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt" und „Wenn es Ernst wird, muss man lügen!“

Ist dies tatsächlich eure Vorstellung von der „liberalen Demokratie“, liebe Gutmeinenden? Dass diejenigen, die über die tieferen Einsichten und das größere Herz verfügen (also ihr), die einfach gestrickten Leute (also uns) an die Hand nehmen und ab und zu etwas flunkern müssen, um das Boot auf dem Kurs zu halten, den sie für den richtigen halten? Damit wir uns nicht unseren niedersten Trieben hingeben? 

Denn wenn ja, dann hoffe ich tatsächlich, dass diese in den letzten Jahren eingerissene, sehr spezielle Sorte „Demokratie“ tatsächlich an ihr Ende kommt, denn, um ein Zitat von Stefan Heym aus dem Winter 89 abzuwandeln: Für mich und sehr viele andere ist es momentan, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der geistigen und politischen Stagnation, den Jahren von Phrasengewäsch, von amtlicher Blindheit und Taubheit! Denn in unseren Augen benehmt ihr euch, als wolltet ihr ein legendäres Zitat („in order to protect the village we had to destroy it“) eines US-Offiziers aus dem Vietnam-Krieg abwandeln: „In order to protect democracy we have to destroy it“

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Johannes Langen / 19.03.2018

Vielen Danken für diesen Essay. Ich bin etwas jünger, aber auch aus den neuen Ländern. Jahrgang 1984. Ich erinnere mich auch noch sehr gut, wie mein Vater jeden Sonntag nach Hamburg auf Montage fuhr, und Donnerstagabend wieder zurück war. Diese abfällige Gerede über Ostdeutsche ertrage ich nicht mehr. Da wird über den Soli gemeckert, als wenn Ostdeutsche diesen nie gezahlt hätten. Haben sie auch gezahlt. Selbst Spätaussiedler, die das Glück hatten, in den alten Ländern zu landen, meckern so rum.  Dann wird auch noch so getan, wie dumm und fremdenfeindlich vor allem die Sachsen wären. Da ich in Sachsen studiert habe, kann ich das nicht bestätigen. Meine sächsichen Kommilitonen waren alle nicht auf den Kopf gefallen, hatten eine gute Schulbildung. Die hatte ich auch mit meinem Meck-Pomm-Abitur, weil die Roten da noch nicht so viel drehen konnten und noch Lehrer vom alten Schlag unterrichten, d.h. Lehrer die in der DDR mit einem hohen Interesse ihre Disziplinen studierten und in den 90er Jahren froh waren, die ideologischen Ballast nicht mehr mittragen zu müssen. Jetzt kommt neuer ideologischer Ballast. Die Ostdeutschen als Zuwanderer zu verunglimpfen, ist auch schon ein starkes Stück. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Horden ostdeutscher junger Männer am Kölner Hbf eintrafen und… Sie wissen schon.  Oder dass Messerstechereien zunahmen.  Auch die Sprachprobleme haben wir nicht. Man wird zwar in Nordwestdeutschland seltsam angeschaut, dass man “dreiviertelzehn” zu 9:45 Uhr sagt, als wäre das “Ostdeutsch”, aber sowas wie “Ostdeutsch” gibt es nicht. So die Zeit zu anzusagen, ist in Preußen, Sachsen, aber auch in Bayern und Franken so üblich. Und von solchen Leuten, die tatsächlich noch eine Mauer im Kopf haben, wird uns heute vom höchsten moralischen Ross herunter, die große Welt erklärt.

Helmut Driesel / 19.03.2018

Gratulation, sehr verehrter Herr Ackner, Sie haben es genau getroffen. Das Künstlerdasein, Literaten, Maler, Musiker, Lyriker und sogar die Artisten und Schauspielkunst war in der DDR ein Leben im Wohlwollen des Staates und seiner herrschenden Ideologie. Und genau so ist es auch heute. Und ich halte das auch für legitim. Die Dissonanzen entstehen dadurch, dass ich einige dessen nicht bewusst sein wollen oder sich ganz und gar für Auserwählte halten. In der DDR gab es einige, die meinten, sie hätte ihre Lebensleistung zum Gemeinnutz als Widerständler im vorherigen Zeitalter erfüllt, solchen Argumenten konnte man sehr schwer widersprechen. Andere meinten und sehen das auch heute so, ihre Leistung in geistigen und intellektuellen Sphären sei von Normalsterblichen gar nicht zu ermessen. Es sei daher dreist, sie des Schmarotzertums zu beschuldigen. So denken auch Absolventen der Theologie. Deswegen ist eine Nähe dieses Selbstverständnisses der Künstler (auch der Sportler) zur Theologie gar nicht abwegig. Aber es gibt auch Unterschiede, zum Beispiel haben wir keine Arbeitspflicht heute. Was nichts anderes bedeutet, als jeder darf sich nach seinen Fähigkeiten vor jeder Tätigkeit drücken, die er nicht ausüben möchte. Das hört sich etwas komisch an, nicht wahr. Aber das ist Status quo. Sozusagen ein fest gewachsener Bestandteil der freien und offenen Gesellschaft. Wenn Intellektuelle das besonders gut hinkriegen, das ist nun wirklich kein Zufall. Aber offene Gesellschaft bedeutet ja auch, dass es jederzeit Mehrheiten geben darf, die etwas ganz anderes wollen. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Ackner, und atmen Sie möglichst beim Schweißen nichts ein, was im Alter krank oder depressiv machen könnte.

Maja Schneider / 19.03.2018

Ihre Gedanken, lieber Herr Ackner,  haben mich sehr beeindruckt, sprechen sie doch genau die Überlegungen an, die inzwischen eine immer größer werdende Zahl von Menschen dieses Landes beschäftigen. Nur fehlt es noch an Mut, sie auch offener zu artikulieren und zu diskutieren. Der in den MSM so einseitig dargestellte Streit um Tellmann hat offensichtlich doch einiges bewirkt und viele dazu gebracht, sich auch in anderen Medien zu informieren und sich ein ganz anderes Urteil zu bilden, so ist zumindest der Eindruck in meinem Umfeld.

Rolf Menzen / 19.03.2018

Herr Grünbein hätte sicherlich bei Honni auch Karriere gemacht. Er hätte, was ihm wohl nicht schwer gefallen wäre, seine Gedichte entsprechend angepasst und wäre Reisekader gewesen.

Thorsten Helbing / 19.03.2018

Ich bin Jemand von dem viele Bürger in diesem Lande sagen würden: “Es geht dir doch gut, was willst du eigentlich?”. Das stimmt, oberflächlich gesehen. Finanziell komme ich monatlich gut über die Runden, wenn auch als Alleinstehender mit der zugehörigen Steuerklasse und dem gern gezahlten Kindesunterhalt am Ende des Monats nichts übrig bleibt. Ich könnte mich einschränken, aber wozu? Der Laden fliegt eh bald auseinander und uns um die Ohren. Aber das ist ein anderes Thema. Deshalb zurück zu Ihnen, werter Herr Ackner. Sie haben so recht! Ich kann diese Belehrungen von weltfremden Politikern, welche nie in “Arbeit” standen, welche nie abends mit dem Hund durch den Park gingen und kalte Schauer über den Rücken liefen aufgrund von Ansammlungen “südländisch aussehender Menschen”, dafür war der Hund zu klein. Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit - Du hast zu zahlen und die Klappe zu halten, während Ahmad aus Pinneberg an der dritten Ehefrau und dem 8. Kind arbeitet - genau, das ist die “Arbeit” welche ihm zugemutet wird, sonst braucht er nichts leisten für diese Gesellschaft, diese Ungerechtigkeit, der Verlust meiner persönlichen Sicherheit und dann auch noch diesen ganzen Irrsinn finanzieren zu “müssen”. Aber halt, “müssen” wir das? Ich bin mittlerweile soweit zu sagen, ich zitiere den sächsischen König Friedrich August III: “Nu da machd doch eiern Drägg alleene!”!

Hubert Sailer / 19.03.2018

Werter Herr Ackner, ich folge Ihren Ausführungen immer mit großem Interesse. Heute allerdings übertreffen Sie sich selbst. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Brillianter Artikel.

Klaus Reichert / 19.03.2018

Ein guter Text. Das harte Leben für viele “Ossis” nach der Wende hat im Westen kaum je Beachtung gefunden. Ich selbst bekomme mit, wie die vielen Handwerker aus Thüringen und anderswo als Wochenendheimfahrer hier auf den Baustellen des boomenden Rhein - Main Gebietes schuften und unter der Woche in ihren Wohnwagen oder zu viert, zu sechst in angemieteten Wohnungen übernachten. Viele kommen Freitag nach Mitternacht heim und sind Montags um drei Uhr morgens schon wieder auf der Autobahn. Auch habe ich mit zahlreiche Kollegen aus dem Osten im Bereich Physiker, Ingenieure und Kaufleute zu tun, die ich alle positiv erlebt habe. Ist es ein Vorurteil zu sagen, dass die Ostdeutschen weniger Ellbogenmentalität besitzen und nur dann reden, wenn sie etwas zu sagen haben? So ähnlich wie die Slowaken, Polen und andere Osteuropäer, mit denen ich auch zu tun habe. Zur Migrationspolitik: Nicht nur Österreich und Osteuropa, auch Frankreich ist auf der gleichen Linie. Macron bewegt sich bis an die Grenze der diplomatischen Höflichkeit, wenn er Merkel Bewunderung ausspricht für ihre großherzige Geste des Jahres 2015 und im gleichen Atemzug den engen Schulterschluss mit Österreich in der Migrationspolitik betont, außerdem sagt, dass hunderttausend Flüchtlinge pro Jahr zu viel für Frankreich sind. Und während Merkel in Libyen von unserer Schuld gegenüber Afrika schwadroniert und Libyen auffordert, die NGOs auf dem Mittelmeer nicht zu behindern, redet Macron vom Kinderreichtum als Hauptursache für die Migration und von Rückführung aus Libyen in die Heimatländer. Wir sind isoliert.

Eberhard Knechtel / 19.03.2018

Danke für Ihren Beitrag. Und Ihnen weiterhin viel Kraft für Ihren Weg.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Wolfram Ackner / 27.01.2024 / 06:15 / 110

Wie mich der Haltungssport aus dem Stadion vertrieb

Fußball war lange Teil meines Lebens. Heute nicht mehr. Für mich ist nicht die AfD die größte Bedrohung der Demokratie – sondern öffentlicher Bekenntniszwang und grüner…/ mehr

Wolfram Ackner / 16.07.2022 / 06:15 / 126

Ich habe einen Traum (nicht den von Milla)

Der Autor und Schweißer Wolfram Ackner über das Gesellschaftsbild der Grünenpolitikerin Emilia Fester, seine eigene Vision – und seinen Plan B, falls das grüne Paradies…/ mehr

Wolfram Ackner / 07.02.2022 / 10:00 / 69

„Es sind die gleichen Leute wie damals“

Der Autor gehörte 1989 zu den Leipziger Demonstranten. Heute geht er wieder auf die Straße. Er schreibt über die Ähnlichkeiten und Unterschiede des Protests von damals und…/ mehr

Wolfram Ackner / 19.09.2021 / 06:25 / 84

Die magische Kraft der Armbinde

Warum gibt es so viele Freunde des Ausnahmezustands? Er macht Leute wichtig, die es sonst nicht wären. Deutschland hat darin mehr Übung als andere Länder,…/ mehr

Wolfram Ackner / 05.07.2020 / 06:22 / 85

Ab heute korrekt gegenderte Texte mit Erkenntnis-Mehrwert

Mein Meinungsbeitrag „Ein Schweißer im Schneeflocken-Kombinat“ hat mir sehr viel Zuspruch, aber gerade in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke auch einiges an Kritik eingetragen. Dass…/ mehr

Wolfram Ackner / 25.11.2019 / 16:57 / 94

Ein Gleichnis zum Dresdener Raubzug

Dieser Raubzug durch das Grüne Gewölbe in Dresden, der einfach nur passiv hinnehmend beobachtet wurde, ist für mich persönlich eines der schmerzhaftesten Erlebnisse meines Lebens.…/ mehr

Wolfram Ackner / 09.05.2019 / 12:30 / 85

Neue Nationalhymne: „Schni schna schnappi, überschnappi schnapp!“

Wie heute morgen alle Medien unisono verkünden, hat sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow für eine neue Nationalhymne ausgesprochen, weil er „das Bild der Naziaufmärsche von…/ mehr

Wolfram Ackner / 20.01.2019 / 06:00 / 12

Interview im Weltraum

Von Claas R. (mit Hilfe von Wolfram Ackner) „Kosmopolit“ – das wollten die meisten Heranwachsenden in jenem kleinen bayrischen Bergdorf sein, in welchem ich zusammen mit meinen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com