Norbert Bolz, Gastautor / 03.10.2021 / 16:00 / Foto: Tomaschoff / 18 / Seite ausdrucken

Wokeness – die Tyrannei der Wehleidigen

Die Champions der Wokeness sind überempfindlich und jederzeit zur Empörung bereit, egal wie lächerlich sie sich damit machen. Das ist nichts anderes als die Psychologie verwöhnter, reicher Kinder.

Seit es kein Proletariat mehr gibt, sind die Linken auf der Suche nach den Erniedrigten und Beleidigten. Die „woke“ Jugend hat sie nun gefunden, nämlich sich selbst. Dazu muss man nur lernen, ein Opfer zu sein. Der Opferstatus verleiht in unserer Gesellschaft nämlich die Vorteile einer positiven Diskriminierung. Und es ist natürlich viel bequemer, zu jammern, als sich selbst zu behaupten. Ich fühle mich diskriminiert, ich bin verletzt, ich klage an, ich fordere Wiedergutmachung – oder doch wenigstens Aufmerksamkeit.

Auch wenn es ein Recht gäbe, nicht seelisch verletzt, beleidigt oder gekränkt zu werden, müsste man doch fragen: Wer definiert, was verletzt? Woke bedeutet in diesem Zusammenhang: Nur der Betroffene selbst kann entscheiden, ob er diskriminiert oder verletzt worden ist. Das ist aber nichts anderes als die Psychologie verwöhnter, reicher Kinder. Sie sind „erwacht“ und müssen deshalb nicht erwachsen werden. Gepflegt werden sie von unseren Bildungsanstalten, die hypersensible Analphabeten produzieren. Sie haben ihre Angst, verletzt zu werden, bis zur Hypochondrie gesteigert. Dass diese „woke“ Überempfindlichkeit allmählich in unsere Alltagskultur eindringt, bedeutet wohl, dass die westliche Gesellschaft Hysterie nicht mehr als pathologisch, sondern als normal einstuft.

So hat sich eine Tyrannei der Wehleidigen etabliert, die ihre Aggressivität als Notwehr verkaufen wollen. Sie sind zugleich frustriert und empfindlich. Das ist eine gefährliche Mischung, die die Gefühle vergiftet. Man könnte analog zu „fake news“ von „fake emotions“ sprechen. Das „Erkenne dich selbst“ wird durch ein „Inszeniere dich selbst“ ersetzt. Jeder soll sich in seiner Haut wohlfühlen und nicht an Maßstäben gemessen werden. Was heute am meisten fehlt, ist das, was Flaubert die Erziehung des Gefühls genannt hat.

Und wie Gefühlsintensität die Vernunft ersetzt, so ersetzt Identität die Ideologie. Die Identitätspolitik der „woken“ Aktivisten erzeugt jedoch nicht Selbstbewusstsein, sondern Hass, Wut und Selbstmitleid. Wir haben es hier mit einem Prozess der Entsublimierung zu tun, an dessen Ende auf jeden Weltsachverhalt empört und beleidigt reagiert wird. Moralisch indigniert zu sein, ist aber die Würde der Dummköpfe. Sie genießen das Lustgefühl der moralischen Empörung. Und das gilt gerade auch für diejenigen, die sich in Bußritualen und Selbstgeißelungen ergehen. Hier gilt nämlich die großartige Erkenntnis von Manès Sperber, „dass die Selbstanklage Rechtfertigung, Freispruch und unausgesprochenes Selbstlob verhüllt.“ 

Wiederentdeckung der Erbsünde

Wer sich noch gesunden Menschenverstand bewahrt hat, wird versucht sein, all das ironisch zu kommentieren. Doch in der „Wokeness“ hat es die Politische Korrektheit geschafft, unparodierbar zu werden. Durch ihre Allgegenwart und inquisitorische Macht verhindert sie es, als das zu erscheinen, was sie ist: lächerlich. Hinter dem Anspruch, gefühlsmäßig authentisch und für das Gute in der Welt engagiert zu sein, steckt nur die Unfähigkeit zur Debatte. Viele „woke“ Aktivisten fühlen sich nämlich durch logisches Denken intellektuell belästigt. Weil es zu anstrengend ist, zu denken und zu diskutieren, bezieht man Position und zeigt Haltung.

Wir haben es hier mit einer Ethik der Tabus und der Kontaktschuld zu tun. Tabuiert werden bestimmte Gedanken nicht, weil sie falsch sind, sondern weil es unakzeptabel ist, dass man sie denkt. Die „woke“ Linke reagiert auf jede abweichende Meinung mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Guten. Ihre Medien werden zum Pranger, und an die Stelle der Kritik tritt das Canceln. Dabei ist die Umkehr der Beweislast fast schon selbstverständlich geworden: Die Beschuldigung, Sexist oder Rassist zu sein, gilt selbst als Schuldbeweis.

Die Erwachten klagen gegen alle Übel dieser Welt: Sexismus, Rassismus, Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit. Aber sie drängen uns auch Heilmittel auf, wie etwa die Identitätspolitik und das Gendern. Man muss wohl glauben, dass irgendwie alles mit allem zusammenhängt – und das nennt man heute „Intersektionalität“. Die Champions der Wokeness akkumulieren ihre Leiden. Tatsächlich aber haben diese Themen einen gemeinsamen Nenner: Man identifiziert sich mit den Verlierern der Geschichte und erklärt der Vergangenheit den Krieg. Das setzt einerseits Alltoleranz voraus, also eine sterile Vorurteilslosigkeit, die aus der Unfähigkeit resultiert, Unterschiede zu sehen. Und es setzt andererseits eine konkrete Verkörperung des Bösen voraus: den alten, weißen Mann. Man könnte von einer Wiederentdeckung der Erbsünde reden. Die Welt zerfällt in Weiße und ihre Opfer.

Politik und Wirtschaft, die dem Zeitgeist den Puls fühlen, haben sich schon angepasst. Nach dem Greenwashing kommt jetzt das Woke-Washing. Doch die Wut der Minderheiten und selbsterklärten Opfergruppen wächst, gerade weil unsere Gesellschaft sie so großzügig und tolerant behandelt. Konservative und Liberale haben deshalb die schwierige Aufgabe, die Subkultur der Vernunft gegen die „woken“ Taliban der Postmoderne zu verteidigen.

Foto: Tomaschoff

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B.Kroeger / 03.10.2021

Leider reagiert inzwischen nicht nur die woke Linke auf jede abweichende Meinung mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft der selbsternannten Guten.  Inzwischen haben sich sehr viele bürgerliche Parteien diesem Diskussionsverbot angeschlossen. Mit dem rede ich nicht, mit dem zusammen darf ich nicht mal einen Kaffee trinken, usw.  Das Woke System der uneingeschränkten Selbstgerechtigkeit hat sich zum Cancel -Sytem entwickelt und merkt dabei nicht, wem es da nacheifert. Es war kein Demokrat, der verkündete: “Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein.”

H.-D. Johann / 03.10.2021

Bravo, auf den Punkt gebracht!

Patricia Steinkirchner / 03.10.2021

Wie wahr. Genauso ist es. Unerträglich.

Rolf Mainz / 03.10.2021

Am Wochenende fielen mir Aufkleber ins Auge, welche von “Wokies” (über einen zugefügten Hashtag auf die “üblichen Verdächtigen” aus dem rot-grünen Milieu verweisend) auf öffentlichen Hinweisschildern unseres Ortes angebracht worden waren. Es ging um das beliebte “Gender”-Thema, sprich: die vermeintliche Unterdrückung von Frauen (und “Diversen”) durch Nennung nur der männlichen Form. Und so wurde jedes (vermeintliche) männlichen Nomen mit einem Aufkleber namens “*Innen” ergänzt. Tja - sogar das Wort “Mitglieder” (also “Mitglieder*Innen”)... Nun dürfte der Wortbestandteil “Glieder” bereits zu Erregung der vermutlich weiblichen “Klebenden” geführt haben (in der einen oder anderen Ausprägung) - oder wie sonst könnte man(!) sich erklären, dass die Damen dabei übersahen, dass “Mitglied” meines Wissens gar nicht männlicher, sondern neutraler Form ist? By the way: die weibliche Form von Dummkopf heisst wie gegendert?

Petra Wilhelmi / 03.10.2021

Unterschätzt niemals die Feindseligkeit derjenigen, die die Empörung zu einer Tugend gemacht haben. (Dragon Age Inquisition) Ich denke, dass dieser Ausspruch unsere heutige Zeit gut skizziert.

Frank Holdergrün / 03.10.2021

Jeder Satz ein Genuss! Die woken Taliban fahren alles in Stellung, um ihre dümmliche Wut (auf sich selbst) ganz auszuleben, ihr Wahnsinn kennt keine Grenzen mehr. “Die Champions der Wokeness akkumulieren ihre Leiden.” Schuld ist immer der Weiße… Wenn man Kindern den kleinen Finger gibt… Langsam begreife ich, warum es früher Kriege gab. Jetzt bauen sie stattdessen den Bürgerkrieg von innen her auf.  Grün sozialistische Voll- und Rundumversager. Auch in Richtung des wirklichen Feindes: „Wie kann man das Schweigen und die Ignoranz der Intellektuellen erklären? Die massive Gewalt des Jihad hat die Psychologie des „missbrauchten Kindes“ zur Folge. Intellektuelle fürchten sich vor den islamischen Vergewaltigern, sie entschuldigen und besänftigen sie und  ignorieren die Gewalt der Vergangenheit. Dann drehen sie sich um und beraten unsere Politiker. Das Resultat ist eine ignorante Bevölkerung welche sich an die Intellektuellen wendet um informiert zu werden. Man tischt ihnen jedoch nur Verrat und Lügen auf.“ (Dr. Bill Warner)

Frank Gausmann / 03.10.2021

Wow, in wenigen Zeilen den gesamten Wokeness-Hokuspokus und seine psycho-sozialen Hintergründe zusammengefasst. Ich hoffe, möglichst viele Menschen bekommen diese Zeilen zu Gesicht - ein Textchen wie ein Hammerschlag ins Tal der Selbstmitleidigen.

Klaus Keller / 03.10.2021

Nur der Betroffene selbst kann entscheiden, ob er diskriminiert oder verletzt worden ist. Ja natürlich. Und man kann die Frage stellen ob mit Absicht verletzt wurde. Gerichte fragen vernünftiger Weise nach der schwere der Schuld: Vorsatz, fahrlässig etc und daran orientiert sich das Strafmaß bei rechtswidrigem Handeln. - Wer ein dickes Fell hat (oder blöd ist) lässt sich mehrmals täglich beleidigen und nach Strich und Faden durch den Kakao ziehen ohne das es scheinbar stört und er wählt weiterhin die Partei die genau das mit Ihm tut. Das jemand der nicht verletzt werden will auf die Idee kommt eher Linke Parteien zu wählen ist m.E. das merkwürdige. Als ob die nicht einen dicken Katalog von Leuten hätte die diskriminiert werden sollen! Die Ermutigung sein Leben selbst in die Hand zu nehmen kommt von dort ja nicht. Konservative haben m.E. auch die Aufgabe den Linken nicht die Leute zu überlassen die diese Ermutigung benötigen.

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