Bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 traten die beiden großen Parteienblöcke zum ersten Mal mit „Spitzenkandidaten“ an. Für die Europäische Volkspartei, das Bündnis der Konservativen und Christdemokraten, war es Jean-Claude Juncker, der langjährige Vorsitzende der Euro-Zone innerhalb der EU, für die Sozialdemokraten und Sozialisten Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments. Zwei Spitzenfunktionäre der EU, einander, wie sie immer wieder betonten, in tiefer Freundschaft zugetan.
Dabei machte sich Juncker nicht einmal die Mühe, für ein Abgeordnetenmandat zu kandidieren, er wollte gleich Präsident der Kommission werden. In der Schlussphase des Wahlkampfes, der etwa so kontrovers geführt wurde wie eine Runde Schattenboxen, konnte man auf den Wahlplakaten der SPD den Satz lesen: „Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden.“
Dann wurde es aber doch Juncker, was der tiefen Freundschaft der beiden Männer keinen Abbruch tat. Schulz blieb Präsident des Parlaments, bis Anfang dieses Jahres. Und erst als klar wurde, dass er keine Chance hatte, zum dritten Mal in dieses Amt gewählt zu werden, beschloss der tapfere Sozialdemokrat, „nach Berlin zu gehen“, um dort weiter zu wirken. Und so kam es, dass die unter einem Mangel an charismatischen Persönlichkeiten leidende SPD ihn bald darauf einstimmig zu ihrem Vorsitzenden wählte und als Kanzlerkandidaten nominierte. Worauf die Umfragewerte für die SPD in die Höhe schossen. Ein „Schulz-Hype“ brach aus, als stünde die Ankunft des Messias unmittelbar bevor.
Inzwischen hat sich die Lage wieder beruhigt. Schulz steht heute da, wo er gestartet ist: Weit hinter Merkel. Seine Chancen, ihre Nachfolge im Kanzleramt anzutreten, schmelzen dahin wie ein Stück Eis in der Sonne. Aber das muss nicht das Ende der politischen Karriere von Schulz bedeuten. Wie "Die Welt" berichtet, arbeitet Schulz bereits an einem „Comeback nach Brüssel“. Er möchte seinen Freund Jean-Claude Juncker beerben, der bei der nächsten Wahl im Jahre 2019 nicht mehr kandidieren will. Bis dahin kann noch viel zwischen Berlin und Brüssel passieren. Aber egal, wie die Wahlen ausgehen, irgendein Platz an der Sonne für Schulz wird sich bestimmt finden.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche