Lässt man die letzten Monate seit dem Einbrechen der Flüchtlingskrise in den deutschen Alltag Revue passieren, erscheint ein merkwürdiges Bild. Die Bundeskanzlerin, die immerhin dem größten und reichsten und deswegen vielleicht auch mächtigsten Land Europas vorsteht, weigert sich mit einem für sie typischen Beharrungsvermögen, irgendeine Entscheidung zu treffen.
Aber die Bundeskanzlerin hat die Grenzen doch geöffnet. Nein, seit Schengen sind sie offen. Angela Merkel weigert sich ja nur, an dem Status Quo etwas zu ändern. Angela Merkel hat aber die Menschen eingeladen, nach Deutschland zu kommen. Wo denn? Nein, eine direkt ausgesprochene Einladung, die man als Entscheidung werten könnte, hat sie nie ausgesprochen.
Dafür verfolgt Frau Merkel aber entschieden eine Lösung des Problems! Nun, die ihr vorschwebende Lösung ist ja eine, bei der die anderen EU-Länder und die Türkei aktiv werden sollen, so dass Merkels Unentschiedenheit wie eine politische Strategie aussieht. So sind es dankenswerterweise die Österreicher gewesen, die mit der Balkankonferenz das Ende des Einströmens weiterer Flüchtlinge nach Deutschland erreicht haben. Unter Protest der deutschen Regierung, die noch nicht einmal zur Konferenz geladen war.
Das Absurde: die von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen so dringend gewünschte Verschnaufpause bei der Flüchtlingsaufnahme wird gegen den erklärten Willen der Kanzlerin erreicht. Warum bloß? Weil es eine Entschiedenheit dazu brauchte, die mit der Übernahme von Verantwortung einhergeht. Das lehnt Angela Merkel jedoch ab.
Woher kommt dann aber das Unbeirrbare der Kanzlerin? Was ist ihr Kompass? Bereits in der ersten inoffiziellen Regierungserklärung der Kanzlerin zur Flüchtlingskrise bei Anne Will am 7. Oktober 2015 sprach sie einen Satz, der exemplarisch für ihren Politikstil steht. Der Satz ist etwas untergegangen, weil er wenig spektakulär anmutet. „Dort (in der Ukraine) haben wir zum Beispiel uns auch für den Frieden und für den Waffenstillstand eingesetzt, um nicht noch mehr Flüchtlinge zu haben, und genauso werden wir uns jetzt bei anderen Konflikten vermehrt einsetzen, wo wir bisher dachten: Fernseher eingeschaltet, Syrienkonflikt, es wird sich schon jemand drum kümmern und wir uns nicht so gekümmert haben.“ (Minute 38)
Merkels Politik findet im Fernsehen statt
Die Aussage zum Ukraine-Konflikt - die schlichtweg eine Lüge ist, denn in der Ukraine ging es nie vornehmlich um die Reduzierung von Flüchtlingszahlen - lassen wir beiseite. Viel entlarvender ist das Folgende: Frau Merkel schaltet den Fernseher ein, es kommt der Syrienkonflikt und sie denkt, dass sich schon jemand darum kümmern werde. Damit erklärt sie den Umstand, warum sich Deutschland bisher nicht so um den Syrienkonflikt gekümmert habe. Außenminister, Geheimdienste, Verbündete, politische Strategien? Fehlanzeige. Sie schaltet den Fernseher an und schaut sich die Bilder an. Sind sie weit weg, wird sich schon jemand anderes darum kümmern.
Sie weist damit auf eine Funktionsweise ihrer Regentschaft hin, die sie zur Perfektion getrieben hat: Herrschaft in Zeiten der Massenmedien kann sich alles erlauben und untätig bleiben, solange keine hässlichen Bilder zu verantworten sind. Giftgas-Tote in Aleppo? Weit weg, da kümmern sich andere drum. Jedoch ein palästinensisches Mädchen, das von Frau Merkel zum Weinen gebracht wird? Der Horror! Ein an den Strand gespültes Flüchtlingsbaby? Das Symbol der europäischen Schande! Deutsche Bundespolizei, die mit Gewalt grenzüberschreitende Eindringlinge bekämpft? Das wäre der Super-Gau! Deutsche Tornados, die Bomben werfen? Dann wäre ja Krieg!
Das einzige Ziel Merkelscher Politik war und ist es, hässliche Bilder zu vermeiden, um die eigene weiße Weste nicht zu beschmutzen. Je konsequenter die Bilder-Vermeidungsstrategie angewendet wurde, desto beliebter wurde sie bei den Deutschen. Aber: wer sich der Macht der Bilder vollständig unterwirft, betreibt keine Politik mehr, sondern lässt sich von den Bildermachern kidnappen. Auf einmal sind es nicht mehr die vom Volk Gewählten, die Ziele und Strategien vorgeben, auf einmal ist es ein medialer Erregungskomplex, der die Politiker vor sich hertreibt.
Angela Merkel ist die erste Bundeskanzlerin, die nicht mehr den Mut aufbringt, sich gegen hässliche Bilder zu stellen. Vor ihr haben die Kanzler auf hässliche Bilder reagiert - das ist das Spiel von Machterhalt und Populismus -, aber ihre Ziele nicht aus den Augen verloren - das ist eben die politische Agenda. Ganz oben auf Frau Merkels politischer Agenda steht jedoch: die hässlichen Bilder um jeden Preis zu vermeiden. Und wenn sie nicht zu vermeiden sind, die Verantwortung für sie zu leugnen. Diesem Ziel ordnet sie alles unter, denn es ist der wichtigste Garant ihrer Machterhaltung. Und sie weiß leider eine Gesellschaft hinter sich, die alles dafür täte, an hässlichen Bildern nicht die Verantwortung tragen zu müssen.
Ein freundliches Gesicht ist etwas anderes als Freundlichkeit
Die Ziel- und Inhaltslosigkeit der Merkelschen Politik, ihre Beliebigkeit, aber auch ihr fast suizidaler Starrsinn bei offenkundig falschen Nicht-Entscheidungen rühren von diesem hässliche-Bilder-Vermeidungsgebot, das über allem steht. Neben dem „wir schaffen das“ wird von der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise noch das geflügelte Wort des „freundlichen Gesichts“ übrig bleiben. Interessant an dieser Formulierung: Angela Merkel geht es um das Gesicht. Also um ein Bild. Nicht um Freundlichkeit. Wem es um Freundlichkeit und Humanität ginge, der würde niemals eine derartige Formulierung wählen.
Wie trügerisch und gefährlich diese Politik des freundlichen Gesichts und der hübschen Bilder ist, schlug Angela Merkel bei ihren Kanzlerinnen-Selfies entgegen. Die Macht der hässlichen Bilder hat Frau Merkel politisch einzuschätzen gelernt und ihren Kurs danach ausgerichtet. Ihre Deutschen kennt sie halt. Über die unkontrollierbare Macht der freundlichen Bilder wird sie wohl selbst überrascht gewesen sein. Der Nahe Osten und Afrika ticken halt anders. Es sind aber genau diese Kanzlerinnen-Selfies, die in Merkels „Neuland“ der digitalen Medien millionenfach geteilt und geliked wurden und ihre mächtige Wirkung entfalteten, indem sie den Flüchtlingsstrom erst recht anheizten.
Warum das alles erst jetzt mit dieser Deutlichkeit in Erscheinung tritt? Bisher konnte man mit Wohlwollen der Kanzlerin noch unterstellen, dass es ihr um den Frieden in Europa und den Erhalt der EU ging, zu dessen Sicherung sie das größte und reichste Land der EU als Pfand in die Waagschale warf. Oder auch, dass es ihr um das Wohl der Flüchtlinge gegangen war, für das sie das Wohl und den Frieden ihrer eigenen Bevölkerung zu schmälern bereit war.
Selbst die wohlwollendsten Annahmen stellen sich jedoch jetzt als Trug heraus. Als der österreichische Kanzler Werner Faymann der deutschen Regierung vor wenigen Tagen vorschlug, Flüchtlingskontingente in den Lagern der Türkei, Griechenlands oder Jordaniens selbst abzuholen, musste man nach der bisherigen Merkel-Moral mit einer positiven Reaktion der Bundesregierung rechnen. Man hätte die ins Land kommenden Flüchtlinge zahlenmäßig unter Kontrolle, würde der Schlepperindustrie einen schweren Schlag versetzen und allen Hoffnungslosen ein deutliches Zeichen der Hoffnung senden. Zudem könnte man im Vorfeld die Bedürftigen von den Glücksrittern gut trennen, ohne sie zuerst alle ins Land lassen zu müssen.
Nur Nichthandeln verhindert hässliche Bilder
Stattdessen kam schroffe Ablehnung und der fast süffisante Rat der Bundeskanzlerin an die Gestrandeten, dass es „Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten auch in Griechenland“ gebe. War das also doch das Einlenken in der Flüchtlingskrise, das so viele von Angela Merkel verlangt hatten? Nein, Angela Merkel setzt ihren Kurs der Nicht-Entscheidungen unbeirrt fort. Denn es geht ihr nicht um die Flüchtlinge. Es geht ihr nicht um Europa. Das einzige Ziel, das die Bundeskanzlerin kennt, ist, dass sie keine Verantwortung übernehmen muss.
Jetzt kommen die Bilder von der mazedonischen Grenze. Ihr doch egal. Die hat sie ja nicht zu verantworten. Deutschland hat für die Flüchtlinge seine Schuldigkeit getan. Dann aber wäre es ehrlicher gewesen, Obergrenzen zu benennen und die Deutschen darüber aufzuklären, wie weit ihre Schuldigkeit zu reichen hat. Aber dem verweigert sich Angela Merkel, müsste sie doch vom allgemeinen "wir schaffen das" ins konkrete Benennen dessen hinabsteigen, was denn genau zu schaffen sei.
Für diese inhaltslose Unentschiedenheit haben die Deutschen Angela Merkel seit mehr als 10 Jahren geliebt und gewählt. Durch Nichtstun konnte die Sehnsucht der Deutschen, die alternativlos Guten und Besseren zu sein, gestillt werden. In Zeiten einer so mächtigen Krise zeigt sich jedoch, dass der allgemein von den deutschen Eliten befeuerte Wiedergutwerdungswunsch innergesellschaftlich auf immer größeren Widerstand trifft.
Jetzt also übernimmt Mazedonien an der Außengrenze zu Griechenland die Drecksarbeit für die Deutschen, während sich Angela Merkel stellvertretend für ihr Volk in ihrem guten Gewissen sonnen kann. Man kann Frau Merkel dafür verachten, aber jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.