In dem Artikel „Rätselhaftes Sachsen: Nach welcher Logik werden Schulen geöffnet“ hatte ich bereits auf Widersprüche in der Schulöffnungs- und Coronapolitik des sächsischen Kultusministeriums hingewiesen. Seit dem 12. April findet im Freistaat wieder Unterricht im sogenannten „eingeschränkten Regelbetrieb“ statt. Neu ist, dass nun auch alle Grundschüler Masken tragen und sich die Schüler aller Schularten zweimal pro Woche testen lassen müssen. An den weiterführenden Schulen gilt weiterhin das Wechselmodell (eine Woche Schule, eine Wochen Homeschooling). Die Präsenzpflicht ist weiter ausgesetzt.
Was haben Corona-Massentests gebracht?
Seit Jahresbeginn hatte das Ministerium diverse Massentests durchgeführt, alle auf freiwilliger Basis. Die Kosten für die Schnelltest belaufen sich auf 657.000 Euro. Allerdings seien noch nicht alle Rechnung eingetroffen, so das Ministerium. Hier die Ergebnisse:
18.1.2021 – weiterführende Schulen & Förderschulen
Getestet Schüler: 17.058 davon positiv: 34
Getestete Lehrer 5.136 davon positiv: 21
8.2.2021 – weiterführende Schulen & Förderschulen
Getestete Schüler: 12.625 davon positiv: 10
Getestete Lehrer: 4.601 davon positiv: 2
22.2.2021 – berufsbildende Schulen & Förderschulen
Getestete Schüler: 2.568 davon positiv: 1
Getestet Lehrer: 1.094 davon positiv: 1
10. Kalenderwoche – Förderschulen
Getestete Schüler: 2.273 davon positiv: 1
Getestete Lehrer: 1.397 davon positiv: 1
17.3.2021 – weiterführende Schulen
Getestete Schüler: 24.989 davon positiv: 27
Getestete Lehrer: 5.540 davon positiv: 3
Gesamtergebnis:
Schüler getestet total 59.513 davon positiv: 73 (0,123 Prozent Anteil an Stichprobe)
Lehrer getestet total 17.768 davon positiv: 28 (0,157 Prozent Anteil an Stichprobe)
(Quelle: Kultusministerium Sachsen, Stand 10.4.2021)
Auf meine Frage, ob die positiv Getesteten per PCR nachgetestet wurden und wenn ja, wie viele von ihnen auch hier ein positives Testergebnis erhielten, kam die Antwort:
„Darüber liegen uns keine Erkenntnisse vor. Die tatsächlich mittels PCR-Test positiv getesteten Personen fließen in die allgemeine Statistik ein.“
Grundsätzlich ist es positiv, dass sich das Kultusministerium einen Überblick verschafft hat. Aber: für 657.000 Euro sächsisches Steuergeld sollte man mit einer sauberen deskriptiven Statistik rechnen dürfen. Nun weiß niemand, ob die positiv Getesteten es tatsächlich auch waren. Wenn nicht, wäre die Statistik verzerrt und damit noch weniger aussagefähig. Unabhängig davon war der Anteil der positiv Getesteten mit 0,123 Prozent bei der Schüler-Stichprobe und 0,157 Prozent bei der Lehrer-Stichprobe so auffällig niedrig, dass sich daraus kaum politische Handlungsempfehlungen ableiten lassen dürften. Falls das jemals beabsichtigt war.
Keine eigenen Erkenntnisse
Da nun ab dem 12. April 2021 an allen Schulen im Freistaat Sachsen Maskenpflicht gilt, auch an Grundschulen, wollte ich wissen, ob das Ministerium eine empirische Untersuchung nennen könnte, die nachweist, dass das Tragen von Masken an Grundschulen signifikant das „Infektionsgeschehen“ verhindern könnte und ob bisher das Tragen von Masken an weiterführenden Schulen generell das „Infektionsgeschehen“ signifikant vermindert bzw. eingedämmt hat. Die Antwort:
„Maskentragen reduziert die Übertragung von SARS-CoV-2. Maskentragen in Schulen verringert als Teil eines Maßnahmenpakets die Infektionshäufigkeit. Dieses stellen zahlreiche deutsche medizinische Fachgesellschaften in ihren Empfehlungen für den Schulbetrieb (S3 Leitlinien) fest. Es gibt zudem zahlreiche internationale Studien, die die Wirksamkeit von Masken belegen. Hier eine Auswahl:
https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140-6736(20)31142-9.pdf
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32795645/
https://www.nature.com/articles/s41467-020-17922-x
https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acsnano.0c03252
https://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/acsnano.0c03252
https://eurjmedres.biomedcentral.com/articles/10.1186/s40001-020-00430-5
https://bmjopen.bmj.com/content/5/4/e006577
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32329337/“
Hinter den aufgelisteten Studien verbirgt sich vermutlich die eigentliche Antwort des Kultusministeriums, nämlich dass es offenbar keine entsprechenden Erkenntnisse hat. Wie genau hat das Ministerium festgestellt, dass das Maskentragen in Schulen die Infektionshäufigkeit damit verringert hat? Diese Frage wurde nicht beantwortet.
Was hat Vietnam mit sächsischen Schulen zu tun?
Schauen wir kurz auf eine der vom Ministerium aufgelisteten Studien: In der randomisierten vierwöchigen Studie aus dem Jahr 2011, veröffentlicht 2015, mit einer Teststärke von 80 Prozent, bezogen auf eine Stichprobengröße N von 1.607 (Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor) in 14 vietnamesischen Kliniken, wollte das Autorenteam nachweisen, dass medizinische Masken besser vor Viren schützen als Stoffmasken. Es wurde die Nullhypothese überprüft bei einer zweiseitigen Testung und dem üblichen Signifikanzniveau von Alpha 5 Prozent. Und die Forscher fanden heraus: Ja, medizinische Masken sind besser als Stoffmasken. Natürlich haben die Forscher nicht ins Blaue getestet, sondern zuvor korrekt das N (Anzahl Probanden) ermittelt, das sie brauchten, um einen Unterschied aufzudecken, wenn er vorhanden ist. Überraschung: Die Ergebnisse sind signifikant. Die Autoren räumen ein, dass das Studiendesign keine Rückschlüsse darüber erlaubt, wie effektiv medizinische Masken seien. Und sie weisen darauf hin, dass eine Einschränkung der Studie darin besteht, dass es keine Kontrollgruppe gibt (lack of a no-mask control group). Soweit die Kurzbeschreibung. Welchen Zusammenhang gibt es nun zum Schulbetrieb in Sachsen? Keinen. Ist diese Studie aus Vietnam der Beweis, dass das Tragen von Masken an sächsischen Schulen die Infektionshäufigkeit verringert? Wohl kaum.
Man darf fragen, ob die Verantwortlichen in Dresden all diese Studien gelesen haben, die als Grundlage für die Maskenpflicht von Schülern herhalten sollen.
Verringert Wechselunterricht das Infektionsgeschehen?
Eine weitere Frage an das Kultusministerium: Gibt es empirische Studien, die nachweisen, dass der Wechselunterricht in Sachsen an weiterführenden Schulen das Infektionsgeschehen signifikant vermindert/eindämmt? Wenn ja, wie groß war die Eindämmung? (bitte in Zahlen und Name der Studie). Antwort des Ministeriums:
„Was die Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen an Schulen angeht, orientieren wir uns zum einen an den Empfehlungen des RKI und zum anderen an den sogenannten S3-Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften (https://www.bmbf.de/de/die-s3-leitlinie-als-handlungsempfehlung-fuer-schulen-13722.html).“
Es ist legitim, auf fachlichen Rat zu hören. Aber auch hier liegen dem Ministerium offenbar keine eigenen Erkenntnisse vor. Stattdessen wieder ein Verweis, diesmal u.a. auf die sogenannten S3-Leitlinien. Was das ist, kann jeder hier nachlesen.
In Kurzform: In einer sogenannten Leitliniengruppe stimmten u.a. Mediziner aus Fachgesellschaften und Vertreter aus Interessengruppen, darunter auch aus dem Landeselternrat Sachsen, über die Empfehlung von Maßnahmen ab. Abstimmen über Wissenschaft – aus meiner Sicht ein fragwürdiges Vorgehen, das in dem Dokument euphemistisch „konsensbasierte Empfehlung“ genannt wird. Entweder eine mit guter wissenschaftlicher Methodik durchgeführte Studie kann etwas herausfinden oder nicht. Über das Ergebnis kann es keine demokratische Abstimmung geben, höchstens eine wissenschaftliche Diskussion bzw. Interpretation. Zudem wird im Dokument zugegeben, dass die Studien, denen die Abstimmungen zugrunde liegen, nur eine sehr niedrige Evidenz-Qualität besitzen. Sie lesen richtig: sehr niedrig. Dennoch gelten die S3-Leitlinien als Grundlage für das Tragen von Masken an Schulen, Abstandsgebote, Reduktion von Schülern im Präsenzunterricht.
Weiter heißt es in dem Dokument auf Seite 14:
„Die gewonnenen Erkenntnisse beruhen zu großen Teilen auf Modellierungsstudien mit Qualitätsmängeln oder Beobachtungsstudien mit begrenzter Übertragbarkeit auf den Schulkontext und die Definition von Risikokontakten gemäß dem RKI. Für alle betrachteten Wirkungen ist die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz sehr niedrig“
Und daran orientiert sich das Kultusministerium des Freistaates Sachsen?
Ob Wechselunterricht das Infektionsgeschehen verringert oder nicht, lässt sich herausfinden. Eine Schule vier Wochen Präsenzunterricht (Experimentalgruppe), eine andere Schule vier Wochen Wechselmodell (Kontrollgruppe). Gleichen Alterskohorten mit gleichem soziodemographischem Hintergrund, gleiche Probandenzahl (vorzugsweise volljährig). Das zu messende dichotome Merkmal ist „Corona-Infektion nachgewiesen mit PCR“, Messung nach vorgegebenem Plan. Hier würde ich mich auf die Nullhypothese festlegen bei einem Signifikanzniveau von 5 Prozent. Bedeutet: Es gibt keinen Unterschied bzw. es wird kein Effekt aufgedeckt zwischen den Kohorten, bezogen auf das Merkmal innerhalb der festgelegten Zeit. Übrigens wäre diese Studie nicht 657.000 Euro teuer. Sie würde fast nichts kosten.