Für Deutschlands größte Tageszeitung Bild hatte im Herbst 2015 die Kampagne „Wir helfen“ ebenfalls dramatische Folgen. In den Rand des dazugehörigen Signets war der Schriftzug „Refugees welcome“ integriert, die Abwehrreflexe waren heftig. Vor allem aus der klassischen Leserschaft erreichten mich damals Briefe und Mails, in denen die Stimmungslage von Verwunderung über regelrechte Hilferufe bis zu blankem Hass reichten. Ein Blatt, das bis dato gerade auch Probleme mit Migranten immer wieder klar benannt und in großen Lettern thematisiert und dem deutschen Stammtisch Stimme verliehen hatte, schien plötzlich die Seiten gewechselt zu haben. Die Auflage stand damals bei 2,2 Millionen Exemplaren täglich – dass sie inzwischen bei rund 1,6 Millionen liegt, hat auch mit der Positionierung im Herbst 2015 zu tun.
Ich erinnere mich an eine Zuschrift, die mir damals wie ein Hilferuf erschien. Der Tenor: Wo seid ihr? Ihr wart doch immer an unserer Seite! Warum sagt und tut ihr nichts?! Die Politik von Verlag und Redaktion war damals durch zwei Dinge geprägt. Das war zum einen das langjährige Engagement des heutigen Chefredakteurs Julian Reichelt als Kriegsreporter in Syrien. Er hatte bei den schreienden Kindern in Aleppo gestanden nach dem Bombardement mit Streubomben und das ganze Elend aus nächster Nähe miterlebt. Und jenen, die das durchgemacht hatten, sollte man jetzt die deutsche Tür hartherzig verschließen? Eine Stimmungslage, die auch in der deutschen Bevölkerung in den ersten Aufwallungen 2015 weit verbreitet war.
So nachvollziehbar dieser Reflex war und ist, so wenig hinreichend und tragfähig ist er als politikleitendes Konzept. Zum einen kann den vom Krieg betroffenen Menschen in der Region vor Ort und in den Nachbarländern besser, mehr und effizienter geholfen werden. Außerdem wäre durch enge Kontingente und geschlossene Grenzen den Hilfsbedürftigen gezielter geholfen worden. Zum anderen ist die Wahrnehmung von Elend, Not und Verfolgung auf der Welt immer selektiv je nach medialer Ausleuchtung. Wir leben stets mit der wissenden Ignoranz, dass parallel zu unserem Alltag die Slums von Trenchtown oder Dharavi existieren, Uiguren oder Rohingya verfolgt werden oder das Elend in weiten Teilen Nigers unerträglich ist. Verantwortliche, ethische Politik muss deshalb klug und gezielt helfen, die Akzeptanz für die Aufnahme von Migranten so realistisch einschätzen, dass den am schlimmsten betroffenen Opfern geholfen werden kann und möglichst viele Betroffene die menschenmögliche Hilfestellung bekommen. Mit emotionaler Selbstaufopferung ist am Ende nur wenigen geholfen und im unglücklichsten Falle die Kraft der helfenden Gesellschaft beschädigt.
Hinzu kam, dass Bild zu diesem Zeitpunkt bereits volle vier Jahre lang auf den sich dramatisch zuspitzenden Konflikt hingewiesen hatte und die internationale Gemeinschaft durch Ignoranz und das Maulheldentum von Ex-US-Präsident Barack Obama die Lage sehenden Auges eskalierte. Obama hatte lange gezögert, überhaupt in Syrien einzugreifen. Stattdessen breitete er auf seiner Kairoer Rede im Juni 2009 seine Vision vom „Neubeginn“ in der Arabischen Welt aus, sprach später von „roten Linien“, die der Einsatz chemischer Kampfstoffe in Syrien darstellte, und tat danach nichts, um die Überschreitung der „roten Linien“ zu ahnden. Nahezu alle Nahostbeobachter sind sich darin einig, dass Obamas falsches Appeasement ein fatales Signal an Syriens Machthaber Baschar al-Assad und die islamistischen Extremisten überhaupt sandte. All dies spielte im Hintergrund eine Rolle bei der Entscheidung für die Kampagne „Wir helfen“.
Es hätte gereicht, die Wahrheit zu sagen
Das zweite, was die Ausrichtung von Bild im Flucht-Herbst 2015 beeinflusste, war die Überlegung, dass Bild bei aller Vertretung einfacher Menschen und ihrer Stimmungen nicht zur Vorlage für Übergriffe, Anschläge oder fremdenfeindliche Gewalt werden sollte, die – so seltsam es klingt – viele damals als eine Art natürliche Folge des Zustroms erwarteten. Hier liegt bereits ein Keim für die spätere Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft: Man weiß um die Gegenreflexe, glaubt sie aber aus moralisch höherer Warte ignorieren zu können. Motto: Wir sind die Guten. Da muss das Land eben durch. Dass es gerade die Union war mit ihrer Kanzlerin an der Spitze, die diese Politik über Monate umsetzte, hat das Trauma bei deren Anhängern noch vertieft. Denn es gehörte bis dahin geradezu zur DNA der Union, Migration zu begrenzen, nicht ideologisch auf hohlen Internationalismus zu setzen und die Kompetenzzuweisung für Recht, Ordnung und innere Sicherheit im Sinne der Bürger zu verwalten. Diese Kompetenzzuweisung hat 2015/16 sehr gelitten.
Leider verlaufen in diesem Punkt die Dinge in Politik und Medien parallel: Verlorenes Vertrauen gewinnt man ebenso schwer zurück wie verlorene Leser. Bis heute haben im Netz viele Kritiker der Migrationspolitik von Angela Merkel den Bild-Button „Wir helfen“ zur Hand und kopieren ihn flugs in kritische Kommentierungen oder die Berichterstattung über Anschläge und misslingende Integration, um an jene Zeit zu erinnern, in der Medien und Politik in der Wahrnehmung vieler Seite an Seite marschierten. Ausgerechnet in einer gesellschaftlichen Spannungssituation, in der unabhängige Medien wichtiger gewesen wären denn je, wurde aus der Vierten Gewalt eine Blockpartei der Macht, Gleichschritt statt Kontrolle. Zeitungen und Sender, die sonst jeden zu viel gefahrenen Kilometer im Dienstwagen anprangern, verstummten im Migrationsherbst 2015, ließen immer wieder versteckte Angst davor durchschimmern, dass die Volksseele womöglich anders ticke und deshalb umso intensiver beschallt werden müsse.
Der bis heute anhaltende Vertrauensverlust gegenüber den Medien insgesamt entstand aus der Vernachlässigung von Artikel 1 des Journalistischen Grundgesetzes: dagegen denken! Dabei hätten beide, Politik und Medien, damals gar keine grundlegende Wende zu vollziehen brauchen. Es hätte allein ausgereicht, die negativen Folgen und schon sehr bald sichtbaren Erscheinungen des ungeregelten Zuwanderungsschubes zu thematisieren, nicht aus Sorge vor „Beifall von der falschen Seite“ Kritik und Warnungen zu unterlassen und der Bevölkerung klar zu signalisieren, dass es nicht Schicksal, sondern ein Problem ist, so viele Menschen in so kurzer Zeit aus fremden Kulturen aufzunehmen. Kurz: Es hätte gereicht, die Wahrheit zu sagen.
Für Bild ist diese Kampagne zu einer dauerhaften Hypothek geworden. Und das nicht so sehr wegen kleiner Zusatz-Patzer im Herbst 2015, als sich etwa die Spieler des 1. FC St. Pauli weigerten, das Signet zu tragen, sondern vor allem, weil es ein Bruch mit dem eigenen Genre als Boulevard-Blatt war. Dass eingefleischte Bild-Kritiker den hohen Ton der Humanität dem Blatt nicht abnahmen – geschenkt. Aber Boulevard muss bei den Leuten sein. Boulevard ist nicht nur bunte Wundertüte, große Schrift und große Emotion, Boulevard ist immer auch Sprachrohr und Stimmungsbarometer für die „kleinen Leute“, die weder Zeit noch Lust haben, den intellektuellen und literarischen Überflügen der „(ein)gebildeten Stände“ zu folgen. Aus dieser Verwurzelung im unteren Drittel der Bevölkerungspyramide, bei den einfachen Menschen, erwächst dem Boulevard seine wichtige gesellschaftliche Funktion für den Zusammenhalt im Lande. Das bestätigende „Ist doch wahr!“ aus tiefstem Bauchgefühl ist mehr wert als 1000 noch so schlaue Analysen in FAZ und SZ zusammen.
Dies ist ein Asuzug aus Ralf Schulers heute erschienenem Buch: „Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur“, 2019, Freiburg: Verlag Herder, gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten, ISBN: 978-3-451-38358-8. Hier bestellbar.
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