Jewgenij Prigoschins Konflikt mit Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow ist eskaliert. Ein Krach an der offenen Front. In obszönen Videobotschaften hat der Wagnerboss seine verhassten Widersacher erstmals öffentlich angegriffen. Und den Abzug seiner Kämpfer angekündigt. Die russische Phalanx zeigt Risse.
Es sind schockierende Aufnahmen, die am 5. Mai 2023 an die Öffentlichkeit gerieten. Zu sehen ist Jewgenij Prigoschin. In Militärkleidung steht der 61-Jährige unter freiem Nachthimmel. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtet er auf den Boden hinter sich. Dort sind die Leichen junger Männer aufgebahrt. Ihre Gesichter sind blutverschmiert, barfuß liegen die leblosen Körper auf der Erde. Bei den Toten handelt es sich um Mitglieder der Gruppe Wagner.
Nachdem er ihre sterblichen Überreste mit dem Schein seiner Lampe erhellt hat, wendet sich Prigoschin der Kamera zu. Sein Gesicht hat den Ausdruck einer von Wut und Hass verzerrten Fratze angenommen. Die nächsten zwei Minuten könnten die bedeutendsten seines Lebens sein. Was der Wagnerchef nun äußert, verstößt gegen jedes Protokoll. Es folgt eine schonungslose Abrechnung mit der Regierung. Gleich mehrere ihrer Mythen fegt sie hinweg. Prigoschins Statement ist so brisant, dass es hier im Wortlaut wiedergegeben werden soll.
„Dies hier sind Jungs der Gruppe Wagner. Das Blut ist noch frisch. Filme Sie alle! [an den Kameramann] Und jetzt hört mich, Ihr Hurensöhne! Das sind jemandes Väter gewesen, jemandes Söhne. Diejenigen Bastarde, die uns keine Munition geben, werden in der Hölle ihre Gedärme fressen. Schwule Kinderficker! Wir haben einen Munitionsmangel in Höhe von 70 Prozent!“
Während er diese Worte artikuliert, gerät Prigoschin in eine Wut, die sich kaum in Worte fassen lässt. In seinen Augen scheinen Verachtung und Hass auf. Man muss nicht des Russischen mächtig sein, um die Wahrhaftigkeit dieser Emotionen zu erkennen. Hier spricht ein Mann, der zu einer öffentlichen Abrechnung angetreten und zu allem bereit ist; der den Rubikon überschritten hat. Das dürften auch die Kremlherren so sehen. Aus ihrer Sicht hat sich Prigoschin der Gotteslästerung schuldig gemacht.
„Schoigu! Gerassimow! Wo, Ihr verdammten Bastarde, ist die Munition?! Schaut sie [die Leichen] Euch an […] Ihr sitzt in Euren verfickten Nobelklubs. Eure Kinder genießen das Leben und nehmen Videos für YouTube auf. Denkt daran, dass Ihr die Herren dieses Lebens seid; und dass man Euch das Recht anheimgestellt hat, über jene Leben [die der Getöteten] zu bestimmen.
Denkt daran, dass Ihr, sofern Ihr über Munitionslager verfügt, ein Anrecht auf sie habt. Es gibt elementare Zählungen [gemeint ist die Anzahl an Munition, die einzelnen russischen Einheiten zustehen]. Wenn Ihr Euch an die Normen haltet, wird es fünfmal weniger Tote geben. Sie sind als Freiwillige hergekommen. Und gestorben, damit Ihr im Überfluss der Völlerei frönen könnt – in Euren Büros aus Ebenholz. Berücksichtigt das!“
Der Kreml hat seine Leute nicht im Griff
Prigoschins Aussagen sind schon allein wegen ihrer Obszönität hochbrisant. Dass ein maßgeblicher Akteur den Verteidigungsminister und Generalstabschef öffentlich als Hurensöhne und Päderasten verunglimpft, hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Es wird deutlich, dass der Kreml seine Leute nicht im Griff hat. Noch gravierender jedoch sind die Anschuldigungen, die der Wagnerchef zum Ausdruck bringt. Direkt spricht er aus, was unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit geraten sollte: nämlich, dass russische Soldaten in der Ukraine sterben, weil sie ihrer Führung egal sind.
Die dahinterstehende Attitüde ist ein ureigenes Element russischer Herrschaft. Gemeint ist die Gleichgültigkeit der Mächtigen gegenüber den eigenen Leuten. Wie kaum ein anderes Merkmal hat es die militärische Doktrin Russlands geprägt. Vielfach hatten Beobachter seit Kriegsbeginn vermutet, dass sich die von ihr bedingten Zustände nicht geändert haben könnten. Dass der Generalstab seine Soldaten nicht in gebührender Weise unterstützt.
Das offenkundige Unvermögen der russländischen Streitkräfte, ihre militärischen Ziele in der Ukraine zu erreichen, ist eine maßgebliche Folge von Korruption. Bereits vor dem Krieg hatte es entsprechende Skandale im Verteidigungsministerium und Strafverfahren wegen Veruntreuung von Haushaltsgeldern im militärisch-industriellen Komplex gegeben; daher ist nicht verwunderlich, dass es ab dem 24. Februar 2022 Probleme bei der Versorgung und Bewaffnung der Truppen gab.
Früh wurde berichtet, dass Soldaten mit alten Waffen und veralteten Karten an die Front geschickt worden waren. Außerdem waren viele Soldaten nicht auf den Kampf vorbereitet, verfügten nicht über medizinische Ausrüstung und nutzten offene Kommunikationswege. Dies führte dazu, dass ihre Standorte entdeckt wurden. Auch wurde von Treibstoffmangel berichtet, der das Vorrücken der russischen Truppen beeinträchtigte. Typischerweise kam es mit Kriegsbeginn auch zu zahlreichen Veruntreuungen. Im Westen kaum bekannt: 2022 wurden 60 russische Beamte wegen Korruption im Verteidigungsbereich angeklagt.
Dass Korruption und Autokratie Hand in Hand gehen, ist freilich kein Zufall. Die sukzessive Akkumulation von Macht in Person des Präsidenten, wie sie in Russland von Wladimir Putin verkörpert wird, widerspiegelt sich in der Transparenz und Effektivität der staatlichen Verwaltung. Je autoritärer ein Regime wird, desto weniger ist es gegenüber seinen Bürgern rechenschaftspflichtig. Ein Regime, das den politischen Wettbewerb ausgeschaltet hat, steht einer Öffentlichkeit ohne institutionelle Möglichkeiten gegenüber, politischen Einfluss geltend zu machen.
Korruptionsbedingte Dysfunktionalität der Armee?
Folglich sind autoritäre Systeme ohne Rechenschaftspflicht ein fruchtbares Umfeld für die Ausbreitung korrupter Praktiken und einer korrupten Kultur, die sich wiederum wie ein Krebsgeschwür auf alle Bereiche der Regierung, einschließlich des Militärs, ausbreitet. Mit seiner Kritik hat Prigoschin also einen neuralgischen Punkt getroffen. Und die Regierung erheblich unter Zugzwang gesetzt. Was auch immer sie zu unternehmen gedenkt, Untätigkeit ist keine Option.
Den Mutmaßungen über eine korruptionsbedingte Dysfunktionalität der Armee hat Moskau im Inneren das Image einer professionellen und straff geführten Truppe entgegensetzt. Dass dieser Mythos nun ausgerechnet von einem der führenden Kommandeure zerstört wird, ist für das Regime verheerend. Im Gegensatz zu von außen kommender Kritik lassen sich Prigoschins Anschuldigungen nicht einfach als westliche Propaganda vom Tisch wischen. Im Gegenteil bildet die Gruppe Wagner seit dem Frühjahr 2022 eine wichtige Konstante in der russischen Kriegführung. Die Popularität der Organisation in Russland ist groß.
Nichts ist gefährlicher, als die Unterstützung der eigenen Bevölkerung zu verlieren. Das weiß auch Wladimir Putin. Um etwaige Revolten an der Heimatfront bereits im Keim zu ersticken, hat er die betreffenden Strafgesetze zuletzt erheblich verschärft. Erst in der vergangenen Woche wurde das Strafmaß für Landesverrat auf lebenslänglich angehoben, die für seine Verhängung nötigen Straftatbestände aufgeweicht. Achgut berichtete.
Das Bild einer hochprofessionalisierten Armee ist allerdings nicht der einzige Mythos, den Prigoschin auf dem Gewissen hat. Auch die berühmte Erzählung von einer „speziellen Militäroperation“ dürfte sich jetzt nicht mehr aufrechterhalten lassen. Um zu verstehen, warum viele Menschen in Russland die Invasion der Ukraine bis heute unterstützen, muss man ihre Darstellung in den Staatsmedien berücksichtigen. Dort wird sie nicht als Krieg dargestellt, sondern als von ihm isolierte Handlung, die sich ausschließlich gegen militärische Ziele richtet.
Ein Jahr nach Kriegsbeginn betrug die Anzahl der Befürworter 68 Prozent. Im Februar 2022 hatte dieser Wert noch 65 Prozent betragen. Im selben Zeitraum war die Gruppe der Kriegsgegner von 25 auf 20 Prozent gesunken. Das zumindest geht aus einer repräsentativen Meinungsumfrage des Allrussischen Zentrums zur Erforschung der öffentlichen Meinung (WZIOM) hervor. In der Studie heißt es, dass die Konsolidierung der russischen Gesellschaft um das Staatsoberhaupt 2022 zugenommen und sich die Einstellung der Russen zu Protesten stabilisiert habe. Das Protestpotenzial hingegen habe seit vielen Monaten nicht mehr als 12 Prozent betragen.
In schonungsloser Weise mit der Realität konfrontiert
Mit seiner Videobotschaft hat Prigoschin die russländische Öffentlichkeit nun in schonungsloser Weise mit der Realität konfrontiert. Demnach führt Moskau einen verlustreichen Krieg in der Ukraine, der tausende russische Soldaten das Leben gekostet hat. Allein in Bachmut, das wegen seiner verlustreichen Häuserkämpfe längst zum Symbol des Krieges geworden ist, sollen seit Dezember 2022 mehr als 20.000 Russen gefallen und bis zu 80.000 verwundet worden sein.
Inwieweit das zutreffend ist, lässt sich nicht unabhängig verifizieren. Die Information stammt von US-Geheimdiensten. Fest steht lediglich, dass Moskau die Einnahme der Stadt bislang nicht gelungen ist. Seit mehr als sechs Monaten dauern die Kämpfe mittlerweile an. Übriggeblieben ist ein Trümmerfeld, das an die Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges erinnert.
Ausgerechnet in dieser Situation hat Prigoschin den Abzug seiner Truppen angekündigt. Gemäß einem weiteren Video, das am 6. Mai auf seinem Telegramkanal erschien, will er seine Kämpfer am 10. Mai 2023 aus dem Brennpunkt herausnehmen. Damit zieht der Wagnerchef die Konsequenzen aus der mangelnden Unterstützung durch das Verteidigungsministerium und den Generalstab. Für den Kreml ist das eine Hiobsbotschaft. Zuletzt hatte die Gruppe Wagner einen erheblichen Teil der Kriegslast geschultert. Und die Anerkennung des Verteidigungsministeriums verlangt. 50.000 Söldner sollen aktuell in der Ukraine aktiv sein. Auch wenn 80 Prozent von ihnen Strafgefangene sind, dürfte der Wegfall ihres Potenzials nur schwer zu kompensieren sein.
Wenig überraschend, hat sich unlängst Putins treuster Zerberus zu Wort gemeldet. Die Rede ist von Ramsan Kadyrow, dem Präsidenten der autonomen Republik Tschetschenien. Er ist bekannt dafür, Putin bei jeder Gelegenheit die Treue zu schwören. Und ist entschlossen, für seinen Herren nun die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
In einer öffentlichen Stellungnahme bot er an, die Söldner von Wagner abzulösen. Ferner verlautbarte er, Bachmut werde mithilfe seiner Kämpfer binnen weniger Stunden eingenommen sein. Dass er dieses Versprechen tatsächlich wird einlösen können, darf indes bezweifelt werden. Bislang sind Kadyrows Truppen vor allem hinter den Frontlinien zum Einsatz gekommen, wo sie in erster Linie polizeiliche Funktionen wahrnahmen.
Der regulären Armee eine Atempause verschafft
Darüber hinaus muss Prigoschins Rückzug auch einen Effekt auf die Moral der russischen Seite haben. Seit Kriegsbeginn wurde die Söldnermiliz in der Heimat als knallharte Eingreiftruppe präsentiert, die das Blatt auch in brenzligen Situationen noch wendet. Noch vor wenigen Monaten war sie von einer Aufbruchstimmung geprägt. Im ganzen Land hatte sie 58 neue Rekrutierungsbüros eröffnet.
Dass die Organisation jetzt unter den genannten Umständen abzieht, ist als radikale Kehrtwende zu verstehen, die die Aussichtslosigkeit des Kampfes illustriert. Dies gilt umso mehr, als Prigoschin zufolge nur noch zwei Kilometer bis zur Schließung des Kessels übrig sind.
Auch Prigoschins zweites Video hat es in sich. In voller Kampfmontur steht er vor bewaffneten Kämpfern. Um seine Schulter ist ein Sturmgewehr gehängt. Erstmals spricht der Wagnerchef über die Involvierung seiner Organisation in den Krieg. Demnach wurde er am 16. März 2022 angesprochen, weil die Invasion bereits nicht plangemäß verlief. Am 19. März seien bereits erste Wagnereinheiten aus Afrika eingetroffen und in der Nähe von Popasna an die Front gekommen. Die Stadt sei daraufhin am 9. Mai 2022 eingenommen worden.
Im Herbst habe sich die Gruppe Wagner dann im östlichen Abschnitt der Front verschanzt: und zwar mit dem Ziel, die Armee zu retten, die zuvor ruhmlos aus Isjum und Krasnyj Lyman geflohen sei. Am 8. Oktober 2022 hätten seine Söldner schließlich in die Kämpfe um Bachmut eingegriffen. Damit hätten sie der regulären Armee eine Atempause verschaffen sollen. An dieser Stelle erneuert Prigoschin seine namentlich an Schoigu und Gerassimow adressierten Vorwürfe. Und deckt ihre Motive auf.
„Wir wurden mit einer künstlichen Verknappung von Munition in den Lagern konfrontiert. Wir bekamen nicht mehr als 30 Prozent unseres Bedarfs. Unsere Verluste waren also viel höher als sie hätten sein müssen, aber wir kamen voran. Vor einem Monat wurden die Munitionslieferungen eingestellt, und wir erhielten nur noch 10 Prozent. Wir wollten Bachmut bis zum 9. Mai einnehmen, aber als die kriegsbefürwortenden Bürokraten dies erkannten, stellten sie ab dem 1. Mai jegliche Lieferungen ein, um uns daran zu hindern.“
Den Vormarsch in Bachmut boykottiert?
Was Prigoschin damit sagt, ist derart skandalös, dass die aus seinen Worten resultierenden Folgen nur eruptiv sein können. Demnach soll der Verteidigungsminister den Generalstab angewiesen haben, den Vormarsch in Bachmut zu boykottieren, damit die Stadt nicht vor den am 9. Mai 2023 stattfindenden Feierlichkeiten zum Tag des Sieges eingenommen wird. Dabei handelt es sich um eine zutiefst destruktive Handlungsweise, der Schoigus persönliche Aversion gegenüber Prigoschin zugrunde liegt.
Die gegen den Verteidigungsminister im Raum stehenden Anschuldigungen könnten schwerwiegender kaum sein. Nicht nur hätte vorsätzlich die Pläne Wladimir Putins durchkreuzt und das Ansehen des Regimes in der Bevölkerung unterminiert, sondern auch den Tod russischer Soldaten in Kauf genommen, um einen Widersacher zu bremsen.
Dabei handelt es sich um Vergehen, die aus Sicht des Kremls unverzeihlich sind. Es ist naheliegend, dass sie als Landesverrat ausgelegt werden. Das wäre auch in westlichen Staaten nicht anders. Man stelle sich einmal vor, Robert McNamara hätte den in Vietnam kämpfenden GIs die Ausrüstung vorenthalten, um ihren Erfolg auf dem Schlachtfeld zu mindern. Er wäre lebenslänglich inhaftiert, wahrscheinlich sogar hingerichtet worden.
Eine vergleichbare Krise droht sich nun in Russland abzuzeichnen. Sollten sich die Vorwürfe gegen Schoigu erhärten, wäre Schoigu erledigt. Fakt ist, dass sein Ministerium bis zuletzt keine plausiblen Erklärungen für den in Bachmut herrschenden Munitionsmangel ins Feld führen konnte. Die kommenden Wochen dürften für Schoigus Schicksal also entscheidend sein.
Zwar gibt es bislang keine Belege dafür, dass der als enger Verbündeter und langjähriger Weggefährte Putins geltende Politiker bereits in Ungnade gefallen ist, wohl aber Indizien. Als die ständigen Mitglieder des russländischen Sicherheitsrates am 5. Mai 2023 tagten, war Schoigu nicht anwesend. Was auch immer sich dahinter verbirgt, zeichnet sich doch immer klarer ab: Nach 14 Monaten Krieg zeigt die russische Phalanx tiefe Risse.
Für das Regime bedeutet das nichts Gutes. Unter solch fragilen Bedingungen könnten die Auswirkungen einer ukrainischen Gegenoffensive sogar noch dramatischer ausfallen, als man bislang angenommen hatte.