Wolfram Weimer / 03.01.2020 / 06:10 / Foto: EPP / 171 / Seite ausdrucken

Wo bleibt Merkels historisches Verdienst?

Die Zitterauftritte im Sommer, der Konjunktureinbruch im Herbst, das Taumeln der Großen Koalition, Wahldesaster bei den Landtagswahlen, Machtkämpfe in SPD und CDU, das Auftrumpfen der AfD in Ostdeutschland – vieles fügt sich zu einer Endzeitstimmung um Angela Merkel. Ihr Machtgebälk ist über die Jahre morsch geworden, und die politische Ideenwelt zerfließt ins Ungefähre. Ihre letzte Legislatur wirkt wie eine Abschiedstournee, 2020 wird ihr letztes Volljahr, das gefühlte Ende einer Ära rückt näher. Und so fragen sich viele – was war das eigentlich für eine Kanzlerschaft?

Die Merkel-Verfechter sagen, sie habe Deutschland anderthalb Jahrzehnte souverän geführt und das Ansehen des Landes gestärkt. Sie sei als erste Kanzlerin der Geschichte vielen Frauen in der ganzen Welt ein Vorbild geworden. Ihre ausgleichende Konzilianz, ihr leiser Pragmatismus und ihre uneitle, unbestechliche Art gelten in einer Welt des dröhnenden Neo-Despotismus als wohltuend, ihre schiere Tonlage freundlicher Dezenz wird rund um den Erdball geschätzt. Sie habe Deutschland damit ein sympathisches Gesicht verliehen.

Stabilität gehört auch zu ihren Erfolgen, ist Angela Merkel doch zu diesem Silvester so lange im Amt wie Konrad Adenauer es war. Mehr als 14 Jahre. Von allen Kanzlern der Bundesrepublik hat es nur Helmut Kohl noch ein Stückchen weiter gebracht. Auf der Habenseite ihres politischen Kontos liegt schließlich auch ein wirtschaftlich erfolgreiches Jahrzehnt für Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist drastisch verkleinert, die Staatshaushalte sind ausgeglichen, die Deutschen leben so wohlhabend wie noch nie. Wenn man bedenke, was anderswo alles schief laufe in der Politik, sei das also eine große, gute Kanzlerschaft gewesen.

Die Merkel-Kritiker verweisen dagegen auf ein schwer verunsichertes Deutschland, eine zusehends polarisierte Gesellschaft und den Aufstieg des Rechtspopulismus: alles Alarmzeichen einer erfolgsarmen Kanzlerschaft, die wirtschaftlich von den Agenda-Reformen ihres Vorgängers bloß profitiert habe. Ihre beiden größten politischen Fehler – die Energie-/Klimapolitik sowie das Migrationshandling – hätten reichlich Flurschäden angerichtet.

Alleingänge der Kanzlerin in der Zuwanderungsfrage

Die Innovationskraft Deutschlands schwinde, wichtige Schlüsselindustrien wie die Auto- und Chemiebranche würden politisch attackiert. Eine überhastete, undurchdachte Energiewende schwäche obendrein mit den höchsten Strompreisen der Welt den Standort Deutschland und habe doch die klimapolitischen Ziele verfehlt. Und die Alleingänge der Kanzlerin in der Zuwanderungsfrage hätten Deutschland wie Europa tief gespalten. Gemessen an dem, was alles möglich gewesen wäre, sei Merkels Kanzlerschaft zwar lang, aber dürftig.

Beide Seiten haben Argumente. Doch im großen Bild der Kanzlerschaft werden womöglich andere Kategorien sichtbar. Denn ausgerechnet die CDU-Kanzlerin hat Deutschland erstaunlich modernisiert. Von der Abschaffung der Wehrpflicht bis zur Ehe für alle, von der Liberalisierung des Busfernverkehrs bis zum Einstieg in die Euro-Armee, vom Schub in der Frauenemanzipation bis zur wirtschaftlichen Internationalisierung und umfassenden Digitalisierung zieht sich eine tiefe Spur der Modernisierung durch die Merkel-Jahre.

Der Kanzlerin ist es dabei gelungen, die jeweils umstrittenen Fortschritte so zu moderieren, dass sie sich geschmeidig anfühlten. Kurzum: Sie schaffte das bequeme Klima einer deutschen Update-Lounge ohne ernste soziale Konflikte. Das Volk nannte sie ob dieser Begabung zur Befriedung sogar “Mutti”, was für einen Politiker besser kaum geht.

Andererseits kann man das auch als ein neues deutsches Biedermeier betrachten. Verglichen mit der Dynamik Asiens oder Amerikas wirkt das Merkel-Deutschland im Rückblick als viel zu langsam und weltfremd unterwegs, um die digitale Revolution wirklich gewinnen zu können. In den Wettbewerbsrankings der Globalwirtschaft sackt Deutschland regelrecht ab, in den Digitalrankings liegen wir bereits katastrophal weit hinten, unter den 100 größten Unternehmen der Welt sind gerade noch so zwei deutsche (SAP und Siemens), dagegen sind alleine Apple und Microsoft am Ende der Merkel-Ära so viel Wert wie alle deutschen Aktien zusammen.

Nicht einmal die Infrastruktur ist mehr eine Stärke

Das Merkel-Biedermeier fühlte sich also moralisch und habituell gut an, doch seine mäßige Leistungsbilanz ist leider auch dadurch geprägt, was alles nicht geschehen ist. Deutschland hat weder ein modernes Steuerrecht noch ein zeitgemäßes Rentensystem, weder ein Bildungssystem, das aufs 21. Jahrhundert ausgerichtet ist noch eine Gründerkultur oder einen Kapitalmarkt, der die Chancen von morgen eröffnet. Nicht einmal die Infrastruktur ist mehr eine Stärke der Nation.

Merkels Regierungsstil, Politik ausgleichend als summierende Nachhutveranstaltung zu organisieren, machte Deutschland zwar sympathisch, auf vielen Feldern aber schlichtweg langsam. Und so hat die großkoalitionär ausgleichende Mutter der Nation in der politischen Küche der Nation eben auch einiges anbrennen lassen. Parteipolitisch allzumal. Mit ihrer Strategie, die CDU so weit nach links zu rücken, dass die SPD raubkopiert und überflüssig wirkt, hat Merkel sich zwar einen langen persönlichen, machtpolitischen Vorteil beschert. Aber das erfolgreiche Volksparteiensystem Deutschlands ist damit beinahe gesprengt – und der Polarisierung sind Tür und Tor geöffnet.

Wo bleibt also Merkels historisches Verdienst? Konrad Adenauer hatte die Republikgründung, den Bau des europäischen Hauses, die Westbindung an die Nato. Ludwig Erhard steht für das Wirtschaftswunder, Brandt verbucht Versöhnung nach außen und Demokratisierung nach innen. Kohl steht für die Wiedervereinigung und den Euro. Selbst Kanzler Gerhard Schröder hat mit seiner Agenda 2010 der Nation einen großen Dienst erwiesen und dafür sogar sein Amt geopfert.

Von Merkel bleibt zuerst die Tatsache, erste Frau im Amt gewesen zu sein. Sodann dürfte – in der Kategorie politische Großtaten – die Migrationspolitik am ehesten herausragen in der Erinnerung. Millionen neuer Mitbewohner – kulminiert in der Grenzöffnung von 2015, die auf ihrer ganz persönlichen Entscheidung beruhte – verändern Deutschland tiefer und nachhaltiger als die Politik der schwarzen Null oder der Atomausstieg es je könnten.

Merkels Anhänger werden das als humanitären Akt historischer Dimension würdigen, ihre Kritiker sehen just das als ihren größten Fehldienst am Vaterland. Ihre eigentliche zeitgeschichtliche Signatur, das Merkel-Biedermeier, hat sie damit jedenfalls selbst beendet. Muttis langjährig loderndes Lagerfeuer der Niedlichkeit verglimmt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.

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Leserpost

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Rita Wieser / 03.01.2020

Mir graut schon heute vor der Zukunft, die durch ihre politischen Fehlleistungen geprägt sein wird.

elke popken / 03.01.2020

Die Phänomene sind die gleichen, bei Greta Thunberg wie bei Angela Merkel: Haben sie erst mal mit Unterstützung von Presse, Medien, elitären Zirkeln die grosse Bühne betreten, hält sie nichts mehr auf. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob die eine in Behandlung gehoert und einen ” dachschaden” hat und die andere eine dumme Kommunistin ist, bieder und einfältig, als Frau absolut unaktraktiv aber krankhaft geltungssuechtig- machtbesessen. Da greifen die ungeschriebenen Gesetze der höheren Gesellschaft, da gibt es kein zurück Mehr und wenn Entscheidungen noch so falsch sind und verheerende Auswirkungen haben. Besondere prägnant sind solche Vorgehensweisen in der katholischen Kirche. Das war und ist auch Merkels Rückversicherung, man wird ihr im nachhinein mit wortwendungen alles auf den Leim schreiben, nur nicht die Wahrheit! Herr Weimer hat zu teilen schon damit angefangen. Man darf, Man wird nie zugeben, wen man da jahrzehntelang hat schalten und walten lassen, sehendes Auges gehuldigt hat! Im grunde ist es so banal und laecherlich, das man nicht weiss, ob man weinen oder lachen soll! Diese ungepflegte “pummelkanzlerin” mit ihrem dummen gestammel.

Rita Wieser / 03.01.2020

Mit Humor gesprochen ist Merkels alleiniger Verdienst der Vollzug von Honeckers Rache an der BRD. Sie hat mit ihrer Ideologie Europa gespalten und nachhaltig beschädigt. Wir sind am Ende, sowohl sozialpolitisch als auch wirtschaftlich. Wir laufen Gefahr von Sozialtouristen überrannt zu werden, bürgerkriegsähnliche Zustände zu erleben, durch eine der vielen EZB Finanzblasen in eine lange Rezession zu laufen, den technischen Anschluss zu verpassen… Ihre einzige gute Tat wird ihr Abtritt sein und dafür möchte ich ihr heute schon herzlich danken.

Detlef Rogge / 03.01.2020

Historischer Verdienst, verehrter Herr Weimar, allen Ernstes? Mir fällt zu Frau Merkel immer nur eines ein, Kapitel 6, Vers 8 aus der Offenbarung des Johannes: „…..und die Hölle folgte ihr nach….“ Ein Wesen der Finsternis, eine Heimsuchung, selbst der radikalste Exorzismus könnte nicht kurieren.

Detlef Fiedler / 03.01.2020

Hallo Herr Weimer. Die Vorkommentatoren haben bereits alles ausreichend beschrieben. Viel mehr gibt es nicht zu sagen. Vor etlichen Jahrzehnten riefen einige: “Wartet ab, der Führer hat noch die Wunderwaffen”. Heute sagen welche: “Die Kanzlerin denkt doch alles vom Ende her”. Die Wunderwaffen kamen genauso wenig, wie diese Frau jemals irgendwas vom Ende her gedacht hat. Es ist nichts weiter als ein in die Zukunft gerichtetes, nie zu realisierendes Versprechen, um von der eigenen Schuld an der Misere abzulenken. Die Kanzlerin verdrückte sich zuerst aus dem Parteivorsitz, die sich bereits abzeichnenden desaströsen Ergebnisse der anstehenden Wahlen sollte dann ein anderer Vorsitzender an der Backe haben.  Sie hat jetzt nur noch die egoistischen Ziele länger als Kohl den Kanzler zu machen und dann noch ab Mitte diesen Jahres in der EU gross aufzutreten. Dieses Land hier interessiert sie überhaupt garnicht. Nicht mal im Traum. Lesen Sie doch bitte, geehrter Herr Weimer, den heutigen hiesigen Beitrag von Herrn Prof. Dr. Fritz Söllner. Dieser eine dort beleuchtete Aspekt genügt vollauf um zu konstatieren, das diese Frau Deutschland nachhaltig ruiniert hat. Sie kommt mir vor wie jemand der aus Blödheit gekokelt hat, und sich dann, wenn die Scheune anfängt zu lichterloh brennen, leise rückwärts und feige aus dem Feuerschein schleicht.

Anders Dairie / 03.01.2020

Lieber Herr WEIMER, ich ahne was Sie treibt:  Die faire Aufrechnung von Erfolgen und Mißerfolgen seit 2005.  Doch so geht das leider nicht.  Wir leben alle von der kapitalistischen (!) Wirtschaftsweise.  Die macht allein satt und wirkt sozial bis ins Grab.  Es ist schnurzpiepe wie der Kanzler heißt.  Den Wohlstand macht das Personal der mittleren Ebene, sogar darunter.  Wenn der Strom wegbleibt und die Leute abends Stadtquartiere meiden müssen, ist es aus mit der Lebensqualität. Stillgelegte AKW brauchen ewig bis zum Wiederanfahren. Ein paar Wintertage—wie Ende 1978—können das Land flachlegen !  Das ist der Kanzlerin geschuldet. Und,  ausländische Investoren sehen das genauso.  Übrigens, wer sich den Schutz der USA versaut, ist ein Idiot 1. Klasse, den ich namentlich nicht nennen möchte.

Hans-Peter Dollhopf / 03.01.2020

Herr Weimer, es liegt kein Verdienst in Zwangshandlungen. Merkel gab selbst zu, dass sie für sich keinen Handlungsspielraum sah. Alles stellte sich für sie als alternativlos dar. Sie hat damit ihren freien Willen zur Gestaltung selbst geleugnet. Ihre Weltanschauung ist der Determinismus, ihr politisches Erbe das Chaos.

Jens Keller / 03.01.2020

So banal es klingt: Merkel ist ein Kind Ihrer Zeit, repräsentiert ihre Wähler und ihre Politik schien eher von Pragmatismus als von Überzeugungen geleitet. Sie ist als Person farblos, vermutlich eine Voraussetzung um ihre Position als Frau zu erreichen. Ihre Gegner unterstellen ihr stets, eine verborgene Agenda zu verfolgen, was durch ihre Unauffälligkeit und ihr Talent wirklich niemals Ihre Karten aufzudecken gefüttert wird. Sie ist im Partei- wie im Verwaltungsapparat zuhause wie der Fisch im Wasser. Niemand weiss, wo ihre Sympathien wirklich liegen. Ihr Auftreten im letzten Jahr lassen vermuten, dass sie vieles unterdrückt und unerledigt mit sich herumträgt. Ihre Gemütsverfassung scheint den sich verschlechternden Zustand des Landes zu spiegeln. Die wirklich schlechteste Nachricht ist aber, dass in 14 Jahren niemand in der Lage war, sie zu fordern. Ihr Ruhm wird schnell verblassen.

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