Florian Asche
Am 7. Mai 2012 hat das Landgericht Köln entschieden, dass die Beschneidung von Jungen nach jüdischen oder muslimischen Riten eine Körperverletzung im Sinne von § 223 StGB darstellt. Die Einwilligung der Eltern reiche nicht aus, um diesen Eingriff zu rechtfertigen. Das Kind müsse vielmehr selbst seine Zustimmung äußern, wenn es zur Religionsmündigkeit herangewachsen sei.
Seit diesem Urteil streitet die öffentliche Meinung über das Wechselverhältnis von Staat, Religion, körperlicher Unversehrtheit und unveräußerlichen Grundrechten des Menschen. Dabei gehen die Diskutanten nicht immer zimperlich miteinander um. So spricht die jüdische Gemeinde vom schärfsten Angriff auf ihr religiöses Leben seit dem Holocaust, während linksorientierte, laizistische Gruppen in der Beschneidung nur einen „archaischen Ritus“ sehen, der dringend abgeschafft werden müsse. Die Bundesregierung plant nun ein Gesetz, das die Beschneidung auch zukünftig in Deutschland ermöglichen soll. Dabei steckt der Teufel allerdings im Detail, denn die Rechtsgelehrten streiten darüber, ob der Gesetzgeber überhaupt in die Rechte der betroffenen Kinder eingreifen kann. Voraussichtlich werden die letzten Worte wieder einmal in Karlsruhe oder Straßburg gesprochen werden.
Was hat diese ganze Diskussion mit der Jagd zu tun?
Spannend an der Kölner Entscheidung ist nicht deren juristische Herleitung. Sie ist vielmehr deshalb so aufregend, weil sie JETZT gesprochen wurde. Seit über 1000 Jahren hat man jüdische und muslimische Kinder in Deutschland beschnitten und noch nicht einmal die Nazis kamen auf den Gedanken, daran etwas ändern zu wollen. Warum jetzt?
Der Grund für die so plötzlich aufkeimende Ritualkritik liegt weder in einem neuen Antisemitismus, noch in einer prinzipiellen Kulturfeindlichkeit. Hintergrund der veränderten juristischen Bewertungspraxis ist ein laufender Zivilisationsprozess, der den Menschen von überkommenden Strukturen weg und in die Gesellschaft der zivilisierten Individuen hineinführt.
Schon der große Friedrich Karl von Savigny vertrat die Auffassung, dass die Gesetze stets Ausdruck einer zivilisatorischen Entwicklung des Rechtsgefühls eines Volkes seien. Dies gelte auch für ihre Anwendung. Recht könne man nicht setzen, sondern nur ausdrücken. Und so liegt in dem Urteil des Landgerichts weniger der Wunsch, neues Recht zu setzen, als der Ausdruck eines geänderten Selbstverständnisses. Die moderne Gesellschaft entwickelt sich immer weiter weg von Ritualen, Traditionen und archaischen Strukturen, die sich innerhalb der letzten Jahrhunderte nicht rechtfertigen mussten.
Der Zivilisationsprozess ebnet uns den Weg in eine immer friedlichere, immer abgewogenere, immer individuellere Zivilgesellschaft.
Doch alles auf dieser Welt hat seinen Preis. Wir bezahlen ihn durch mehr Langeweile, durch weniger Farbe in unserem Leben, durch weniger große Geschichten und Mythen, durch peinliche Korrektheit und stromlinienförmiges mediengerechtes Leben. Wenn das Archaische stirbt, dann sterben die großen Geschichten mit ihm.
In dem autobiografischen Roman „Hitlerjunge Salomon“ lebt der Held, Sally Perel, andauernd in der Angst, man könne seine Beschneidung entdecken und ihn als Juden entlarven, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Perel erzählt eine unendlich packende und anrührende Geschichte um Andersartigkeit, den Stolz und die Angst darum. Ihr Ausgangspunkt ist das „archaische“ Ritual der Beschneidung, das in seiner Besonderheit Kulturen, Kunst und Literatur beeindruckt hat. Wo bleibt diese Geschichte in der langweiligen Zivilgesellschaft?
Das Archaische braucht Freunde, wenn unser Leben nicht vollständig der politischen Korrektheit preisgegeben werden soll. Es braucht Freunde über die religiösen Rituale hinaus.
Wo bleibt sonst der Stierkämpfer, den Ernest Hemingway beschrieb? Wer erzählt uns vom kurzen und glücklichen Leben des Büffeljägers? Wer träumt mit uns vom Kampf um den großen Fisch? Wo bleibt die Jagd?
Unsere Zukunft hat mehr mit der Beschneidung zu tun, als uns lieb ist. Das Archaische braucht Freunde.
Dr. Floriahen Asche, 44, hat Jura und Geschichte studiert und arbeitet als Rechtsanwalt für Stiftungsrecht und Jagdrecht. In diesen Tagen erscheint sein Buch „Jagen, Sex und Tiere essen – Die Lust am Archaischen“.