Seit einem Jahr starren wir auf eine virale Maus, die in dem medialen Vergrößerungsglas, das man uns vorhält, so groß wie ein Elefant zu sein scheint. Es ist ein Elefant ohne Rüssel, dafür aber mit Nagezähnen. In der Welt, in der wir bisher lebten, gab es solche Elefanten nicht; jetzt aber sind viele davon überzeugt, eine neue Elefantenart erkennen zu können, eine Mutation, größer und bedrohlicher als alle Elephanten zuvor. Das ist zwar eine Art von Sehen gegen den Augenschein, und Skeptiker weisen immer wieder darauf hin, dass der Elefant doch so ziemlich wie eine Maus ausschaut und sich auch so verhält. Aber eine Reihe von öffentlich auftretenden Wissenschaftlern hält diese Skepsis für völlig unangebracht und rät zu Realismus: Die angebliche Maus im Raum ist in Wahrheit ein Elefant, den wir nicht durch einen Austausch der Lupe loswerden können, sagen sie, sondern nur durch eine Impfung, zu der sie nachdrücklich raten.
Da trifft es sich gut, dass es längst eine medizinische Beratungswissenschaft gibt, die auf den Namen "Gesundheitskommunikation" hört. Ihr geht es, wie die Wikipedia meint, um die "kommunikativen Aspekte", "die sich mit der Aufbereitung und Vermittlung der gesundheitsrelevanten Informationen beschäftigen, um sie medienwirksam einem Publikum zu präsentieren." Wie das konkret zu verstehen ist und welche Kompetenzen hier zum Tragen kommen, zeigt sich in persona von Cornelia Betsch, die die Bundeskanzlerin bedarfsgerecht in Sachen Corona berät.
Betsch hat in Heidelberg Psychologie studiert und im Jahre 2006 mit einer Arbeit zum Entscheidungsverhalten promoviert, bei der sie die Präferenzen der Menschen für rationales Überlegen oder affektgetriebenes Entscheiden miteinander verglich. Von Heidelberg aus wechselte sie nach Erfurt, wo sie sich 2013 mit einer Arbeit über "Die Rolle von Risikowahrnehmung und Risikokommunikation bei Präventionsentscheidungen am Beispiel der Impfentscheidung" habilitierte. Damit scheint sie sich in Erfurt empfohlen zu haben, denn sie bekam nach einer kleinen Durststrecke als Akademischer Oberrätin auf Zeit im Jahre 2017 ebendort eine Heisenberg-Professur, d.h. eine für herausragende Wissenschaftler gedachte und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf fünf Jahre befristet finanzierte Professur, die sie bis heute innehat. Nach Ablauf der fünf Förderjahre, also im Jahre 2022, wird Frau Betschs Stelle, wie es das Heisenberg-Programm vorsieht, von der Universität Erfurt in eine unbefristete Professur umgewandelt werden.
Man sieht unschwer, dass Betschs Forschungsgebiet mit Medizin nur insofern etwas zu tun hat, als es ihr darum geht, herauszufinden, wie Menschen in medizinisch schwierigen Situationen – wenn sie bereits erkrankt sind oder eine Erkrankung droht – sich entscheiden. Dabei ist Betsch vor allem daran interessiert, wie dieser Entscheidungsprozess beeinflusst werden kann, und dies wiederum interessiert sie seit ihrer Habilitation vor allem im Kontext der Impfentscheidung. Das wird man für eine verdienstvolle Sache halten, denn wir alle haben natürlich großes Interesse daran, aufgrund bestmöglicher Sachkenntnisse die bestmöglichen Abwägungen über die Chancen und Risiken von Impfungen zu treffen.
Frau Betsch zusammen mit Eckart von Hirschhausen
Egal wie man nun zum Impfen als solchem oder auch zu bestimmten Impftstoffen steht, an dieser Stelle entscheidet sich, ob Wissenschaft Wissenschaft bleibt. Sie bleibt Wissenschaft, wenn sie auf Rationalität setzt und also die objektiven Gründe für Chancen und Risiken von Impfungen benennt, um jedem einzelnen die Möglichkeit zu geben, diese Gründe zur Kenntnis zu nehmen und dann seine informierte Entscheidung selbst zu treffen. Sie bleibt Wissenschaft, wenn sie die intellektuellen und emotionalen Prozesse untersucht, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen und die jeder kennen sollte, der nicht aufgrund von Affekten Fehlentscheidungen treffen will. Wissenschaft aber liegt dann nicht mehr vor, wenn sie sich für Ziele in Dienst nehmen lässt, die sie selbst nicht mehr reflektiert, sondern denen sie nur noch mit ihren Methoden zuarbeitet. Und zwar so, dass diese wissenschaftliche Zuarbeit die unreflektierten Ziele dem Publikum gegenüber als wissenschaftlich apporbierte Ziele legitimiert.
Frau Betsch hat diese Entscheidung so getroffen, dass sie aus der wissenschaftlichen Untersuchung der Impfbereitschaft nicht nur die Untersuchung der Beeinflussbarkeit von Impfentscheidungen machte, sondern diese wiederum als Untersuchung all jener Faktoren verstand und bis heute versteht, die es braucht, um Menschen zu einer Entscheidung zugunsten der Impfung zu bringen. Ein einfacher Blick auf ihre Publikationsliste spricht hier Bände. Da geht es um "Overcoming healthcare workers’ vaccine refusal" (2014), indem man an die soziale Verantwortung der Ungeimpften appelliert. Es geht darum, die Rahmenbedingungen der staatlichen Impfpolitik durch "Anreize" so zu setzen, dass man auf das mühsame Argumentieren verzichten kann, wenn man erreichen will, dass sich mehr Menschen impfen lassen: "Using Behavioral Insights to Increase Vaccination Policy Effectiveness" (2015). Und für dieses Ziel kann man dann auch ein wenig die "Selbstsucht" der Menschen ins Spiel bringen: "Selfish-rational non-vaccination" (2016).
Die Zielrichtung ist damit klar, und wer es noch nicht verstanden haben sollte, dem erklärt es Frau Betsch zusammen mit dem Kabarettisten und Mediziner Eckart von Hirschhausen an einer so prominenten Stelle wie dem Deutschen Ärzteblatt in zweifelsfreiem Deutsch und kurz vor dem Ausbruch der Corona-Krise: Es geht darum, "das Impfangebot in der Praxis zu optimieren. Dabei ist der Abbau praktischer Barrieren ein wichtiger Schritt, die vertrauensvolle Gesprächsführung und sachkundige Aufklärung über Mythen und Krankheitsrisiken ein weiterer Baustein. Gehen Sie mit Ihrer eigenen Impfung mit guten Beispiel voran. Laden Sie Ihre Patientenen dazu ein, Sie auf das Impfen anzusprechen."
Das alles münzt sich für Betsch in Zeiten von Corona natürlich bestens aus. Denn nun kann sie mühelos ihre gesundheitskommunikative Expertise auf Covid-19 erweitern und am neuen Gegenstand fortführen, was sie bislang so gut schon getan hat: die staatliche Gesundheitspolitik unterstützen, indem sie darüber schreibt, dass eine Maskenpflicht zu einer besseren Akzeptanz von Masken führe als keine Maskenpflicht, oder indem sie darauf hinweist, dass eine medial ausbalancierte Berichterstattung zur Impffrage, die auch "Wissenschaftsleugner" (gemeint sind: Impfgegner) zu Wort kommen lässt, die Verbreitung von Falschinformationen fördere.
„Infodemie“ möglichst flach halten
Das Ganze kulminiert schließlich in einem von Betsch mitverantworteten „Kommunikationshandbuch zum COVID-19-Impfstoff", in dem die interessierte Öffentlichkeit erfährt, dass Impfstoffe jede Minute fünf Leben retten, dass es inzwischen mehrere hochwirksame Impfstoffe gegen Covid-19 gebe, deren Nebenwirkungen nur vorübergehend seien, und dass Menschen zwar nach der Impfung, aber nicht wegen der Impfung sterben werden. Es sei daher wichtig, sagt das "Kommunikationshandbuch", dass die Ärzte Vertrauen in die Impfstoffe zeigen und entsprechend beraten, indem sie vor den Augen und Ohren der Patienten Pseudo-Experten entlarven, logische Trugschlüsse enttarnen und Verschwörungsmythen aufdecken. Auf diese Weise soll die Kurve der "Infodemie" möglichst flach gehalten werden.
Wer wissen will, wie sich ein solches Verständnis von Wissenschaft, das sich gegen Pseudowissenschaft wortreich abgrenzt und doch in jedem Satz nichts anderes als Pseudowissenschaft ist, in gelebter Kommunikation ausprägt, hat in Frau Betsch reiches Anschauungsmaterial. Denn als telegene Gesundheitskommunikatorin weiß sie öffentlich zu sprechen und tut es offenbar auch deshalb gerne, weil sie der Infodemie die Stirn bieten will.
So führte sie am 6. Dezember 2020 in einem Interview mit der tagesschau aus, dass dann, "wenn das Wissen da sei, dass es eine schnelle, drastische Kontaktreduktion braucht, um die Fälle zu reduzieren", 60 Prozent der Menschen die Regierungsmaßnahmen billigen und härtere Maßnahmen befürworten. Freilich, so erfährt der Zuschauer, gebe es auch Maßnahmengegner, die seit März 2020 konstant etwa 20-25 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das seien vor allem Menschen, die der Regierung mißtrauen und sich selber wenig informieren. Es brauche daher klare Ziele, dann würden die Menschen auch harte Maßnahmen mittragen. Eine Woche später wurde von der offenbar bestens informierten Regierung beschlossen, die "Infektionsschutzmaßnahmen" zu verschärfen.
Man kann das sechsminütige Interview mehrfach schauen und wird feststellen, dass an keiner Stelle geklärt wird, auf der Basis welchen Wissens Kontakreduktionen als geeignete Maßnahmen zur Ansteckungsverminderung gelten. Ein solches Wissen müsste in der Lage sein, Argumente zu benennen und zu gewichten. Statt dessen spricht Frau Betsch in diesem Interview wie auch in zahlreichen anderen stets nur von einem "Wir sehen, dass", verweist also auf eine von ihr erhobene empirische Datenlage, die die Wirklichkeit, wie sie ist, beschreiben soll. Zu dieser Wirklichkeit gehört sicherlich die von den Medien propagierte und öffentlich geteilte Meinung, Maskentragen und Kontaktreduktionen seien maßgebliche Faktoren des Infektionsgeschehens. Ein Wissen ist ein solcher empirischer Befund zum Stand der öffentlichen Meinung natürlich nicht, auch dann nicht, wenn es die Meinung von Frau Betsch ist. Die obendrein das Kunststück fertigbringt, die Mitmacher für informiert und die Maßnahmengegner für uninformiert zu halten.
Nicht Wissenschaft, sondern Propaganda
Am 4. Januar 2021 hat sie dann Gelegenheit, in „Hirschhausens Sprechstunde" nicht nur Impfhoffnungen zu verbreiten, sondern auch das Argument aus dem "Kommunikationshandbuch" unter das zuschauende Volk zu streuen, dass nicht jeder, der nach einer Impfung stirbt, wegen der Impfung stirbt (ab Minute 39:00). Über diese Aufklärung freut sich Betschs zweimaliger Koautor und Sendungsmoderator von Hirschhausen öffentlich sehr, verpasst aber ebenso wie Frau Betsch die eigentliche aufklärende Pointe, dass es in der Debatte um Corona bis heute genau andersherum zugeht; nämlich so, dass alle Menschen, die nach einer positiven Testung auf Sars-CoV-2 versterben, als Virusopfer gelten und in den Statistiken so geführt werden. Kausalitäten und Koinzidenzen, so lernen wir an dieser Stelle, sind eine flexible Sache, die man handhaben kann, wie man’s braucht.
Und Ende Januar, als es in einem Videopodcast mit dem rbb konkret um’s Impfen gegen Corona geht, sagt Frau Betsch nicht nur, "wir alle" hätten den Impfstoff seit dem Frühjahr "herbeigesehnt", sondern will auch argumentativ eine Lanze für die Impfung brechen, indem sie sich gegen Falschinformationen und Verschwörungstheorien stellt. Aber auch hier ist es so, dass der Zuschauer kein einziges Argument erfährt, anhand dessen eine Entscheidung für oder gegen die Impfung substanziell abgewogen werden könnte. Statt dessen genügt es Frau Betsch, das Problem der richtigen oder falschen Impfinformationen durch einen Hinweis auf den YouTube-Kanal des Robert-Koch-Instituts aus der Welt zu schaffen. Danach muss sie dann nur noch die folgsamen Medien mit ins Informationsboot holen, indem sie sich nun auch öffentlich gegen eine "falsche Balance" der Berichterstattung ausspricht, die darin bestehe, den vom wissenschaftlichen Konsens Abweichenden denselben Raum wie den Mainstreamwissenschaftlern zu geben.
Lassen wir Frau Betsch selber sprechen: "Und es gibt Studien, die zeigen, dass solche balancierten Diskussionen dazu führen können, dass die Zuschauer verunsichert werden und hinterher auch nicht mehr so richtig wissen, was die Wissenschaft jetzt eigentlich dazu sagt, weil: die streiten sich ja. Und wenn man Zweifel hat, dann macht man im Zweifelsfall eher nichts, bevor man was Falsches tut. Und wenn man nichts tut, dann impft man auch nicht."
Wir bislang glaubte, Wissenschaft sei der wissenschafts- und medienöffentliche Streit um das beste Argument, wer glaubte, Wissenschaft sei im Grunde der Institution gewordene Zweifel, der findet sich nun von Frau Betsch eines besseren belehrt: Eine solche Wissenschaft, so bemerkt Frau Betsch ganz zurecht, kann nicht mehr ohne weiteres zu einfachen Beratungszwecken herangezogen werden, fürs Impfen nicht und für anderes auch nicht. Eine solche Wissenschaft ist daher, um an dieser Stelle nun endlich die Kanzlerin zu zitieren, "nicht hilfreich". Daraus wäre dann allerdings der einfache Schluss zu ziehen, dass eine hilfreiche Wissenschaft nur eine solche sein könnte, die keine streitende und zweifelnde Wissenschaft mehr wäre. Der Name für diese Art von öffentlicher Meinungsbeschaffung auf Anforderung lautet traditionellerweise aber nicht Wissenschaft, sondern Propaganda.
Ich weiß nicht, ob Betsch in diesem Punkt wenigstens den öffentlichen Verlautbarungen der Kanzlerin folgen würde, wonach man die Dinge vom Ende her betrachten muss. Dann hätte Frau Betsch nun freilich einiges zu denken. Ich ahne allerdings, warum Betschs Professur in Erfurt im Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft untergebracht ist. Den Schlüssel dafür liefert der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan, der vor langer Zeit schon zu dem Schluss kam: Das Medium ist Massage.