Roger Letsch / 05.09.2018 / 11:00 / 35 / Seite ausdrucken

„WirSindMehr“ ist ein gefährliches Argument

Hashtags erzählen keine Geschichte, sie erklären nichts. Hashtags sind Verkürzungen und zugleich Scheiterhaufen, auf die jeder sein Hölzchen werfen darf, solange es nur gut brennt. Hashtags betreiben die Fastfoodisierung der politischen Debatte. Denn differenzieren kann man nicht, wenn man nur brennende Holzscheite wirft. Der Hashtag „Wirsindmehr“, der als Abwehrzauber vermeintlicher „Hetzjagden“ in Chemnitz benutzt wurde und in einem Gratiskonzert gipfelte, bei dem man „für einen guten Zweck“ den Mord an Dennis H. instrumentalisierte, ist der perfekte Anlass, kurz innezuhalten und zu schauen, ob wir uns wirklich in eine gute Richtung bewegen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand unter den Konzertbesuchern auf die Idee kam, sich Gedanken über die tiefere Bedeutung dieses „Wir sind mehr“ zu machen. Doch dieser Satz, der etwas ausführlicher ja heißen will „Wir sind mehr als ihr, deshalb sagen wir, wo es lang geht, was richtig und was falsch ist“ grenzt aus und zieht eine scharfe Linie zwischen „Uns“ und „Denen“. Hier findet eine Exkommunikation von Meinung statt – und zwar durch ausgerechnet jene Menschen, die sich mit großer Vehemenz gegen Ausgrenzung, Diskriminierung oder Rassismen gefühlter oder tatsächlicher Art einsetzen. „Wirsindmehr“ ist das hashtag-gewordene Mehrheitsprinzip, nicht Ausdruck von Demokratie oder deren Verteidigung, wie behauptet wird, sondern Ausdruck von Gruppendynamik und Schwarmverhalten.

„Wirsindmehr“ ist ein Prinzip, mit dem man alles rechtfertigen könnte, wenn eine Mehrheit es befindet. Mit „Wirsindmehr“ lässt sich auch ein Anspruch von einer Milliarde afrikanischer Globalisierungsverlierer auf Leistungen des deutschen Sozialstaats gegenüber 80 Millionen Deutschen begründen. Erdogan wandelte die demokratisch verfasste Türkei mit „Wirsindmehr“ in ein autokratisches System um. Demokratie geht sicher anders.

Freiheit und Recht unterliegen nicht dem Mehrheitsprinzip

Demokratie bedeutet, dass keine Mehrheit sich an den verbrieften Rechten aller vergreift, auch nicht an den Rechten derer, die sich nicht zur Mehrheit rechnen. Dieses Prinzip gerät vollkommen aus dem Blick der Öffentlichkeit und der Politik. „Wirsindmehr“ ist, was im Kopf des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein vorgeht, wenn er laut über Koalitionen mit den Linken nachdenkt. Richtig ist für ihn, was ihm eine Mehrheit und damit den Machterhalt sichert, politische Prinzipien zählen da nicht.

Unter der Losung „Wirsindmehr“ gäbe es in Familien mit drei Kindern zum Mittag nur noch Gummibärchen und Limonade, es lassen sich unter diesem Slogan aber auch Bücherverbrennungen rechtfertigen, Autoren erpressen, Kreditrückzahlungen einstellen, Enteignungen vornehmen oder Gedanken verbieten. Vielleicht wäre genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, ernsthaft darüber nachzudenken, ob man das Prinzip der Freiheit und des Rechts wirklich dem Mehrheitsprinzip opfern sollte. Denn wenn in 50 oder 100 Jahren unter der „Wirsindmehr“-Fahne die Einführung der Scharia in Deutschland gefordert werden sollte, ließe sich die Intention eines Hashtags aus dem Jahr 2018 nicht mehr ändern.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.

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Test 45: 51019

Michael Obermaier / 05.09.2018

Ich lese den Hashtag wirsindmehr anders, nämlich als ungewolltes Eingestehen der Tatsache, eben nicht die Mehrheit zu vertreten, jedoch so zu tun, als ob, wobei es im Grunde um nichts als die Angst geht, als Minderheit die Hoheit zu verlieren.

Arnd Siewert / 05.09.2018

Die Berichterstattung zu Chemniz-wie jetzt eingeräumt- ist (meines Erachtens)Volksverhetzend und Unwahr. In einem Rechtsstaat erwarte ich das die Stastsabwaltschaften Ermittlungen aufnehmen- gegen Regierung und ÖR.Es muss hier Rechtspflege her und diesesNazi - verleumdungsgelaaber muss und Strafe gestellt werden!

Rudi Knoth / 05.09.2018

Nun das ist sicherlich ein Punkt, über den man nachdenken sollte. In einer Diskussion sollte eher die Stärke der Argumente als die Zahl der Vertreter eines Standpunktes von Bedeutung sein. Vor allem wird es dann bedenklich, wenn aggressive Vertreter der "Mehrheitsmeinung" dieses als Rechtfertigung von Gewalt etc benutzen. Vor allem sollte man bei dem Begriff "Kampf gegen Rechts" sich überlegen, ob wirklich der Dialog und die Überzeugungsarbeit oder das "Mundtot machen" das Ziel ist.

Johannes Ritter / 05.09.2018

Vorweg: Mir behagt der Hashtag auch nicht. Allerdings hatte ich ihn spontan als Reaktion auf das "Wir sagen das, was die schweigende Mehrheit denkt" gewertet, mit dem von "der anderen Seite" gerne fremdenfeindliche Haltungen schöngeredet werden.Insofern hat das schon seine Begründung, aber wie der Autor schon sagt: Hashtags verkürzen.

Jochen Lindt / 05.09.2018

Das "Wir sind mehr"Konzert war nur eine Jubelveranstaltung für die Regierungspolitik. Das ist alles. Mit Mehrheiten und Minderheiten hat das alles nichts zu tun, geschweige denn mit den realen Verhältnissen. In der DDR wurde bis zum letzten Tag gejubelt. Der Vorhang viel trotzdem.

Andrea Hendrich / 05.09.2018

Guter Artikel! Allerdings heisst der erstochene Tote "Daniel Hillig", vermutlich der eiligen Feder geschuldet. Die Linken hatten diesen Vornamen fälschlicherweise irgendwo auf den sozialen Medien verbreitet... was zeigt, wie sehr es um den Toten ging. Wie erbärmlich.

Kay R. Ströhmer / 05.09.2018

Gerade hat MP Kretschmer in seiner Regierungserklärung noch einmal ausdrücklich klargestellt, dass es keine Hetzjagden gegeben hat, die entsprechenden Behauptungen somit falsch sind. Sowas nenne ich einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten von BK Merkel.

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