Während das Publikum mal wieder jammert oder hämt, je nach Gemütslage, setzt die Financial Times (FT) fort, was eigentlich Aufgabe der deutschen Wirtschaftsmedien oder Aufsichtsbehörden gewesen wäre. Sie durchleuchtet den Trümmerhaufen, der mal der deutsche Beitrag zur IT-Zukunft gewesen sein sollte.
Aufgrund von internen Unterlagen kommt FT in ihrem neusten Stück über Wirecard zum Schluss, dass nicht nur Scheinfirmen Scheinumsätze und Scheingewinne herstellten. Auch die Anzahl der Kunden, die Zahlungsdienste der Firma benützten, war offenbar gröblich aufgepumpt worden.
Lediglich "100 Kunden machten 50 Prozent aller Verkäufe aus", stellt FT aufgrund interner Unterlagen fest. Dabei hatte Wirecard noch 2017 getönt, dass man über 33.000 grosse oder mittelgrosse Firmen als Kunden habe, dazu 170.000 kleine. Diese angeblich rasante Ausweitung des Geschäfts machte Wirecard zum Börsenliebling.
FT macht sich darüber lustig, dass der gefallene Superstar Braun ebenfalls 2017 damit beeindruckte, dass seine Firma modernste Technologie verwende, darunter auch selbstlernende Systeme aus dem Bereich Künstliche Intelligenz. Gleichzeitig wurde aber die interne Kundenaufstellung mittels eines altmodischen Excel-Sheets gebasteltt.
Zu den grössten Umsatzbringern gehörte eine Online-Bank aus England und ein Firmengeflecht, das Online-Gambling betrieb. Dazu gesellten sich Einnahmen aus dem Zahlungsverkehr von Pornoseiten, dubiosen Finanzdienstleistern und ähnlichen Geschäften, die ein seriöser Zahlungsverkehrsanbieter aus Reputationsgründen normalerweise meidet.
Über 4.000 Porno- und Dating-Webseiten
Etablierter "Acquirer" heissen Zahlungsdienstleister, die beispielsweise mit den grossen Kreditkarten wie Mastercard oder Visa zusammenarbeiten. Und deshalb den Bereich "Unterhaltung für Erwachsene" tunlichst auslassen, weil dort auch das Risiko von Kundenbeschwerden recht hoch ist. Aber Wirecard schien eine lukrative Geschäftsbeziehung zu einem Ring von über 4.000 Porno- und Dating-Webseiten unterhalten zu haben, die von 175 Firmen in England oder auf Zypern geführt wurden, enthüllt FT.
Dieses Geflecht von dubiosen Betreibern von schmierigen Webseiten war in Wirklichkeit der sechstgrösste Kunde von Wirecard, fasst FT zusammen. Da erhebt sich mal wieder die Frage, wieso deutsche Wirtschaftsmedien nicht mal per copy/paste all diese Recherchergebnisse zur Kenntnis nehmen. Vielleicht bringt es der moderne Sparjournalismus mit sich, dass man sich in immer weniger deutschen Newsrooms ein Abonnement der FT leistet.
Lieber beschäftigt man sich mit dem Offensichtlichen. Es wird fleissig berichtet, dass – Überraschung – Firmensitze von Wirecard nochmals durchsucht worden seien. Dann wird vermeldet, was jeder Leser mit einem Blick auch sehen kann, dass der Börsenkurs auf Achterbahnfahrt sei, bis auf knapp einen Euro abgesackt, dann wieder auf 6 Euro gestiegen. Dahinter stünden wohl Spekulanten, wird wohlfeil vermutet. Zudem hätten sich Interessenten gemeldet, die Teile des Wirecard-Konzerns übernehmen wollen. Allerdings ist da doch die Frage, inwiefern das Bilanzloch von 2 Milliarden Euro, auf das immerhin 1,75 Milliarden Kredite aufgenommen wurden, auf Tochterfirmen durchschlägt.
Es ist auch mal wieder Gelegenheit, auf Zocker und Spekulanten einzuprügeln, vor allem auf die Leerverkäufer. Sie seien wie Aasgeier, die schon angeschlagene Firmen in den Untergang rissen und daran auch noch profitieren. Indem sie deren Aktien auf einen zukünftigen Termin zum heutigen Kurs anbieten. Ohne im Besitz der Papiere zu sein, in der Hoffnung, dass sie zum Zeitpunkt der vereinbarten Lieferung billiger gekauft werden können, dass es also in der Zwischenzeit einen Kurszerfall gegeben hat.
Das sei das Letzte, ist man sich weitgehend einig, diese verdammten Aasgeier, das sollte verboten werden. Das war auch in der Finanzkrise eins zeitweise verboten. Das wurde auch von der deutschen Aufsicht Bafin zeitweise ausschliesslich beim Handel mit Wirecard-Aktien verboten. Richtig so, klatschte letztes Jahr die Wirtschaftsjournaille Beifall, damit werde Spekulanten das Handwerk gelegt, die nach einer ersten Welle von kritischen Artikeln in der FT mit Leerverkäufen einen schnellen Reibach machen wollten.
Wichtige Funktion der Gesundheitspolizei
Auch das ist, wie so vieles, was öffentlich herumgeboten wird, falsch. Wer Aasgeier für ein Schimpfwort hält, übersieht, welche wichtige Funktion diese Gesundheitspolizei in der Natur wahrnimmt. Das tun auch Shortseller im Finanzmarkt. Ein ungedeckter Leerverkauf ist, wie vieles im Finanzmarkt, eine Wette auf die Zukunft. Und wetten kann man nicht mit sich selbst abschliessen. Es braucht also jemanden, der die Wette hält. Also damit rechnet, dass beispielsweise in zwei Wochen die Aktie, auf die gewettet wird, teurer zu kaufen ist als heute.
Womit der Leerverkäufer einen entsprechenden Verlust einfährt. Zudem: Wer hat in Deutschland die meisten Finanzskandale aufgedeckt, in letzter Zeit? Aufsichtsbehörden, gar Analysten, Buchprüfer? Quatsch, niemals. Whistleblower, Leerverkäufer und Journalisten waren’s. In dieser Reihenfolge. Denn wie bei Aasgeiern, die sich aufs verendete Tier stürzen, erregen natürlich auch Leerverkäufer Aufmerksamkeit. Für diejenigen, die die Zeichen zu deuten wissen.
Natürlich gab es bei Wirecard immer wieder Spekulationen zum Geschäftsmodell, und daher auch Leerverkäufe. Aber gerade an diesem Beispiel muss man die Frage stellen: Ist es unmoralisch, auf den Niedergang von Wirecard zu setzen, oder ist es unmoralisch, das Betrugsschema, auf dem die Firma aufgebaut war, staatlich zu schützen? Wäre es vor anderthalb Jahren besser oder schlechter gewesen, wenn motiviert durch massive Leerverkäufe das Geschäftsmodell von Wirecard genauer unter die Lupe genommen worden wäre?
Hedgefonds und andere Spekulanten sind keine Kinder von Traurigkeit, das ist wahr. Sie verwenden manchmal, auch darin den Aasgeiern nicht unähnlich, ruppige Methoden, wollen ganze Märkte in ihrem Sinn manipulieren, gieren nach Insiderinformationen. An dem aktuellen Kurszerfall von Wirecard dürften sie bislang rund 300 Millionen Euro verdient haben. Für fast nichts; ausser dem Risiko, auf die falsche Richtung gesetzt zu haben.
Auch Investoren, die auf steigende Kurse setzen, sind ruppige, gar betrügerische Methoden nicht fremd. Das Aufpumpen einer Bilanz und das Herstellen von fiktiven Gewinnen und Guthaben gehört dazu. Genauso wie das Schlechtreden oder Streuen von schädlichen Gerüchten. Das hatte Wirecard FT vorgeworfen. Ein cleverer Trick. Aber auch nicht mehr.
Die deutschen Wirtschaftsmedien haben kläglich versagt
Dass Aufsicht und Börse kläglich versagt haben, dem kann niemand ernsthaft widersprechen. Das wird aber folgenlos bleiben, ausser in Form von zusätzlichen Regelwerken, die den nächsten Skandal genauso wenig verhindern werden wie in der Vergangenheit.
Dass die deutschen Wirtschaftsmedien kläglich versagt haben, das wird – ausser von ihnen selbst – von niemandem ernsthaft bestritten. Auch das wird folgenlos bleiben. Sie werden auch in Zukunft ohne Zwischengas von Jubelschreien auf Skandalrufe umschalten, Wörter wie unfassbar, kriminell, hinterlistige Täuschung wie Nebelpetarden um sich streuen, wenn der nächste Fall Wirecard passiert.
Dass die grossen Prüffirmen EY und KPMG kläglich versagt haben, dem kann auch niemand ernsthaft widersprechen. KPMG monierte zwar fehlende Belege für immerhin eine Milliarde Euro, konnte sich aber nicht zu einem anderen Urteil durchringen, als dass keine Hinweise auf Bilanzfälschung gefunden wurden. EY sträubte sich immerhin im Jahr 2020, den Geschäftsbericht für 2019 zu testieren. Klatschte aber auf seine zehn Vorgänger das Prüfzertifikat. Mit diesen Prüfungen verdienen KPMG und EY und die beiden anderen der Big Four Millionen. KPMG als Platzhirsch alleine an den 30 Firmen im DAX über 350 Millionen Euro. Pro Jahr.
Wird sich hier etwas ändern? Wird die Frage der Verantwortung, der Haftung schärfer gestellt werden? Wird in Zweifel gezogen, dass trotz Millionenhonorare es dem Prüfer nicht möglich sei, so raffinierte Betrügereien wie Scheingewinne durch Scheinfirmen, belegt durch Scheinsalden, aufzudecken? Dass es dem Prüfer nicht möglich sei, das Banalste auf der Welt zu tun, nämlich einen ordentlichen Saldobeleg einzufordern, wenn es immerhin um 2 Milliarden geht?
Dass sich hier etwas ändert, dagegen spricht, dass die Beamtenheere in den Aufsichtsbehörden auf das Know-how und den Goodwill dieser Prüfer angewiesen sind. Sonst ist niemand in der Lage, sich durch das Dickicht schon alleine der deutschen Steuergesetzgebung für grössere Unternehmen einen Weg zu bahnen. Denn Verstösse gegen Erlasse muss der Beamte natürlich ahnden. Verstehen muss er sie dafür aber nicht.