Nehmen wir einen Analysten aus der neutralen Schweiz. Da verzapfte einer noch am Morgen des 18. Juni auf der Finanzplattform "Cash", dass der "faire Werte der Wirecard-Aktie weit über dem aktuellen Kurs" liege. Der betrug damals rund 100 Euro. Dumm gelaufen, denn kurz danach musste Wirecard bekannt geben, dass die Prüfungsfirma EY die Bilanz für das Jahr 2019 nicht testieren wollte. Ein absolut aussergewöhnlicher Vorgang, denn normalerweise hauen die grossen Vier ihren Prüfstempel auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Wurde eine Bilanz per 31.12. als völlig korrekt abgenommen, und am 10.1. deponiert die Firma dann die Bücher, sagt der Prüfer, dass er ja nur eine Momentaufnahme aufgrund der ihm vorliegenden Dokumente testiert habe; in die Zukunft schauen könne er im Fall nicht.
Beim Zahlungsdienstleister Wirecard geht dem aber eine merkwürdige und lange Vorgeschichte voraus. Der auf letzten Donnerstag angekündigte Jahresabschluss für 2019 war bereits zuvor drei Mal verschoben worden. Sollte tatsächlich noch irgend jemand den Zukunftsdeuteleien von sogenannten Analysten vertrauen, dürfte inzwischen der angeblich "faire Wert" der Wirecard-Aktie turmhoch über dem Kurs liegen. Der stürzte nämlich am Donnerstag um 70 Prozent ab.
Das war in diesem Fall überhaupt nicht unvorhersehbar. Denn Wirecard hat eine lange Geschichte von dubiosen Kursentwicklungen. Im Schnelldurchlauf: Wirecard wurde als InfoGenie AG im Jahr 2000 an der Börse gelistet. 2005 wurde die Firma in Wirecard umbenannt und durch die Verwendung eines Börsenmantels (für Kenner: Reverse-IPO genannt) zuerst in den TecDAX und im September 2018 in den DAX aufgenommen.
Echtzeit-Zahlungsabwicklung, zuerst für Online-Casinos und Pornoseiten-Anbieter, dann für alle Online-Händler, das ist das Geschäftsmodell von Wirecard. Eine Boom-Branche mit jährlich zweistellig wachsenden Umsätzen.
Der Platzhirsch der Zahlungsverarbeiter
Wirecard wuchs mit und expandierte über die ganze Welt, schloss Kooperationsabkommen mit den grössten Kreditkarten-Herausgebern, schon 2007 wurde Wirecard Asia gegründet, durch eine Kooperation mit dem grössten Onlinehändler der Welt, Alibaba aus China, wurde Wirecard der Platzhirsch der Zahlungsverarbeiter. E-Commerce, Finanztechnologie, Betrugs-Sicherung durch die Verwendung von Künstlicher Intelligenz, "the sky is the limit", wie der Ami sagt, mit Prepaid-Karten eroberte Wirecard auch den US-Markt.
Genauso schnell wie der Online-Markt explodierte auch der Umsatz von Wirecard. Kontaktloses Bezahlen in Shops, Prüfung der Kreditwürdigkeit des Kunden in Echtzeit, Zahlungsgarantie gegen eine Kommission, kaum ein Gebiet des bargeldlosen Zahlens, das Wirecard nicht bestrich.
Jedes Jahr legte Wirecard neue Umsatzrekorde vor. Von bescheidenen 82 Millionen Euro im Jahr 2006 ging es in einer Kurve, die jedem Anleger Freude machen muss, auf über 2 Milliarden im Jahr 2018 hoch. Und dann das; für 2019 liegen bis heute keine testierten Zahlen vor. Als Wirecard Ende Februar mit "vorläufigen Zahlen" an die Öffentlichkeit ging, ruinierte sich die deutsche Wirtschaftspresse mal wieder kräftig ihren Ruf.
Stellvertretend seien die Jubelschreie zitiert, in die das "Handelsblatt" ausbrach. Zwar werden neckisch "Turbulenzen um die Bilanzierung" erwähnt, aber dann die "nachhaltige Ertragsstärke unsere Geschäftsmodells", wie das Vorstandschef Markus Braun ausdrückte, bejubelt. 40 Prozent mehr Geschäftsgewinn als im Vorjahr, satte 785 Millionen. Umsatzsteigerung wie gewohnt um fast 40 Prozent auf 2,8 Milliarden, für 2020 rechne der Konzern mit einem Ebitda-Gewinn von über 1 Milliarde.
Da muss der Anleger doch zugreifen, sonst verpasst er was
Endlich mal eine IT-Erfolgsstory made in Germany, ermöglicht durch den Riesentyp Markus Braun, der seit 2002 die Firma von Erfolg zu Erfolg führt. Da muss der Anleger doch zugreifen, sonst verpasst er was. Und wo gibt es denn sonst solche Ertragsperlen in trüben Negativ-Zinszeiten.
Noch am 17. Juni, einen Tag vor dem grossen Knall, legte zum Beispiel die auf solche Produkte spezialisierte Schweizer Bank Vontobel ein hübsches Strucki auf. "Reverse Convertible auf Wirecard", Coupon 8,4 Prozent. Wer sich im Newspeak der Banker nicht so auskennt: Ein Reverse Convertible ist ein strukturiertes Produkt, oder ganz einfach ein Wettschein. Eine sogenannte Aktienanleihe mit der Spezialität, dass der Herausgeber oder Emittent am Ende der (meist kurzen) Laufzeit wählen kann, ob er 100 Prozent der Einlage ausbezahlt oder eine vorher definierte Anzahl Aktien liefert.
Oder auf Deutsch: Wer da am 17. Juni einstieg, steht seit 18. Juni eher blöd rum; Investition futsch. Ohne grosse Aussichten auf Erholung. Denn es wurde von Wirecard nicht nur zum vierten Mal die Vorlage einer geprüften Bilanz für 2019 verschoben, die Firma gab auch kleinlaut bekannt, dass ihr möglicherweise in Asien die Kleinigkeit von 1,9 Milliarden Euro abhandengekommen sei.
Hier muss ein Zwischenakt eingeschoben werden, in Form eines Loblieds auf ein Organ der Wirtschaftspresse. Denn leider ist es so, dass englischsprachige Wirtschaftsblätter allem, was auf Deutsch erscheint, turmhoch überlegen sind. Besondere Erwähnung verdienen das "Wall Street Journal", der "Economist" und – die "Financial Times" (FT).
Den Gewinn künstlich aufgepumpt
FT hatte in den letzten Jahren mehrfach auf Ungereimtheiten bei Wirecard hingewiesen. Noch im Oktober letzten Jahres hatte FT kritisiert, dass Wirecard in verschiedenen Ländern den Gewinn künstlich aufgepumpt hatte, Anfang 2019 hatte FT, basierend auf Insider-Informationen, auf Unregelmässigkeiten in Singapur hingewiesen. Diese Artikel lösten jeweils kurzzeitig einen Taucher des Aktienkurses von Wirecard aus.
Aber die Firma schoss zurück. Sie warf FT sogar vor, dass Mitarbeiter des Weltblatts mit Spekulanten kungeln würden. Bevor ein weiterer kritischer Artikel erscheine, der den Börsenkurs wieder nach unten schickt, würden aus FT heraus Börsenhändler vorinformiert, die dann mit gehebelten Short-Verkäufen unsaubere Gewinne einfahren könnten. Wirecard reichte sogar Strafanzeige gegen FT ein.
Aber die meisten Analysten und die deutsche Wirtschaftspresse nahmen diese Vorwürfe von FT nicht sonderlich ernst. Als der Kurs noch bei rund 100 Euro lag, wurde flächendeckend prognostiziert, dass er sich ohne Weiteres dieses Jahr auf 200 Euro verdoppeln könne. Erfolgsstorys wie die von Wirecard und vom Guru Braun zögen immer Neider auf sich, Miesmacher, dieses Rumgemecker sollte man doch einfach ignorieren.
So tönte auch der grosse Chef Braun. Bis er dann per sofort zurücktrat, nachdem er noch tags zuvor um Vertrauen geworben hatte. Er wollte noch die Verweigerung des Prüftestats durch EY schönreden und verwies auf eine Sonderuntersuchung durch KPMG. Die war von Wirecard in Auftrag gegeben – und bezahlt worden. Überraschenderweise fand KPMG Ende April zwar einige organisatorische Mängel, aber keinerlei Hinweise auf Bilanzfälschung.
Wàhrend Braun aber noch tapfer das Loblied auf Wirecard sang, stiess er gleichzeitig den grössten Teil seines Aktienpakets ab. Das spülte ihm 150 Millionen Euro in die Kasse, während die Aktionäre die hübsche Summe von 1,9 Milliarden ans Bein streichen konnten. Das kam der Münchner Staatsanwaltschaft doch etwas preussisch vor, sie buchtete Braun am Montag kurzfristig ein. Aber 5 Millionen Euro später war er wieder auf freiem Fuss.
Die Kacke fing aber in dem Moment an, richtig zu dampfen, als die philippinische Bank BDO dementierte, dass Wirecard bei ihr ein Treuhandkonto unterhalte. Damit lösten sich offenbar rund 2 Milliarden Euro, die bei der BDO und einer weiteren philippinischen Bank lagern sollten, schlichtweg in Luft auf. Schlimmer noch: Damit löst sich wohl auch Wirecard in Luft auf. Denn in solchen Fällen erschallt der Schreckensruf des "Margin Call".
"Grossartigste Firma der Welt"
Gemeint ist damit, dass Banken Kreditlimiten kündigen müssen, wenn die ihnen unterlegten Sicherheiten deutlich an Wert verlieren oder sich gar in Rauch auflösen. Ausser, es werden neuen Sicherheiten gestellt. Durch den Verlust dieser zwei Milliarden sind logischerweise weitere zwei Milliarden an Krediten gefährdet, und einen solchen Schlag übersteht eine Firma normalerweise nicht.
Normalerweise. Denn entweder entwickelt sich hier ein Krimi, der an den Enron-Skandal in den USA erinnert. Die laut Eigenwerbung "grossartigste Firma der Welt" mit damals 22.000 Angestellten legte 2001 mit Bilanzfälschungen den bis dato grössten Skandal der US-Wirtschaftsgeschichte mit einem Schaden von über 40 Milliarden Dollar hin.
Es waren schon alle Zutaten dabei, die dann 2008 zur grossen Fast-Kernschmelze des Finanzsystems führten. Noch kurz vor dem Zusammenbruch von Enron hatte sich das Management kräftige Bonuszahlungen gegönnt; der CEO strich gar eine Abfindung von 300 Millionen Dollar ein. Im Strudel des Skandals ging dann auch die Prüfungsfirma Arthur Anderson unter. Und natürlich hatten die grossen Ratingagenturen, darunter Standard & Poors oder Moodys, Enron noch kurz vor der Pleite eine "vorzügliche Bonität" bescheinigt.
Wird Wirecard also Enron Reloaded in Deutschland? Das kommt darauf an. Die hässliche Seite eines Margin Calls ist, dass die Kreditbanken sich bei einer Pleite von Wirecard rund 1,5 Milliarden ans Bein streichen könnten. Das ist bei den weiterhin dünn kapitalisierten Zombie-Banken in der Eurozone kein Pappenstil.
Während sich also der Master of Desaster Braun abgeseilt hat, ist nun die Frage, wie genau es denn einem Finanzdienstleister mit eigener Betrugsentdeckungs-Software passieren konnte, dass ihm einfach mal so 1,9 Milliarden abhanden kamen. Wieso innerhalb der Firma niemand den wiederholten Berichten von FT nachging. Wie es überhaupt möglich ist, dass – Kenntnisstand heute – ein paar gefälschte Unterschriften und der Briefkopf einer Bank ausreichen, um die Existenz von Treuhandkonten in dieser Grössenordnung zu bestätigen.
Natürlich ist wie immer die Frage, wer was wann wusste. Und bis wie weit hinauf das Wissen reichte. Und ob sich die Führungsetage mit Nichtwissen rausreden kann. Noch entscheidender wird aber sein, ob der deutsche Staat, der ja sowieso die Spendierhosen gar nicht mehr runterkriegt, Wirecard unter die Arme greifen wird. Nachdem schon das schöne Sommermärchen der Fussball-WM in einem Korruptionssumpf versank, wäre es doch sehr bedauerlich, wenn nun auch noch die deutsche Antwort auf Silicon Valley und die Chinesen in einer Milliardenpleite verschwände.