Hier ein ganz persönliches Eingeständnis. Ich fürchte, ich bin nicht woke. Jawohl, nicht woke. Ich hätte auch keine Chance, denn der alte weiße Mann ist der Erzfeind der Woke-Gemeinde. Woke, die kämpferische politische Überkorrektheit, hat die angelsächsische Welt längst erfasst. Deutschland eigentlich auch schon. Nur wissen hier viele noch nicht so recht, dass die überkorrekten Kampfhennen und -hähne woke sind. Aber das kommt schon noch.
Es dauert immer ein bisschen, bis die coolen Begriffe aus Amerika zu uns herüberschwappen. Cool war ja auch so einer. Und Bro, eine Kurzform von Brother, die ursprünglich nur Afroamerikaner untereinander benutzten. Deutsche Rapper (auch so ein Begriff) haben aus dem Bro einen Bra gemacht. Passt schon, wenn man davon absieht, dass Bra auf englisch ein Büstenhalter ist.
Nun gut, zurück zu woke. Das Wort ist amerikanischer Slang für aufgewacht, erwacht. Wer woke ist, ist erwacht. Sollte das den einen oder anderen Leser an das „Erwachet“ der Zeugen Jehovas erinnern, so ist das durchaus angebracht. Ob fromme Sekte oder linke Kulturkampf-Truppe: Das ist in Stil und Methode nicht von Belang. Auch die Woke-Sekte, die allerdings dabei ist, eine größere Religionsgemeinschaft zu werden, hat vom Berg Sinai oder sonst woher eine Reihe eherner Gebote auf uns Erdenbürger hernieder gebracht.
Das erste Gebot: Du sollst nicht weiß sein. Weiße stehen unter Rassismus-Generalverdacht und müssen Buße tun, indem sie jede gedankliche Differenzierung in Rassen- und Kolonialfragen vermeiden und bei jeder Gelegenheit als Mantra bekennen: Ich bin kein Rassist. Wer, wie neulich Barack Obama, sagt, die Welt sei nicht nur schwarz oder weiß, ist nicht woke. Obamas Ausrutscher in die Vernunft – sein Schwarzsein wurde ja schon immer infage gestellt – wurde sofort geahndet: Mit dem Verweis, dass er nunmehr in das Lager der alten, in seinem Fall halbweißen Männer übergewechselt sei.
Aus dem Avantgarde-Kader ausgestoßen
Zweites Gebot: Du kannst nicht einfach eine Frau sein. Frauen verlieren ihre Zugehörigkeit zum woken Frausein, wenn sie die Gebote der neuen Emanzen-Diktatur missachten. Dazu gehört auch das Gebot, dass nicht nur Frauen Frauen sind, sondern auch Männer, die Frauen sein wollen, mal operativ, mal auch nur psychologisch. Wer sagt, es gebe einen (kleinen?) Unterschied (z.B. Kinder gebären) zwischen Bio-Frauen und Trans-Frauen, wird entwoked. So ist die einst hochverehrte Frauenrechtlerin Germaine Greer, Autorin des „weiblichen Eunuchen“, als Gender-Renegatin aus dem Avantgarde-Kader der Woke-Genderinnen ausgestoßen und mit Redeverboten belegt worden. Dass ich in diesem Zusammenhang die altkommunistischen Begriffe „Renagat“ und „Avantgarde-Kader“ benutze, ist kein Zufall, sondern als Richtungsbeschreibung der Woke-Gemeinde beabsichtigt.
Die britische Journalistin Julia Hartley-Brewer, auch eine aus dem engen Zirkel der ultrakorrekten Feministinnen Ausgestoßene, schildert ein besonders aufschlussreiches amerikanisches Beispiel von woke: Dort stand eine Transfrau, die natürlich in ein Frauengefängnis eingeliefert wurde und dort ihr Unwesen trieb, vor Gericht. Warum? Weil sie, so die offizielle Formulierung, „mit ihrem Penis“ eine Mitgefangene sexuell genötigt haben soll. Mit „ihrem Penis“. Das ist woke, wie es woker kaum sein kann. Wer behauptet, da hat sich ein Mann in das Frauengefängnis hineingeklagt und dort echte Frauen vergewaltigt, gehört in die Hölle des Unwokeseins.
Drittes Gebot: Schwulsein allein reicht nicht, um woke zu sein. Man muss auf eine ideologisch korrekte Weise schwul sein. Die Zugehörigkeit zu einer lange verfolgten und benachteiligten Minderheit schützt nicht vor Entfernung aus dem Lager der unter Opferschutz Stehenden. Wer nicht den strikten Glaubensbekenntnissen der Erwachten folgt, fliegt raus.
Einer der profiliertesten Kritiker der Erwoketen, der bekennende Homosexuelle Douglas Murray, hat seinen Status als offiziell anerkannter Schwuler verloren, weil er in zwei Büchern die Woke-Community kritisch beleuchtet. Der Engländer sieht in der Bewegung eine Bedrohung für die freiheitlichen Traditionen unserer westlichen Demokratien.
Als eine dieser Bedrohungen betrachtet er auch die grenzenlose Einwanderung vor allem aus Ländern des Islam nach Europa. Hier sind wir beim vierten Woke-Gebot angelangt: Du sollst deinen moslemischen Nachbarn, auch den fundamentalistischen, so lieben wie dich selbst. Murray gilt in der Woke-Community als Rassist und islamophob. Dass dieser Vorwurf jeden und jede treffen kann, zeigt das Kölner Beispiel: Als auf der Domplatte jugendliche Horden nahöstlicher Herkunft systematisch Frauen und Mädchen belästigten, wagte die Emma-Gründerin Alice Schwarzer den Hinweis, man solle nicht Fremdenliebe über Frauenliebe stellen. Das hat der Erzfeministin in der als solche noch nicht firmierenden, aber bereits aktiven Woke-Community keine Freundinnen gemacht.
Sie fühlen sich nicht frei, ihre Meinung zu äußern
Douglas Murray hat mit seinen zwei Büchern den Finger in all diese Wunden gelegt. Er nennt sich neokonservativ, was in einer Demokratie erlaubt sein sollte, auch wenn es nicht woke ist. Angela Merkels totale Grenzöffnung für eine runde Million moslemischer Migranten sieht er als eine Folge des deutschen Schuldkomplexes. Wie die meisten Brexit-Briten hält er allzu weit geöffnete Grenzen für fatal.
In seinem Buch „Der Selbstmord Europas“ hat Murray für ganz Europa vorhergesagt, was Thilo Sarrazin zum Entsetzen der SPD in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ geschrieben hat. Auch in seinem Buch „Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften“, beschreibt Murray die Gefahr, die er von der antitoleranten Woke-Bewegung ausgehen sieht.
Dass er sich dabei nicht in einem luftleeren Raum bewegt, lässt eine aktuelle Umfrage der Knight Foundation unter amerikanischen Studenten erkennen. Darin sagten fast die Hälfte (46 Prozent), in der universitären Debatte sei die sprachliche Inklusion von Minderheiten, ob Rasse oder sexuelle Orientierung, wichtiger als das in der Verfassung verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung. Mehr als die Hälfte sagten, sie fühlen sich nicht frei, ihre Meinung zu äußern. Das kann nicht als Überraschung kommen. Woke hatte seinen Ursprung an den Universitäten, ehe in Politik und etlichen Medien das Prinzip woke seinen Eingang fand. Redeverbote an Universitäten gehören heute zum Alltag. Die große Mehrheit ist zwar nicht woke, wird aber immer mehr mit dem Woke-Unwesen konfrontiert.
Sie fühlen sich nicht frei, ihre Meinung zu äußern. Als alter weißer Mann kann ich mich darüber amüsieren. Ich stehe ja nicht mittendrin in dem Theater. Und die Erfahrung lehrt, dass jede Zeit ihren ganz speziellen Unfug hervorbringt, der dann von der nächsten Generation als solcher entlarvt wird. Mal sehen, was die Generation sagt, die der Woke-Generation folgt. Wenn es den Woke-Kämpfern von heute eines Tages so geht, wie den früheren Hippies mit ihrem BWL studierenden und Anzug tragenden Nachwuchs, kann es noch lustig werden.