Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! Neuere "wissenschaftliche" Kriminalitätsstudien wollen mit allerlei Tricks zeigen, dass die Menschen das Kriminalitätsgeschehen im Lande überschätzen.
Die Kriminologie untersucht Ursachen und Erscheinungsformen des Verbrechens. Dass diesem Wissenschaftszweig und seinen Erkenntnissen aber mittlerweile vielfach mit Skepsis oder gar Ablehnung begegnet wird, mussten sich seine Fachvertreter erst hart erarbeiten. Beispielsweise durch solche oder ähnliche Untersuchungen wie die großzügig steuerlich finanzierte Studie zur Clankriminalität der TU Berlin. Die NZZ kommentierte dazu treffend:
„Die steuerlich geförderte Verniedlichung der Clankriminalität muss aufhören. Laut einer teuren Studie soll die Gesellschaft an der Kriminalität einiger arabischer Grossfamilien schuld sein – weil Deutschland rassistisch sei. Das führt in die Irre, denn die Wurzel des Problems liegt in der kopflosen Migrationspolitik.“
Geradezu undenkbar wären doch wohl die folgenden – natürlich fiktiven – Meldungen aus dem kriminologischen Lager: „Kriminologen raten Bundesregierung dringend von weiterer unkontrollierter Migration aus Nordafrika ab – Kriminalitätsrisiko besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu hoch.“ Oder: „Kriminologen-Kongress verabschiedet Forderung nach massiver Ausweitung der Abschiebehaft für kriminelle Migranten“. Auf solche oder ähnliche fachlich-kriminologische Einlassungen werden wir aber wohl noch eine geraume Zeit warten müssen. Konjunktur haben weiterhin Studien, die zumindest grundsätzlich geeignet sind, das untersuchte Problem zu relativieren.
Eine schwierige Frage
Ein solches Potenzial bietet zum Beispiel die Frage, ob die Bevölkerung Deutschlands – beziehungsweise eine entsprechende repräsentative Stichprobe – in der Lage ist, die hiesige Kriminalitätshäufigkeit realistisch einzuschätzen. Das Ergebnis von bereits durchgeführten kriminologischen Studien war stets, dass die Befragten eher dazu neigten, die Kriminalität zu überschätzen, was von den Forschern dann wiederum als Steilvorlage benutzt werden konnte, um mit aller wissenschaftlichen Reputation darauf hinzuweisen, dass die Lage gar nicht so schlimm sei, wie sie von vielen wahrgenommen werde. Und: je größer der Unterschied zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kriminalität, umso besser für die Kriminologie.
Eine solche Studie hat auch Dr. Deliah Wagner vom Chemnitzer Zentrum für Kriminologische Forschung durchgeführt und sich dazu kürzlich in einem Welt-Interview näher erklärt: Die Kriminalität, so Wagner, werde von den Menschen „stark“ überschätzt. Sie bezieht sich dabei auf die von ihrer Arbeitsgruppe in diesem Jahr veröffentlichte repräsentative Quer- und Längsschnittstudie an initial gut 5.000 Personen, in der es, anders als die WELT-Überschrift behauptet, nicht nur um Gewalt-, sondern die Gesamtkriminalität in Deutschland geht. Ein ja nicht ganz unwichtiger Unterschied.
Kein statistisch signifikanter Zusammenhang
Im Folgenden soll es nur um die Querschnittsstudie gehen, deren Daten im Frühjahr 2023 an knapp 2.000 Personen erhoben wurden, einer Teilmenge der oben genannten gut 5.000. Die Studienteilnehmer sollten auf einer siebenstufigen Skala einschätzen, wie sich die Gesamtkriminalität in ihrem Landkreis (oder ihrer kreisfreien Stadt) in den fünf Jahren von 2018 bis 2022 wohl entwickelt hat: in etwa gleichgeblieben, mehr oder weniger zu- oder abgenommen? Die Befragten repräsentieren lediglich 355 der insgesamt 400 Landkreise bzw. kreisfreien Städte. Der naheliegenden Frage, ob das irgendwelche Auswirkungen auf die Repräsentativität hatte, wird im Forschungsbericht nicht näher nachgegangen.
Beim Vergleich zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kriminalität ergab sich, dass die große Mehrheit der Befragten (89 Prozent) der Meinung war, dass die Kriminalität während der vergangenen fünf Jahre zugenommen habe, was aber tatsächlich nur in 33 Prozent der Landkreise und kreisfreien Städte der Fall gewesen sei, während sie in 45 Prozent der Landkreise sogar abgenommen habe und in 22 Prozent gleich geblieben sei. Es fand sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kriminalitätsentwicklung. Also, erster Punkt für die Chemnitzer Kriminologen: Das gemeine Volk überschätzt die Häufigkeit der Gesamtkriminalität. Aber, ganz so einfach ist es nicht, auch wenn die Autoren das glauben machen wollen.
Ausgesprochen sportliche Anforderungen
Zum einen ist es schon außerordentlich sportlich, von den Befragten zu erwarten, die Entwicklung eines nicht ganz einfachen und zudem recht dynamischen Sachverhaltes rückblickend über einen Zeitraum von immerhin fünf Jahren valide einschätzen zu können. Zum anderen lagen zusätzlich nicht unerheblich erschwerte Bedingungen für die Befragten vor: Wie der im ausführlichen Forschungsbericht enthaltenen (korrekten) Abbildung zur Entwicklung der polizeilich registrierten Straftaten in Deutschland zu entnehmen ist, nahm die Kriminalitätsentwicklung nämlich von 2018 bis einschließlich der beiden Corona-Jahre 2020 und 2021 kontinuierlich ab. Ein Trend, der sich aber dann im Jahr 2022 mit einer Zunahme von 11,5 Prozent recht drastisch umkehrte, gefolgt von einem weiteren Anstieg um 5,5 Prozent im Jahr 2023, der aber schon außerhalb des Beurteilungszeitraumes lag, aber eben nicht außerhalb des Wahrnehmungsbereiches der Teilnehmer.
Zudem darf angenommen werden, dass es vor allem die Gewaltkriminalität ist, welche beim Großteil der Bevölkerung die Wahrnehmung von Straftaten dominiert. Und die hat von 2021 auf 2023 um satte 28,4 Prozent zugenommen. Ohne jetzt psychologische Erkenntnisse überstrapazieren zu wollen, wird man sich doch wohl darauf einigen können, dass je länger bestimmte Ereignisse zurückliegen, desto höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie dem Vergessen anheimgefallen sind. Oder, etwas direkter: Will man die Befragten vorführen, muss man es genauso machen wie die Chemnitzer Kriminologen: Erstens, einen möglichst langen Beurteilungszeitraum wählen, in dem, zweitens, das hier interessierende Ereignis hinsichtlich seiner Häufigkeit auch noch deutlich seine Richtung ändert, ohne allerdings dabei, drittens, den initial abnehmenden Trend bereits umkehren zu können. Solche oder ähnliche Erwägungen sucht man im Forschungsbericht allerdings vergeblich.
Kriminalitätsangst an letzter Stelle
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Chemnitzer Studie erscheint es durchaus sinnvoll, einen kurzen Blick auf eine andere Studie zu werfen, die nämlich dokumentiert, dass die Deutschen immer noch – zumindest bis vor kurzem – ein erstaunlich entspanntes Verhältnis zur Kriminalität zu haben scheinen. So rangierte die Angst vor Straftaten in der jährlichen R+V-Befragung zu den Ängsten der Deutschen in 2023, wie auch meist in den Jahren zuvor, an letzter Stelle – von insgesamt immerhin 23 abgefragten Ängsten. Dennoch bildet sich hier die oben erwähnte, seit 2022 wieder ansteigende Kriminalität durchaus deutlich ab: Im Jahr 2023 gaben 24 Prozent an, unter Angst vor Straftaten zu leiden, in den drei Jahren zuvor waren das nur 18 bzw. 19 Prozent.
Einige Korrelationen
Zum Schluss noch einmal zurück zur Studie der Chemnitzer Kriminologen. Die oben geschilderten Ergebnisse zur Kriminalitätswahrnehmung bildeten auch die Basis für weitergehende Analysen. Genauer: Was korreliert (signifikant) mit dieser wahrgenommenen Kriminalitätsentwicklung – und was nicht? Demnach scheint die Kriminalitätswahrnehmung unabhängig vom Alter zu erfolgen. Was etwas überrascht, da sich in anderen Studien meist ein positiver Zusammenhang mit dem Alter findet: Je älter, desto höher die Kriminalitätswahrnehmung.
Ansonsten weisen die ermittelten Korrelationen durchaus erwartungsgemäß noch darauf hin, dass die wahrgenommene Kriminalitätsentwicklung umso höher ausfiel, je stärker die Angst der Befragten davor war, Opfer einer Straftat zu werden (sogenannte affektive Kriminalitätsfurcht) und je stärker ihr Schutz- und Vermeidungsverhalten (sogenannte konative Kriminalitätsfurcht) ausgeprägt war. So weit, so gut.
Geschlechtszugehörigkeit wird ignoriert
Warum die Chemnitzer Kriminologen allerdings vollständig darauf verzichten, die Geschlechtszugehörigkeit bei ihren statistischen Analysen zu berücksichtigen, bleibt ihr Geheimnis. Aus fachlicher Sicht ist das allerdings völlig unverständlich, muss doch angesichts der sonstigen Forschungslage (zum Beispiel hier) zwingend davon ausgegangen werden, dass die Kriminalitätsfurcht bei Frauen deutlich stärker ausgeprägt ist. Denn es besteht nun einmal – aus verschiedenen Gründen – ein starker Zusammenhang zwischen Geschlechtszugehörigkeit und so gut wie allem, was mit Angst und Furcht zu tun hat. Eindrücklich stellt sich das zum Beispiel auch in den jährlichen R+V-Angststudien dar, und zwar durchgehend bei allen Themen.
An bloße Nachlässigkeit mag ich da nicht so recht glauben. Sondern vielmehr daran, dass mittlerweile vieles irgendwie den Bach runtergeht – und nicht zuletzt auch die wissenschaftlichen Standards. Es kann folglich begründet vermutet werden, dass es durch diesen kleinen Kunstgriff der Unterlassung, also den Verzicht auf die Darstellung geschlechtsspezifischer Ergebnisse, dem Chemnitzer Forschungskollektiv gelang, das ihnen besonders am Herzen liegende Hauptergebnis eines fehlenden statistischen Zusammenhangs zwischen gefühlter und tatsächlicher Kriminalitätsentwicklung zu retten. Haben doch die Männer – vorrangig aufgrund ihrer vergleichsweise geringeren Kriminalitätsfurcht – die Kriminalitätshäufigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach realistischer als die Frauen eingeschätzt, was sich dann auch in Gestalt einer statistisch signifikanten Korrelation dargestellt haben dürfte.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im zivilrechtlichen Bereich.