Von Johannes Eisleben.
Der Hitlergruß ist eine Geste, die Zustimmung zum gewaltigsten Aggressionskrieg aller Zeiten, zur systematischen Judenvernichtung, zur Euthanasie, zur Verfolgung und systematischen Ermordung von Minderheiten wie Homosexuellen und Zigeunern und zur Negation des Individuums im totalen Staat (diese abscheuliche Liste ließe sich weiter verlängern) signalisiert: Eine widerwärtige und furchtbare Geste, die den alten Menschen unter uns, die sich als Opfer des Nationalsozialismus noch an deren legale Ausführung bis zum Mai 1945 erinnern können, mit Angst und Schrecken erfüllt.
Daher ist es wichtig, Menschen, die diese Geste öffentlich zeigen, im adäquaten Maß (die Geste ist scheußlich, aber keine Gewalttat) strafrechtlich zu verfolgen und auch öffentlich zu brandmarken. Es ist auch furchtbar, Menschen aufgrund ihres Aussehens und Verhaltens mit Gewalt zu drohen oder Gewalt gegen sie auszuüben. Täter, die dies tun, müssen proportional zum Ausmaß der Gewalt (von leichter Körperverletzung bis hin zu Vergewaltigung und Mord) strafrechtlich verfolgt werden. Überhaupt darf der Staat niemals private Gewalt tolerieren.
In Chemnitz haben Rechtsextremisten den Hitlergruß ausgeführt und vereinzelt Menschen, die sie als Fremde empfunden haben, mit Gewalt bedroht und auch in geringem Maße Gewalt gegen sie angewendet. Das ist abstoßend und gefährlich.
Gleichzeitig haben sehr viele Menschen gewaltfrei und friedlich demonstriert. Auch wenn etliche von ihnen nicht verbergen, wie wütend sie sind und sich nicht gerade formvollendet ausdrücken: Die meisten von ihnen fordern, dass der Staat sein Gewaltmonopol einsetzt, um sich dem Verlust der öffentlichen Sicherheit entgegenzustellen. Damit wollen sie alles andere als, wie medial oft unterstellt, ein Klima der Lynchjustiz schaffen. Die Chemnitzer haben im Gegensatz zu vielen Kolumnisten den Anlass der ersten Demonstrationen nicht vergessen: Die willkürliche Tötung eines deutschen Mitbürgers und die lebensbedrohliche Verletzung von zwei weiteren Bürgern durch (wahrscheinlich muslimische) Migranten, die aus von massiver Gewalt geprägten Ländern eingewandert sind. Sie sind wütend, weil der Fall wieder einmal deutlich macht, wie der Staat zunehmend als Ordnungsstaat versagt.
Erziehung zur allgemeinen Friedfertigkeit?
Warum aber versagt der Staat an dieser Stelle? Dies hat eine lange Tradition – seit den späten 1960er Jahren hat es in Westeuropa und besonders in Deutschland (1933-1945 dem Täterland schlechthin) und Schweden (einem Land, das im zweiten Weltkrieg besonders intensiv mit den Nazis kollaboriert hat) eine Bewegung gegeben, die die Anwendung staatlicher Gewalt grundsätzlich in Frage stellte. Angesichts des bisher in Europa vollkommen unbekannten zwischen- und innerstaatlichen Friedens und des stetig steigenden Wohlstands erschien es damals vielen Intellektuellen möglich, auf Strafen zu verzichten und durch Zuwendung, Wohlwollen, Gnade und Anerkennung Menschen – auch erwachsene schwere Straftäter – zur allgemeinen Friedfertigkeit zu erziehen.
Strafen wurden mit Hinblick auf mildernde Umstände reduziert, Haftanstalten sollten Orte der Resozialisierung und der Vorbereitung auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft werden. In der Außenpolitik glaubte man auf Drohungen und Rüstung verzichten zu können, der Begriff des Feindes war verpönt und galt als altmodisch. Diese Haltung setzte sich politisch und institutionell durch.
Im Inneren wurden Polizeistellen abgebaut, Polizisten wurden in Deeskalation geschult, die Strafgerichtsbarkeit wurde milder und begann, die Täterherkunft systematisch als Begründung für Strafmaßreduktion anzuerkennen (was rechtstheoretisch problematisch ist). Die Kriminalitätsrate ging seit den 1980er Jahren auch langsam zurück und schien den Ordnungsstaatskeptikern recht zu geben (seit 2015 steigt die Gewaltkriminalität wieder an, dabei sind Migranten deutlich überrepräsentiert).
Auch außenpolitisch setzte man auf Deeskalation, zumindest Deutschland baute seine militärischen Fähigkeiten und sein Verteidigungsethos ab. Kurz: man glaubte, das Wesen des Menschen im Sinne Rousseaus verstanden zu haben und es sich erlauben zu können, die biologische Natur des Menschen als eines kooperationsbefähigten Raubtiers missachten zu können. Diese Haltung prägt bis heute viele unserer Politiker, Amtsträger, Beamten und Richter.
Die Gewalt abgeschafft? Welch ein Irrtum
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Reaktion der Medien und Politiker auf Chemnitz im tieferen Sinne verstehen. Eine Gesellschaft, die glaubt, Gewalt gar nicht mehr abwehren zu müssen, weil vermeintlich Wohlstand und wohlmeinende Bildungsangebote Gewalt abzuschaffen in der Lage sind, muss nun erleben, wie die Gewalt mit großer Wucht durch junge männliche Migranten, die aus archaischen Gewaltkulturen kommen, wieder über uns hereinbricht.
Darauf sind Judikative, Exekutivbürokratie und die vielfältigen öffentlichen und privaten Wohlfahrtsorganisationen gar nicht vorbereitet. Nun sehen sie mit Entsetzen, dass die steuerzahlenden, das Gewaltmonopol achtenden Bürger des Landes vom Staat Schutz und Verhinderung privater Gewalt erwarten. Einen Schutz, den zu geben sie nicht mehr ausgebildet, ausgerüstet und finanziert sind.
Doch zurück zu Chemnitz. Dort haben sich einige Rechtsextremisten unter weitgehend friedliche Demonstranten gemischt, geringfüge Gewalttaten ausgeübt und den Hitlergruß gezeigt. Presse und Politiker haben daraufhin fast nur noch auf das Fehlverhalten einer Minderheit Bezug genommen und es zu „Hetzjagden“ und „pogromartigen Ausschreitungen“ hochstilisiert. Der Unmut der normalen Bürger und die Gründe dafür waren fortan nur eine Randerscheinung.
Auf dem Titel des „Spiegel“ wird der Name des Bundeslands Sachsen braun eingefärbt: „Wenn Rechte nach der Macht greifen“ steht dort – dies nimmt zusammen mit der Farbe klar Bezug auf die Machtergreifung durch die NSDAP im Jahre 1933, der großen Katastrophe in unserer Geschichte schlechthin. Dazu ist fast alles Notwendige gesagt worden, am schwersten wiegt sicherlich, dass hier der echte historische Nationalsozialismus auf eine Stufe mit den politischen Forderungen der demokratisch gewählten Oppositionspartei AfD, die laut Verfassungsschutz keine die FDGO gefährdenden Ziele verfolgt, gestellt wird.
Ein Wendepunkt hin zur Privatisierung von Gewalt
Dies ist ein harter Schlag gegen die Opfer der NS-Zeit: Im Umkehrschluss bedeutet dies nämlich, dass die NS-Ideologie nicht schlimmer war als die AfD, die den Verfassungsschutzämtern für eine Beobachtung zu harmlos ist. Das geschieht offensichtlich, um den drohenden Machtverlust der etablierten Parteien abzuwenden – denn die AfD fordert im Bereich Migration derzeit im Wesentlichen nicht mehr als die Wiederherstellung der Einhaltung des Verfassungsrechts (Art. 16a GG) durch den Staat ein. Doch das entscheidende ist: Was Politiker und Medien in ihrer überwiegenden Mehrheit befürchten, eine Erosion des Gewaltmonopols von rechts, haben wir im Wesentlichen in Chemnitz noch nicht zu sehen bekommen. Dennoch ist Chemnitz ein Wendepunkt hin zur Privatisierung von Gewalt.
Warum? Bei Thomas Hobbes, einem der wichtigsten Denker moderner Staatlichkeit, heißt es in Kapitel 21 seines Hauptwerks „Leviathan“: „Die Verpflichtung der Bürger gegen den Oberherrn kann nur so lange dauern, als derselbe imstande ist, die Bürger zu schützen; denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, im Fall dies kein anderer tun kann, wird durch keinen Vertrag vernichtet.“ Hobbes, der Erfinder des staatlichen Gewaltmonopols, begründet damit das Recht der Menschen, sich selbst zu verteidigen, wenn der Ordnungsstaat versagt. Er spricht damit ein allgemeines Gesetz der Vergesellschaftung in Staatsformen aus, denn er greift hier gedanklich implizit auf Todesangst und Überlebenstrieb des Menschen zurück, also seine tiefsten Instinkte als Säugetier.
Hört man sich vor diesem Hintergrund die Aussagen der in Chemnitz friedlich für den Ordnungsstaat demonstrierenden Bürger in Interviews an, erkennt man leider den Beginn eines echten Zweifels der Bürger an der Fähigkeit des Staates, sie vor privater Gewalt zu schützen, man hört die echte Angst der Bürger. Wenn der Staat die Kausalkette der Migrantengewalt nicht beendet, wird sich dieser Zweifel weiter verfestigen. Er entwickelt sich dann so weit, bis die Todesangst der Menschen freigelegt wird. Diese tierhafte Angst übertrifft alle anderen Elemente der Willensbildung.
Eine echte Gefahr für den Staat
Es besteht dann die reale Gefahr, dass sich etwas viel Schlimmeres entwickelt als das, was Politiker und Medien angesichts von Chemnitz derzeit beklagen, nämlich spontane, chaotische Gewalt gegen Migranten: Stattdessen werden wir es mit privat organisierten, finanzierten und bemannten Gruppierungen zum Schutz der Bürger vor privater Migrantengewalt zu tun bekommen – mit anderen Worten, illegalen rechten Bürgermilizen.
Das ist etwas ganz anderes als ein paar rechte Chaoten, die den Hitlergruß zeigen, nämlich eine echte Gefahr für den Staat. Denn der Staat sollte die Fähigkeit privater Bürger nicht unterschätzen, sich in illegalen Milizen zu organisieren, wenn einmal kollektiv die Todesangst vor willkürlicher Migrantengewalt um sich greift – denn auch bei einer Staatsquote von 50 Prozent gibt es genug Deutsche, die so etwas gemeinsam mit Leichtigkeit finanzieren könnten, jede Menge Kommunikationstechnologie, um sich effektiv zu organisieren, und es gibt trotz der Alterung der Gesellschaft noch genug junge Männer, um eine solche illegale Miliz zu bilden.
Die linksextremen Gewalttäter sind im Vergleich zu diesem Potenzial eine kleine Minderheit, weil das Potenzial zur Politisierung radikal Linker weitgehend verbraucht ist, während die echte und berechtigte kollektive Angst vor Migrantengewalt ein großes Politisierungs- und Mobilisierungspotenzial besitzt. Hat der Staat es einmal mit der entfesselten Todesangst der Bürger zu tun, ist es um das Gewaltmonopol geschehen.