Mögen Russlands Ressourcen auch deutlich größer sein als die der Ukraine, so zerrt der Ukraine-Krieg doch auch für den Kreml bedenklich an der militärischen und wirtschaftlichen Stabilität des Landes. Steigt damit die Verhandlungsbereitschaft?
Wladimir Putin dürfte ein Gefühl der Erhabenheit verspürt haben, als er am Morgen des 24. Februar 2022 den Angriffsbefehl erteilte. Die Bemühungen westlicher Staatschefs, eine militärische Eskalation zu verhindern, hatte er bis zuletzt ignoriert. Für ihn zählten weder Worte noch Diplomatie – nur Macht und Fakten, die Grundsteine einer neuen Ordnung in Osteuropa.
Zur Eroberung der Ukraine hatte Moskau ein gewaltiges Heer aufgeboten: 190.000 Soldaten, Panzerdivisionen, Artillerie und Spezialeinheiten standen bereit, um die Regierung Wolodymyr Selenskyjs zu stürzen und das Land aus der westlichen Einflusssphäre zu ziehen. Der russische Präsident war entschlossen, mit dieser historischen Tat in die Geschichte einzugehen.
Eine Stunde vor Beginn der Offensive erklärte Putin in einer Fernsehansprache den Start einer „militärischen Spezialoperation“. Er begründete diese mit dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass sowie der angeblichen „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine. Zugleich warnte er vor einer Einmischung. Wer Russland in die Quere komme, müsse mit schrecklichen Konsequenzen rechnen.
In Europa rechnete anfangs kaum jemand mit einem Überleben der Ukraine. Die militärische Übermacht Russlands schien erdrückend, die Einnahme Kiews eine Frage von Tagen. Geheimdienste und Experten sahen die ukrainische Regierung bereits am Abgrund. Unverzüglich bot US-Präsident Joe Biden Wolodymyr Selenskyj eine Evakuierung an – doch dieser lehnte entschieden ab: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“
Selenskyjs Entscheidung zu bleiben, rettete die Ukraine. Der als Blitzkrieg geplante Angriff scheiterte hingegen. Als es dem russischen Militär misslang, die Kontrolle über den Militärflugplatz von Gostomel nordöstlich von Kiew zu erringen, blieb nur der Rückzug. Putin hatte alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Wie schon 2014 auf der Krim plante der Kreml einen kurzen, entschlossenen Vorstoß. Der Begriff „militärische Spezialoperation“ war dabei keine bloße Beschönigung, sondern spiegelte die Absicht eines schnellen, gezielten Angriffs wider.
Kriegs-Fortsetzung ohne Plan
In Moskau suchte man nach dem Fehlschlag der Kiew-Offensive nach diplomatischen Auswegen. Verhandlungen in Istanbul Ende März boten Ansätze für eine Lösung, wie eine blockfreie und atomwaffenfreie Ukraine mit Sicherheitsgarantien. Im Zusammenhang mit den Friedensgesprächen inszenierte Moskau den Rückzug aus Kiew als Geste des guten Willens – ein taktisches Manöver, das vor allem der eigenen Gesichtswahrung diente.
Für Kiew eröffnete sich zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit, den Konflikt durch Diplomatie zu beenden, bevor Russland seine volle militärische Stärke entfalten konnte. Doch diese Aussicht auf Frieden wurde von der NATO beeinflusst. Das Bündnis stellte Kiew massive Unterstützung in Aussicht, um den Krieg fortzusetzen. Die Botschaft war eindeutig: Jetzt sei der Moment, Russland militärisch und strategisch zu schwächen – ein Schritt, der auch im langfristigen Interesse der Ukraine sei.
Auf russischer Seite machte man sich darüber keine Illusionen. „Wir wissen genau, dass die Amerikaner und Briten ihre Einflussnahme genutzt haben, um Kiew von einer Einigung abzuhalten“, erklärte Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview von Juni 2022. Die Ereignisse in Butscha, die international für Empörung sorgten, bezeichnete er als „zynische Provokation“, die gezielt inszeniert worden sei, um Russland zu diskreditieren und den Verhandlungsprozess endgültig zu blockieren.
Trotz des Scheiterns seines Blitzkrieges entschied der Kreml, den Krieg fortzusetzen – ein Entschluss, der weniger von militärischem Kalkül als von politischem Dogmatismus geprägt war. Putin weigerte sich, die gescheiterte Invasion als strategischen Fehler anzuerkennen. Stattdessen stilisierte er den Krieg zur existenziellen Notwendigkeit: Russland befinde sich in einem Überlebenskampf, den es unter allen Umständen siegreich beenden müsse.
Die Fortsetzung eines Krieges, für den es keine umfassende Planung gab, stabilisierte zwar kurzfristig die politische Kohäsion innerhalb Russlands. Langfristig zeichnet sich jedoch ab, dass diese Entscheidung verheerende Folgen haben könnte. Heute ist klar: Der Krieg hat Russland weit mehr gekostet, als er einbrachte – militärisch, wirtschaftlich und politisch.
Der hohe Preis der Eroberungen
Nach drei Jahren kontrolliert Moskau zwar 20 Prozent des ukrainischen Territoriums – eine Fläche, vergleichbar mit Bulgarien oder Griechenland. Doch weite Teile der besetzten Gebiete stehen sinnbildlich für Zerstörung: Städte wie Mariupol, Bachmut und Pokrowsk, einst pulsierende Zentren, liegen in Trümmern. Im Februar 2024 wurden die Kosten für den Wiederaufbau der Infrastruktur auf 155 Milliarden US-Dollar geschätzt – eine Summe, die bis Jahresende deutlich höher liegen dürfte.
Diese Eroberung forderte einen hohen Preis. Westliche Geheimdienste schätzen die russischen Verluste auf bis zu 700.000, darunter etwa 200.000 Tote. Die Intensität der Kämpfe, vor allem im Donbass, führte im November 2024 zu Verlustzahlen von bis zu 2.500 Soldaten täglich. Das Ausmaß bestätigte kürzlich auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin: In einer Rede vor der Staatsduma erklärte er vergangene Woche, dass bislang 600.000 Kriegsversehrte medizinische Behandlung benötigten – eine Zahl, die russische Medien umgehend dementierten.
Das Massensterben russischer Männer in der Ukraine ist ein schwerer Schlag für ein Land, dessen Bevölkerung seit 1992 kontinuierlich schrumpft. Seit Putins Amtsantritt als kommissarischer Präsident am 1. Januar 2000 sank die Bevölkerungszahl um sieben Millionen. Im Januar 2024 appellierte Putin an seine Landsleute, mehr Kinder zu bekommen und warb für eine Rückkehr zur Tradition der Mehrkindfamilie. Nur so, erklärte er, könnten die „schwersten demografischen Herausforderungen“ bewältigt werden.
Noch gravierender ist, dass Russland trotz dieser enormen Opferzahlen keines seiner militärischen Ziele erreicht hat. Weder wurde die Regierung von Wolodymyr Selenskyj gestürzt noch die ukrainische Armee entwaffnet. Stattdessen hält sie Teile der Oblast Kursk besetzt und greift Ziele immer tiefer im russischen Hinterland an. Somit überrascht nicht, dass Putin die zentralen Schlagwörter „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ in seiner jüngsten Jahresansprache unerwähnt ließ.
Auch die materiellen Verluste des russischen Militärs sind erheblich. Nach konservativen Schätzungen hat Russland bis November 2024 über 2.500 Kampfpanzer, mehr als 21.000 Artilleriesysteme und knapp 21.000 Drohnen verloren. Hinzu kommen fast 400 abgeschossene Flugzeuge, 329 Hubschrauber und 28 Schiffe der Schwarzmeerflotte, die inzwischen kaum noch transportfähig ist. Bemerkenswert ist, dass diese Verluste gegen einen Gegner ohne eigene Kriegsmarine erlitten wurden – ein bezeichnendes Bild für den Zustand der russischen Streitkräfte
8,5 Prozent Inflation
Um den nicht geplanten Krieg fortzusetzen, stellte Moskau früh auf Kriegswirtschaft um. Diese erweist sich trotz westlicher Sanktionen als widerstandsfähig, doch zivile Sektoren wie Bauwesen, Handel und Konsumgüterproduktion befinden sich in einer schweren Krise. Fachkräftemangel, Inflation und rückläufige Produktionszahlen belasten die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich. Schlüsselindustrien wie Öl- und Gasförderung sowie die verarbeitende Industrie verzeichnen deutliche Rückgänge, die langfristige Investitionen und damit die Zukunftsfähigkeit der russischen Wirtschaft gefährden.
Nach einer kurzfristigen Erholung des Rubels im Juli 2022 stürzte die russische Wirtschaft erneut ab. Mit einer aktuellen Inflation von 8,5 Prozent hob die Zentralbank am 25. Oktober 2024 den Leitzins auf 21 Prozent an, was Unternehmen und Haushalte durch steigende Kreditkosten stark belastet. Gleichzeitig führen sinkende Staatseinnahmen und wachsende Kriegsausgaben zu Haushaltsengpässen, die Kürzungen im zivilen Bereich und Verzögerungen bei Infrastrukturprojekten erzwingen
Die langfristigen Folgen könnten gravierend sein: Schrumpfende Waffenbestände, Produktionsengpässe und verschärfte Sanktionen dürften die Kriegsfähigkeit ab 2025 erheblich beeinträchtigen. Die Parallelen zur Finanzkrise von 1998, die im Staatsbankrott endete, sind unübersehbar. Schon damals versuchte die Regierung, mit hohen Zinsen und Währungsreserven die Stabilität des Rubels zu sichern – ohne Erfolg.
Trotz dieser Herausforderungen zeigt sich der Kreml demonstrativ unbeeindruckt. In seiner Pressekonferenz zum Jahresabschluss bezeichnete Wladimir Putin die Inflation zwar als ein „beunruhigendes Signal“, betonte jedoch die vermeintliche Stabilität der russischen Wirtschaft. Er verwies auf ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent im vergangenen Jahr und zeigte sich mit einer Prognose von bis zu 4 Prozent für 2024 optimistisch. Für 2025 versprach er eine „sanfte Landung“ der Wirtschaft und eine Inflationsrate von maximal 2,5 Prozent.
Kaum Einfluss auf die Popularität der Regierung?
Dieser optimistische Ausblick ignoriert, dass der festgefahrene Krieg Russland bereits ein Vermögen kostet. Die operativen Ausgaben belaufen sich auf durchschnittlich 300 Millionen US-Dollar pro Tag. Kein Wunder, dass die Verteidigungsausgaben im Haushaltsplan für 2025–2027 auf 13,5 Billionen Rubel festgesetzt wurden – rund 40 Prozent der gesamten Staatsausgaben. Diese Summe deckt nicht nur die direkten Kriegskosten, sondern auch die Aufrechterhaltung der militärischen Infrastruktur und die Rekrutierung neuer Soldaten ab – eine enorme Belastung für die ohnehin angeschlagene Wirtschaft.
Bemerkenswert ist, dass diese wirtschaftlichen und militärischen Herausforderungen bislang kaum Einfluss auf die Popularität der Regierung haben. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums aus Oktober zeigt, dass 76 Prozent der Russen die militärischen Aktionen in der Ukraine unterstützen, davon 45 Prozent uneingeschränkt. Die Zustimmung ist bei Männern über 55 Jahren mit 81 Prozent besonders hoch, sinkt jedoch bei jungen Menschen unter 24 Jahren auf 67 Prozent. Gleichzeitig wächst die Skepsis gegenüber einer Fortsetzung des Krieges: Nur 36 Prozent befürworten weitere Kampfhandlungen, während 55 Prozent Friedensverhandlungen bevorzugen.
Die innenpolitische Stabilität wird für den Kreml im kommenden Jahr entscheidend sein. Spekulationen über eine mögliche zweite Mobilisierungswelle halten an, nachdem Präsident Putin im September ein Dekret zur Aufstockung der Streitkräfte um 180.000 Soldaten unterzeichnet hat, um die Gesamtstärke der Armee auf 2,4 Millionen zu erhöhen. Ein neu eingeführtes elektronisches Einberufungsregister soll den Rekrutierungsprozess automatisieren. Wehrpflichtigen, die der Einberufung nicht nachkommen, drohen harte Konsequenzen, wie der Verlust von Bürgerrechten. Diese Maßnahmen könnten die gesellschaftliche Stimmung weiter belasten.
Der Ukraine-Krieg bleibt für den Kreml ein verlustreiches und zunehmend belastendes Unterfangen. Während Armee und Wirtschaft erheblich geschwächt sind, zeigt sich das politische Klima bislang stabil. Dennoch räumte Wladimir Putin kürzlich ein, den Feldzug unzureichend geplant zu haben. Angesichts dieser Entwicklungen überrascht es kaum, dass der Kreml verstärkt Interesse an Verhandlungen signalisiert.
Putins Selbstzeugnis
In den vergangenen zwei Wochen hat Wladimir Putin mehrfach seine Gesprächsbereitschaft betont. „Wir sind bereit, einen Dialog ohne Vorbedingungen zu führen – basierend auf den Vereinbarungen des Verhandlungsprozesses in Istanbul Ende 2022 und unter Berücksichtigung der heutigen Realitäten vor Ort“, erklärte er am 19. Dezember gegenüber der internationalen Presse. Das in Europa kritisch beäugte Angebot des slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico, einen Friedensgipfel auszurichten, wurde vom Kreml positiv aufgenommen. „Wir sind nicht dagegen, wenn es dazu kommt“, sagte Putin und hob die Neutralität der Slowakei als geeigneten Standort hervor.
Trotz des wachsenden Interesses an einer politischen Lösung sollte diese Gesprächsbereitschaft nicht als Schwäche verstanden werden. Der Kreml macht unmissverständlich klar, dass er den Krieg im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen unbeirrt fortsetzen wird – ungeachtet der zunehmenden wirtschaftlichen und militärischen Probleme. Dass dies eine realistische Handlungsoption ist, liegt in der politischen Kultur Russlands, die den Anführer paradoxerweise von der Verantwortung für die Zustände im Land freispricht.
Umso selbstbewusster präsentiert sich Putin, der trotz der festgefahrenen Lage keinerlei Selbstkritik zeigt. Am Rande des Eurasischen Wirtschaftsrats am 26. Dezember lieferte er eine eindrückliche Selbsteinschätzung: „Ich betrachte mich als einen berechenbaren, ausgeglichenen Menschen, der nach einem klaren Plan handelt […] Wir agieren stabil und vorhersehbar. Wir erwarten nichts Außergewöhnliches, und etwas Außergewöhnliches vorherzusagen, ist ohnehin nicht möglich.“
Dieses Selbstzeugnis ist nicht unbegründet. Besonders im Zusammenhang mit dem Einsatz von ATACMS auf militärische Ziele innerhalb der Russischen Föderation, die der Kreml als rote Linie definiert hatte, zeigte Wladimir Putin Besonnenheit. Dennoch entbindet ihn dies nicht von seiner historischen Verantwortung. „Ein Volk ohne Gedächtnis hat keine Zukunft. Ohne Kenntnis der Vergangenheit wird es niemals eine Zukunft geben“, erklärte Putin im Februar 2023 in Wolgograd.
Das Zitat kann als Aufforderung an Historiker verstanden werden, Russlands Krieg in der Ukraine schonungslos aufzuarbeiten. Seine kürzlich geäußerte These, der Krieg habe Russland stärker gemacht, dürfte dabei jedoch als krude Fehlinterpretation widerlegt werden. Viel wahrscheinlicher ist, dass Putin nicht als Retter Russlands in die Geschichte eingehen wird, sondern als Anführer, der das Land in eine tiefgreifende existenzielle Krise gestürzt hat – ein Vermächtnis, das der geschichtsinteressierte Präsident wohl kaum akzeptieren dürfte.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.