Der beste Kommentar zur letzten deutschen Bundespräsidentenwahl kam ausgerechnet aus England. Rod Liddle, so etwas wie der Alibi-Linke beim erzkonservativen „Spectator“, begründete, warum er vom überzeugten Republikaner zum Monarchisten geworden sei. Zum einen aus Sympathie für den wunderbar politisch inkorrekten Prinzgemahl Philip, vor allem aber aus diesem Grund: hätte Großbritannien einen Präsidenten, der vom Parlament gewählt würde, dann könne man sicher sein, wie ein solches Staatsoberhaupt aussähe: so wie Catherine Ashton, die sogenannte „Außenministerin“ der EU. Langweilig, rhetorisch limitiert, ohne echte demokratische Legitimation. Eine typische Parteipolitikerin halt, ausgewählt vom Parteivorstand. Dann doch lieber eine Monarchie, so Liddle, die sei wenigstens glamourös. Die deutsche Bundespräsidentenwahl, die er damit so treffend kommentiert hatte, erwähnte er übrigens mit keinem Wort.
In einem politischen System, das einen Christian Wulff und eine Angela Merkel ganz nach oben bringt, kann es keinen Obama geben. Während es in den meisten europäischen Ländern die Parteiapparate sind, welche die Kandidaten aufstellen, bevor die Bürger wählen dürfen, gibt es in den USA Primaries, Vorwahlen, in denen sich die Bewerber zuerst dem Votum der Bürger stellen müssen, bevor sie von ihrer Partei überhaupt aufgestellt werden. Hätten die Granden der Demokratischen Partei über den Präsidentschaftskandidaten entschieden, dann wäre die Wahl zweifellos auf Hillary Clinton gefallen. Barack Obama war am Beginn der Vorwahlen noch ein Außenseiter, mit dem in der Washingtoner Politszene niemand rechnete. Doch auch am anderen Ende des politischen Spektrums zeigt sich, welche politische Dynamik durch Vorwahlen freigesetzt werden kann: ohne Primaries hätte es auch keine Tea Party gegeben, denn ohne Druck von der Basis hätten die Republikaner einfach verdiente Parteisoldaten aufgestellt – und die Zwischenwahlen vermutlich verloren. Egal, was man nun von Obama oder der Tea Party-Bewegung hält, eines ist klar: das amerikanische System bringt nicht nur interessantere Leute nach oben – es ist auch wesentlich demokratischer: öffentliche Debatte statt Hinterzimmer-Entscheidungen.
Wenn deutsche Medien über den amerikanischen Vorwahlmarathon berichten, dann häufig mit einer Mischung aus Unverständnis und Amüsement. Wer Iowa und New Hampshire gewinnt, der hat das Rennen fast schon für sich entschieden. Ist es nicht seltsam, so fragen deutsche Beobachter, dass diesen Kleinstaaten ein solches Gewicht zukommt? Und ist so ein Caucus, eine Bürgerversammlung, auf der die Kandidaten versuchen, die Wähler buchstäblich auf ihre Seite zu ziehen, nicht bestenfalls eine liebenswerte Schrulle, ein historisches Überbleibsel wie eine Schweizer Landsgemeinde? Wer solche Fragen stellt, der hat das Prinzip der Vorwahlen nicht verstanden. Gerade darum geht es nämlich – dass ein Kandidat sich in einem ländlichen town hall meeting, wo er direkt mit den Fragen einiger weniger Bürger konfrontiert wird, genauso bewährt wie auf einem Parteitag oder in einer landesweit übertragenen Fernsehdebatte.
Welche deutschen Politiker wären wohl primary-tauglich? Schaut man sich die derzeitige Bundesregierung an, möchte man sagen: am ehesten vielleicht Karl-Theodor zu Guttenberg. Eines ist sicher: gäbe es in Deutschland Vorwahlen nach amerikanischem Muster, dann kämen ganz andere Ergebnisse heraus, als die Eliten sich das vorstellen. Wer weiß, vielleicht könnte ja ausgerechnet der von den Medien arg gescholtene und angeblich so unpopuläre Guido Westerwelle punkten. Rhetorisch begabt ist er ja. Andererseits würde die von den Zeitungen hochgelobte Ursula von der Leyen mit ziemlicher Sicherheit ihr Waterloo erleben: gouvernantenhaftes Auftreten und allzuviel Perfektion (Ministerin und nebenbei sieben Kinder!) werden vom gemeinen Volk selten goutiert. Und Angela Merkel? Nun, die würde vermutlich gar nicht erst antreten. So ein Wahlkampf kostet schließlich Geld, und wer Spender von sich überzeugen will, der muss schon halbwegs realistische Chancen haben.
Natürlich bringen Primaries nicht nur erfreuliche Ergebnisse. Wer einen Obama will, der muss auch mit der Tea Party leben – oder umgekehrt. In Deutschland könnten Vorwahlen einerseits zu einem interessanteren politischen Personal führen, andererseits könnten aber auch Rattenfänger wie Oskar Lafontaine und Gregor Gysi von ihnen profitieren. Aber so ist das nun mal in der Demokratie: einmal geht es sich so aus, wie man gerne möchte, ein anderes Mal eben nicht. Dass das Volk dümmer entscheiden sollte als die Parteigremien, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Also, gebt uns Vorwahlen! Wenn wir schon keine Königin haben, dann hätten wir jetzt wenigstens Joachim Gauck.
Hansjörg Müller schreibt auch für „El Certamen“, eine kolumbianische Online-Zeitschrift (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/