Thilo Schneider / 24.01.2018 / 06:25 / Foto: Infrogmation / 60 / Seite ausdrucken

Wir Spießer sollten einander beistehen

Neulich fragte mich ein Freund, ob ich in der Mittagspause nicht mit zum Falaffel-Essen im „Orient-Express“ mitwolle, und ich antwortete ihm vollkommen korrekt, dass ich Falaffel nicht mögen würde. Seine Antwort: „Sei nicht so ein Spießer“. Das stürzte mich dann in einen Gewissenskonflikt und brachte mich zum Nachdenken.

Denn er hat recht. Ich bin ein paarundfünzig Jahre alt, zahle zwar unwillig, aber brav meine Steuern, habe ein angenehmes Wohnumfeld, fahre zwar einen Diesel, aber immerhin ein neues Modell von einem französischen Autobauer, habe knapp drei Kinder großgezogen und finanziert, lege Geld fürs Alter zurück, habe einen Bausparvertrag, hänge gelegentlich bei meinem FDP-Stammtisch ab und habe alle meine Rundfunkgeräte ordentlich angemeldet.

Sehe ich auf der Straße Papierchen herumliegen, dann hebe ich sie auf (vorausgesetzt der Mülleimer ist nicht allzu weit weg), ich halte Damen die Türe auf, helfe jungen Müttern mit Kinderwagen in den Bus und parke nur manchmal im Halteverbot. Bekomme ich deswegen einen Strafzettel, dann zahle ich den, denn das ist der Deal zwischen Ordnungsamt und mir als Bürger. Ich melde mich pflichtschuldig auf dem Rathaus um, wenn ich meinen Wohnsitz verlege und bringe sogar die Vermieterbestätigung mit. Damit mich der Beamte im Bürgerservicebüro zügig abfertigen kann, wenn meine Nummer, die ich ordentlich am Nummernautomaten gezogen habe, aufgerufen wird.

Ich spucke im Bahnhof nicht auf den Boden und pisse weder nüchtern noch im Vollsuff in Hauseingänge. Ich stelle mein Auto nicht auf Behindertenparkplätze oder in Feuerwehrzufahrten, habe einen Organspendeausweis und ballere nicht absichtlich über Geschwindigkeitsbegrenzungen. Jedenfalls nicht weit drüber. Ich putze mir die Zähne, achte auf Körperhygiene und schließe morgens, wenn ich mein Heim verlasse, die Haustüre ab.

Ich lehne mein Fahrrad nicht im Hausflur an

Ich grüße die Nachbarn im Treppenhaus und lehne mein Fahrrad auch nicht im Hausflur an die Wand, und wenn ich mit der Hausordnung dran bin, dann bezahle ich Frau Hiller von schräg gegenüber, damit die das für mich macht, weil ich ungern putze. Ich klaue nicht und verlasse kein Café oder Lokal, ohne vorher bezahlt zu haben. Nicht einmal aus Versehen. Ich drängele mich an der Kasse im Supermarkt nicht vor. Wenn sich die Kassiererin oder der Kellner zu meinen Gunsten verrechnet haben, dann sage ich: „Sie haben sich verrechnet“, und nur, wenn sie dann patzig werden, dann nehme ich den Fehlbetrag gerne als Geschenk des Karmas an.

Ich gehe nicht auf Demos und brülle herum oder wünsche jemandem plärrend den Tod oder mache anderer Leute Sachen kaputt. Wenn mein Lieblingsverein verliert, dann verprügele ich nicht als Ausgleich die Fans des Gegners. Ich mag auch keine gekochte oder gebratene Leber und Rattenfleisch lehne ich aus tiefstem Herzen ebenso ab, wie ich mich weigere, Hunde oder Katzen zu essen, auch, wenn diese andernorts als Delikatesse gelten. Deswegen schreibe ich auch niemandem vor, was er gut zu finden oder zu essen oder zu trinken hat.

Und trotzdem: meine Abneigung gegen Falaffel hat mich letztlich als Spießer enttarnt. Obwohl ich mich eigentlich für weltoffen hielt. Anscheinend bin ich es doch nicht. Aber ich finde das auch nicht schlimm. Ich gehöre dem namenlosen Millionen-Heer der „schon-immer-und-auch-in-Zukunft-hier-Steuerzahlenden“ an, die sich, ganz schlicht, nichts anderes wünschen, als in Ruhe ihrem Schaff („ihrer Tätigkeit“ – für die Nicht-Kurmainzer) nachzugehen.

Ich interessiere mich weder für die Hautfarbe, noch für die sexuelle Orientierung, Religion oder Kultur meiner Nachbarn. Diese sind mir herzlich egal, denn was jemand hinter seiner geschlossenen Türe treibt, zu welchem Phantasiefreund er betet oder was seine bevorzugte Kamasutrastellung ist, geht mich nichts an. Finde ich. Umgekehrt gehe ich meinem Nächsten mit meinem Klimbim ja auch nicht auf den Zeiger. Hoffe ich. Ich fände es nur ganz einfach nett, wenn mich die Nachbarn im Treppenaus zurückgrüßen, ihren Müll nicht herumstehen lassen und wenn ich mich auf dem Weg zur Treppe nicht durch Fahrräder oder Rotz auf dem Boden kämpfen müsste. Das würde mir genügen. Mir und Millionen Anderen wohl auch.

Nennen Sie das meinetwegen „Leitkultur“ oder „Deutsch“ 

Ich erwarte von meinem Staat, dessen kleinste Zelle ich bin, dass er all diejenigen hier mitmachen lässt, die selbst „ihren Schaff“ machen und in und an diesem Staat mitwirken wollen. Völlig losgelöst von ihren sonstigen Marotten. Und ich erwarte, dass der Staat diejenigen bekämpft, die sich der Allgemeinheit und dem sozialen Miteinander verweigern oder Individualität nicht von Asozialität unterscheiden können. Ob er sie nun einbuchtet oder rausschmeißt und wo und wohin er das tut, ist mir Latte (Macchiato).

Er hat sich hierbei an die Gesetze zu halten, so, wie ich das auch mache. Denn ohne uns ordentliche Spießer bricht hier alles zusammen. Und nur wir pflichtbewussten Spießer halten diesen Laden hier am Laufen. Das macht kein Politiker, kein Abgeordneter und kein Revolutionär für uns. Wir sollten einander beistehen. Man möge uns einfach arbeiten lassen. Denn das machen wir vielleicht nicht immer gerne, aber das machen wir.

Wir ziehen dabei unsere Kinder und Enkel groß und bringen ihnen bei, dass es nicht nett ist, jemandem „auf die Fresse“ zu geben oder wegen vermeintlich „verletzter Ehre“ einen Knäuel zu bilden. Und falls es sich doch nicht vermeiden lässt, aufzuhören, wenn der Gegner am Boden liegt, und ihm nicht auch noch final während der Handy-Liveübertragung den Schädel wegzutreten. Und wir werden tatsächlich Bahnsteigkarten für die Erstürmung des Bahnhofs lösen. Und die Obdachlosen dort nicht aus Jux und Tollerei anzünden, die haben es schon schwer genug. Denn sonst bricht das System zusammen und es herrscht Anarchie.

Nennen Sie das meinetwegen „Leitkultur“, wenn Sie das brauchen. Nennen Sie das „Deutsch“, wenn Sie das verachten. Nennen Sie das „Spießertum“, wenn Sie alles anders machen. Aber kommen Sie bitte pünktlich zu Ihren Terminen und putzen Sie sich die Schuhe vor dem Eintreten ab. Es ist unhöflich, jemanden warten zu lassen und es ist respektlos und zeugt von mangelnder Wertschätzung, ihm die Wohnung einzusauen.

Braucht noch jemand was vom Bäcker? Ich bringe gerne etwas mit.          

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Reiner Gerlach / 24.01.2018

Herzlichen Dank für die sehr treffende Beschreibung und mindestens 500 Punkte auf der nach oben offenen Richter-Skala.

Franck Royale / 24.01.2018

Danke, passt gut zur „Broken-Windows-Theorie“. Wenn Verwahrlosung zur Staatsräson wird, braucht man sich über die Verwahrlosung im öffentlichen und privaten Umfeld nicht wundern.

B.Rilling / 24.01.2018

Oh mein Gott! Ich bin doch tatsächlich ein Spießer! Und das ist auch gut so!

Jari Heinrich Grünig / 24.01.2018

Vielen Dank für diesen Artikel. Auch ich bin ein erschreckend ähnlicher Spießer, der sich Ruhe, ein funktionierendes Gemeinwesen und eine sicher Zukunft für seine Kinder wünscht. Für mich ist Spießer aber kein abwertender Begriff, denn der Spieß war die Waffe des Bürgers in den freien Städten und schützte vor Leibeigenschaft.

Axel Jung / 24.01.2018

Vielen Dank - vor allem auch für die sympathisch allgmeingültige Beschreibung der “Leitkultur” (der Begriff ist ja sonst zumindest gefühlt eher nationalistisch eingefärbt, was dazu führt, dass viele sich darin nicht wiederfinden). Wir “Spiesser"müssen nur aufpassen, dass nicht allzuviele von uns ebenfalls Anstand und Respekt vermissen lassen, “weil die anderen sich ja auch an keine Regeln halten”. Nach meiner Einschätzung befindet sich unsere Gesellschaft schon nicht mehr nur ganz am Anfang eines gefährlichen (Wut-)Teufelskreises, an dessen Ende sich alle gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Dr. Harry Hain / 24.01.2018

Spießer der Welt vereinigt Euch. Danke. Merci. Thanks. Grazie.  Köszönöm. Tak. Gracias. Kiittää. Þakka þér. Dank je wel. Dziękuję. Tack. תודה.

Wulfrad Schmid / 24.01.2018

Es liesr sich so amüsant und ist dabei so richtig!

Mike Loewe / 24.01.2018

Da kenne ich aber viel größere Spießer als Sie. Die echten Spießer sind Männer, denen ihre “Ehre” über alles geht, und die diese mit Gewalt verteidigen. Die sich Frauen gegenüber für überlegen halten und von ihren Frauen verlangen, Kopftücher zu tragen. Die sich fünfmal am Tag zum Beten auf die Erde knien und gegen Ungläubige hetzen. Die ihre Kinder hochreligiös erziehen und Koranverse auswendig lernen lassen, ohne sie zu verstehen. Die sich ihr Essen von einer 1400 Jahre alten Religion diktieren lassen. Denen ihre Großfamilie über alles geht. Das sind die eigentlichen reaktionären Spießer, aber statt dies beim Namen zu nennen, verbiegen wir uns lieber.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Schneider / 30.01.2024 / 16:00 / 20

Jahrestag: Die Schlacht von Stalingrad geht zu Ende

Heute vor 81 Jahren ernannte Hitler General Paulus, der mit seiner 6. Armee in Stalingrad dem Ende entgegensah, zum Generalfeldmarschall. Denn deutsche Generalfeldmarschälle ergaben sich…/ mehr

Thilo Schneider / 26.01.2024 / 16:00 / 20

Anleitung zum Systemwechsel

Ein echter demokratischer Systemwechsel müsste her. Aber wie könnte der aussehen? Bei den Ampel-Parteien herrscht mittlerweile echte Panik angesichts der Umfragewerte der AfD. Sollte diese…/ mehr

Thilo Schneider / 18.01.2024 / 16:00 / 25

Neuer Pass für einen schon länger hier Lebenden

Ich will einen neuen Reisepass beantragen. Doch um ihn zu bekommen, soll ich den abgelaufenen mitbringen, ebenso meine Heiratsurkunde und Geburtsurkunde. Warum muss ich mich…/ mehr

Thilo Schneider / 16.01.2024 / 15:00 / 73

Zastrow-FDP-Austritt: „Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können“

Holger Zastrow, Ex-Bundesvize der FDP, kündigt. In seiner Austrittserklärung schreibt er: „Als jemand, der in der Öffentlichkeit steht und durch seinen Beruf mit sehr vielen…/ mehr

Thilo Schneider / 11.01.2024 / 14:00 / 64

Was würden Neuwahlen bringen?

Kein Zweifel, die Ampel hat fertig. „Neuwahlen!“ schallt es durchs Land, aber was würden die angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse bringen, so lange die „Brandmauer“ steht…/ mehr

Thilo Schneider / 10.01.2024 / 14:00 / 35

Das rot-grüne Herz ist verletzt

Die Leute begehren auf, vorneweg die Bauern. Es wird viel geweint. In Berlin, Hamburg, München und Stuttgart. Aus Angst. Aus Angst, von den Futtertrögen des…/ mehr

Thilo Schneider / 24.12.2023 / 12:00 / 25

Meine Agnostiker-Weihnacht

Herrgottnochmal, ich feiere tatsächlich Weihnachten. Wenn es doch aber für mich als Agnostiker eigentlich „nichts zu feiern gibt“ – warum feiere ich dann? Die Geschichte…/ mehr

Thilo Schneider / 02.12.2023 / 12:00 / 15

Jahrestag: High Noon bei Austerlitz

In der auch „Drei-Kaiser-Schlacht“ genannten Schlacht in Mähren besiegt Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1805, genau ein Jahr nach seiner Kaiserkrönung, eine Allianz aus österreichischen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com