Henryk M. Broder / 29.12.2017 / 15:30 / Foto: Lusilier / 52 / Seite ausdrucken

Wir sind überhaupt nicht gefühlskalt, aber…

Erinnern Sie sich noch an die Aufregung vor etwas mehr als einem Jahr, als bekannt wurde, dass die Tagesschau über den Mord an der Freiburger Studentin Maria L. nicht berichten mochte und diese Unterlassung so begründete: „Die Tagesschau berichtet über gesellschaftlich, national und international relevante Ereignisse. Da zählt ein Mordfall nicht dazu." Das war Angang Dezember letzten Jahres. Schauen sie bitte hier, hier, hier und hier.

Bis sich der charismatische Chefredakteur der Tagesschau, Kai Gniffke, dazu entschloss, das Verhalten seiner Redaktion in einem Dialog mit den Zuschauern zu entschlüsseln: „Moin, Moin aus Hamburg!" Ein Zuschauer wollte u.a. wissen, warum die Tagesschau über Morde an Schwarzen in den USA berichtet, worauf Gniffke den Unterschied zwischen einem gesellschaftlich relevanten und einem gesellschaftlich irrelevanten Mord erklärte:

„Wenn in den USA Polizisten schwarze Bürger umbringen, im Einsatz töten, darüber gibt es auch Video-Dokumente, dann betrifft das ein gesellschaftliches Phänomen, nämlich das Phänomen der Rassendiskrimierung, das dahiner steckt, und das ist ja ein Thema, das gesamtgesellschaftlich in den USA so eine große Rolle spielt und auch diskutiert wid, deshalb ist das für uns ein Thema, das auch in der Tagesschau auftauchen kann. Anders war das für uns im Fall der getöteten Studentin. Dieser Fall ist fürchterlich, und wir sind überhaupt nicht gefühlskalt, aber es ist tatsächlcih so, dass es sich um einen Einzelfall, einen Kriminalfall, gehandelt hat, der aus unserer Sicht eben nicht diese gesellschaftliche, diese nationale oder internationale Relevanz hat... Das hört sich fast zynisch an, aber für Nachrichten, wie wir sie verstehen, für nationale und internationale Nachrichten haben wir immer eine klare Linie, dass einzelne Kriminalfälle nicht in die Tagesschau passen..."

Nicht einmal dann, wenn sich die Einzefälle wiederholen. Auch die Bluttat in einem Drogeriemarkt der Gemeinde Kandel in Rheinland-Pfalz war der Tagesschau keine Notiz wert. Diesmal war es nicht der Chefredakteur von ARD-aktuell, der eine Stellungnahme dazu verfasste, sondern sein nicht minder charismatischer und einfallsreicher Vertreter. 

„Nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich um eine Beziehungstat. So schrecklich sie gewesen ist, vor allem für die Eltern, Angehörigen und Bekannten – aber tagesschau und tagesschau.de berichten in der Regel nicht über Beziehungstaten. Zumal es hier um Jugendliche geht, die einen besonderen Schutz genießen."

In Freiburg war es ein Einzelfall, ohne jede gesellschaftliche, nationale oder internationale Relevanz, in Kandel eine Beziehungstat. Beides schließt eine Berichterstattung in der Tagesschau aus. Zumal wenn es um Jugendliche geht, die einen besonderen Schutz genießen, wobei es nicht darauf ankommt, dass die eine Jugendliche von einem anderen Jugendlichen erstochen wurde, der möglicherwiese zur Tatzeit kein Jugendlicher mehr war. Auf BILD.de sieht er schon recht erwachsen aus. Trotzdem muss ihm „ein besonderer Schutz" zuteil werden. Für sein Opfer ist es bereits zu spät.

Nein, die Jungs bei ARD-aktuell sind nicht gefühlskalt, sie machen nur Dienst nach Vorschrift. Und all die Schrecken, die ihnen täglich auf den Tisch fallen, werden erst einmal auf ihre gesellschaftliche, nationale oder internationale Relevanz untersucht und darauf geprüft, ob es sich um eine Beziehungstat handeln könnte. Wenn sie dann abends heimschreiten, dann tun sie es in dem Bewusstsein, anständig geblieben zu sein und im Vertrauen darauf, dass es sich um ein ungeschriebens und niemals zu schreibendes Kapitel der deutschen Geschichte handelt.

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Leserpost

netiquette:

Heiko Stadler / 29.12.2017

Hier haben wir ihn wieder, den “besonderen Schutz”, der nur dem Täter zuteil wird, nicht aber den vielen potentiellen meist weiblichen Opfern, die oft nicht ahnen, in welcher Gefahr sie sich befinden und dann in ihrer Naivität ins Messer laufen.

Dietmar Schmidt / 29.12.2017

Wenn der Jugendliche auf dem Bild bei “Bild” erst 15 Jahre ist, dann fresse ich freiwillig 3 Besen.  Das ist kein Witz.

Thomas Mende / 29.12.2017

Danke Herr Broder, genau auf den Punkt gebracht. Das Schlimme daran ist, die Redakteure können auch noch ruhig und mit gutem Gewissen schlafen.

Dolores Winter / 29.12.2017

Lieber Herr Broder, der Verweis auf die berüchtigte Posener Rede war hart, aber zutreffend und notwendig. Wahrscheinlich kann man nur so den Aberwitz von Politik und Medien deutlich machen.

Arne Busch / 29.12.2017

Die Nachrichten aus der Schweiz sind heute das neue “Westfernsehen”, Und vom Öffentlich Rechtlichen Fernsehen sprechen nur noch die Linientreuen. Im Volksmund wird das GEZ-Staatsfernsehen längst als “Öffentlich Unredlicher Rotfunk” tituliert.

Dr. Liu Mei / 29.12.2017

An die Tagesschau und weitere systemrelevanten Medien: die junge Frau in Kandel hätte DRINGEND unseren Schutz bedurft (sie war also schutzbedürftig). Ist diese Denkweise rechtsradikal oder rassistisch?

Hans H. Steinke / 29.12.2017

Ein schönes Exemplar der “Schere im Kopf” haben Sie da geschildert, leider weiß ich den Erfinder dieses Bildes nicht mehr. Nach den in der Tagesschau-Redaktion gültigen Auswahlkriterien wären die NSU-Morde sämtlich “tragische Einzelfälle”  geblieben. Auffällig war die Körpersprache von Herrn Grüttner beim Chat mit den Zuschauern -  gut zu sehen, wenn der Ton abgeregelt ist, wie es bei mir am Anfang zufällig war. Als die Akustik dazukam, waren seine Aussagen für mich nur mit Mühe auszuhalten. Mein Vorsatz für 2018: Übernahme einer “Patenschaft”, wie man das bei Ihnen nennt.

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