Gastautor / 13.11.2013 / 05:32 / 3 / Seite ausdrucken

„Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut“

Rainer Grell

„Gestern wusste ich noch nicht, wie man Inschenör schreibt, und heute bin ich schon einen.“ So ähnlich erging es mir mit der Inklusion. Ein Artikel in der „Welt“ hat mir die Unschuld geraubt. Und jetzt haben wir den Salat: Ich kann nicht schweigen. Nichts fällt mir schwerer, als meinen Mund zu halten. Zu allem muss ich meinen Senf dazu geben. Nur mit Mühe konnte ich mich zurückhalten, einen Leserbrief zu schreiben.

Aber dies muss sein. Zwar bin ich alles andere als ein Pädagoge. Der Umstand aber, dass ich mit einer Lehrerin verheiratet bin und die älteste Tochter ebenfalls Lehrerin ist, ja sogar „Sonderschulpäda- gogin“, geht natürlich nicht spurlos an mir vorüber, sondern verursacht einen geradezu unwiderstehlichen Äußerungszwang.

Als Jurist mit großem Latinum weiß ich natürlich, dass Inklusion von „includere“ kommt, was soviel wie „einschließen“ bedeutet. Oder anders ausgedrückt: Niemand soll ausgeschlossen werden. Politisch wird das in der Regel so ausgedrückt, dass kein Kind zurückgelassen werden darf, getreu dem Grundsatz Pestalozzis „Die Welt ist voll brauchbarer Menschen, aber leer an Leuten, die den brauchbaren Mann an- stellen.“ Aber derselbe Pestalozzi hat auch gesagt „Wer sich nicht selbst helfen will, dem kann niemand helfen.“ Und „Jung verzogen, alt verbogen; jung gebogen, wohl gezogen.“ Pädagogisch solchermaßen gerüstet stürze ich mich also ins argumentative Kampfgetümmel.

Derzeit liest man allenthalben, dass Industrie und Handwerk einen Mangel an qualifizierten Auszubildenden beklagen: Zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres 2012 sind noch 100.000 Lehrstellen unbesetzt, sind in Wahrheit also Leerstellen. Gleichzeitig suchen noch über 90.000 Bewerber eine Lehre, wollen aber offenbar nicht Metzger, Bäcker oder Koch werden. Diese Schere erklärt sich daraus, dass die einen ihren „Traumberuf“ suchen, während die anderen ernüchtert feststellen, dass die Bewerber einfach nicht die erforderliche Qualifikation besitzen. Der Meister über- nimmt also zuerst einmal den Job des Lehrers, wie das Handelsblatt schrieb.

Während meines Studiums gab Professor Bulla im Arbeitsrecht hin und wieder Erlebnisse aus den Gesellenprüfungen zum Besten, die ich jedoch nie ernst genommen habe. So wenn er zum Beispiel erzählte, jemand habe auf die Frage nach dem Bundeskanzler (damals Konrad Adenauer) der alte Fritz oder Bismarck gesagt. Erst später wurde mir klar, dass das keine Scherze waren. Einen weiteren Hinweis auf die Leistungsfähigkeit von Lehrlingen bekommt man, wenn diese einen Taschenrechner benötigen, um 2,50 und 1,80 zu addieren. Von der Rechtschreibung oder Geographiekenntnissen ganz zu schweigen. Das Problem ist also nicht über Nacht entstanden.

Was soll schulische Ausbildung eigentlich bewirken? Für mich ist das jenseits aller tiefgründigen Betrachtungen zum „Bildungsauftrag“ eine ganz einfache Frage:

• Die jungen Leute sollen das Wissen erwerben, das sie benötigen, um entweder studieren oder eine Berufsausbildung absolvieren zu können.

• Und die Unternehmen und Behörden sollen Arbeitskräfte mit der erforderlichen Qualifikation bekommen.

Bei dieser Kombination von individuellem und kollektivem Nutzen der Ausbildung sind weitere Ziele und Effekte selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber sie sollten die beiden Hauptpunkte nicht dominieren oder gar verdrängen.

Das derzeitige „dreigliedrige“ Schulsystem versucht, den Jungen und Mädchen in der Grund- und Hauptschule, der Realschule und dem Gymnasium das erforderliche Wissen zu vermitteln. Früher kamen Schülerinnen und Schüler, die dem Niveau der „Volksschule“ nicht gewachsen waren, auf die „Hilfsschule“, die wegen dieser unsensiblen Bezeichnung später Sonderschule genannt wurde. Heute sagt man politisch korrekt Förderschule, was allerdings das Mädchen Lisa in dem Welt-Artikel nicht hindert, von „Doofenschule“ zu sprechen. Woher sie das nur hat?

Was soll denn ein Lehrer in einer Klasse von 25 Kindern mit einem Schüler machen, „der ständig durch die Klasse läuft“? Da hat der Behinderungsbeauftragte der Bundesregierung gut reden, der es wahrscheinlich nicht mal eine Woche in einer Klasse mit Inklusion aushalten würde. Und vor allem: Je mehr sich der Lehrer den „inkludierten“ Kindern widmen, desto mehr muss er die übrigen zwangsläufig vernachlässigen. In einer Förderschule kümmern sich bei einer Klassenstärke von vielleicht zehn Kindern gleich zwei Lehrkräfte um die Kinder.

Auf diese Weise sind diese auf jeden Fall besser in der Lage, sich zu konzentrieren und den Lernstoff mitzubekommen als in einer „normalen“ Klasse. Oder will man dort etwa das Niveau so lange nach unten nivellieren, bis auch das letzte Kind mitkommt? Die Ergebnisse dieser idiotischen Politik kann man heute bei Lehrstellenbewerbern besichtigen. Nur am Rande: Warum gibt es neben den Olympischen Spielen eigentlich noch die Paralympics?

Doch was ist denn nun Inklusion genau? Inklusive Pädagogik ist ein pädagogischer Ansatz, dessen wesentliches Prinzip die Wertschätzung der Diversität (Vielfalt) in der Bildung und Erziehung ist, wie uns irgendein linker Schreiberling in Wikipedia wissen lässt. Dieser Ansatz geht offensichtlich weiter als die „Inclusion“ in der „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ der UNO vom 13. Dezember 2006, die die Bundesregierung am 24. Februar 2009 ratifiziert hat. Sicher wird sich niemand gegen so schöne Sätze wie die folgenden wenden:

„Die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft.“ „Die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit.“

Entscheidend ist jedoch, dass es nicht bei solchen Bekenntnissen bleibt, sondern dass sie auch tatsächlich umgesetzt werden. Und vor allem, wie das geschieht. Nach allen bisherigen Erfahrungen ist die Politik ganz groß in Programmsätzen. Je bombastischer umso besser. Die Umsetzung ist dann Sache der Bürokratie und der wirft man häufig Knüppel zwischen die Beine. Zum Beispiel in Form von Personalabbau.

Ob es nun ein Menschenrecht auf Bildung gibt oder nicht: Jeder hat doch heute die Möglichkeit, sich zu bilden, wenn er nur will. Doch anstatt sich anständig zu benehmen, fleißig zu lernen oder wenigstens den Unterricht nicht zu stören, skandieren die Schüler lieber „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut.“

Und die Lehrer sollen das richten, was die Eltern und die Gesellschaft versaut haben. Und um das Maß voll zu machen, kommt dann noch so ein Klugscheißer wie der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder und erklärt die Lehrer zu faulen Säcken. Aber was will man von jemandem erwarten, der den russischen Despoten Wladimir Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnet?

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Dr. Gerd Brosowski / 13.11.2013

Während meiner vierzig Jahre im Schuldienst am Gymnasium, die letzten fünfundzwanzig Jahre als Direktor eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums, habe ich zahllose Veränderungen erlebt, die uns die lange Reihe von Kultusministern, die man in einem Lehrerleben ertragen muss, beschert haben. Um nur die bekanntesten Änderungen zu nennen: Einführung des Kurssystems( =Zerschlagung der Jahrgangsklassen) in der Oberstufe, Verkürzung der Schulwoche um ein Sechstel (=Erhöhung der täglichen Belastung der Schüler und Lehrer)  durch Einführung des unterrichtsfreien Samstags, “Kompetenzorientierung” ( =Zerschlagung der verbindlichen Lehrpläne ),  Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr (G 8), u.s.w. Oft habe ich mich gefragt, was die lenkenden Kräfte hinter den Veränderungen seien, zumal sich die Kultusminister selbst als Getriebene, nicht als Treibende erwiesen. Auch die sog. Inklusion,  wiederum eine den Unterricht offenbar zerstörende Änderung, wurde nicht von den Ministern erfunden; sie kam irgendwann in Mode, ein Chor änderungswütiger Leute hat sich ihrer angenommen und wird sie wie die zahllosen Änderungen zuvor blindwütig, mit geschlossenen Augen und Ohren durchziehen, und wenn die Welt dabei zugrunde ginge. Womit wir beim Kern der Sache wären: Der sog. Reformwille ist eine Krankheit, eine Wut, eben die Veränderungswut. Wie jede Wut macht sie blind und taub, der von ihr Befallene wird unzugänglich für Erfahrungen, und seien es die offensichtlichsten. Niemand ist so taub wie jemand, der nicht hören will. Die von den Änderungswütigen gebeutelte Schule soll nun mit Schülern klarkommen, die jahrelang in überfüllten Krippen und Kitas festgehalten worden sind und die dort im besten Fall vielleicht Selbstbehauptungswillen und Durchsetzungsvermögen aber gewiss nicht Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft gelernt haben. Klar, dass das nicht gut gehen wird, aber niemand ist so taub wie…

Marc Jenal / 13.11.2013

Ich erlebe als Lehrer diese aktuell als modern geltende Vermischung von Schülern mit total unterschiedlichen Lernvoraussetzungen/-zielen/-Fähigkeiten und zusätzlich verhaltensauffälligen Schülern. Die grossen Unterschiede im Lern-/Verhaltensstand egal in welchem Fach sind für Lehrer, Schüler und Eltern schon schwer zu bewältigen. Klar kann man organisatorisch und didaktisch gewisse Kniffe anwenden, dass es trotzdem noch mehr schlecht als recht funktioniert. Für einige Schüler, die selbständig sind, kann das System sogar ein Vorteil sein. Sie holen sich Hilfe bei Mitschülern und arbeiten im eigenen, angepassten Tempo. Der Lehrer hat zwangsläufig aber nicht mehr die enge Kontrolle, wie sie einige Schüler brauchen. Völlig zum Zusammenbruch führt dieses System wenn mehrere Lernverweigerer und Renitente mit Lernwilligen und Lernfähigen in eine Klasse gepfercht werden, ohne die Möglichkeit zu separieren. Ein sinnvoller, angemessener Unterricht wird unmöglich. Die Lehrperson zum Polizisten umfunktioniert, handlungsunfähig, jeweils “die schlimmsten Feuer löschend”, wird logischerweise als erste von den Eltern angegriffen. Die Unzufriedenheit aller Beteiligten ist verständlich, wie soll in so einer Umgebung gelernt werden! Schade für die verschwendeten Möglichkeiten aller Beteiligten! Der gemeinsame Unterricht von Jugendlichen mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen, in einem einzigen Raum, mit einer einzigen Lehrperson ist - v.a. wenn noch viele Verhaltensauffällige dabei sind - eine Lüge. Wenigstens können an meiner Schule die Verhaltensauffälligen separiert werden. Diese Möglichkeit hilft allen, auch den Verhaltensauffälligen, die speziell, auf ihr Verhalten angepasst betreut werden können, während der Lehrer in dieser Zeit mit den Lernwilligen Unterricht halten kann. Ein Umdenken bei Bildungstheoretikern in pädagogischen Ausbildungsstätten sowie Politikern ist dringend nötig! Ein Handeln ebenso!

Rudi Busch / 13.11.2013

Schröder hin oder her; wer wie ich drei Kinder durch unser Schulsystem geschleust hat, weiß, dass viele Lehrer nicht nur faul sondern auch unfähig sind.

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