Übrigens war Samjatins WIR ein Gegenentwurf zu dem utopischen Roman “Der rote Planet” von Bogdanow, erschienen 1907.
Jeden Morgen wache ich in einer eigenen dystopischen Welt auf. In dieser sind Gehirnoperationen bei den meisten Menschen nicht einmal nötig, sie haben das Denken längst freiwillig aufgegeben und plappern brav Ideologien nach, die der täglichen Wirklichkeit völlig entgegengesetzt sind. Ich las sogar über solche, die die eigene grausam vergewaltigte und ermordete Tochter nicht als entscheidenden Wirklichkeitsfaktor sahen und sogar an deren Grab ihr ideologisches Mantra weiterbeteten. Repression ist ebenfalls längst Alltag, all jene, die eigene realitätsnahe Gedanken und Schlüsse zu äußern wagen, geraten in Gefahr, ihre Existenz zu verlieren, ihren sozialen Status oder im Extremfall morgens um 6.00 Uhr staatliche Kommandos in der eigenen Wohnung begrüßen zu dürfen oder am Ende sogar mit Geld oder Freiheitsstrafe für eigenständiges Denken belangt zu werden. Ich lebe in dieser Dystopie in der dem Staat 20 Messerangriffe am Tag völlig normal sind und der nichts dagegen tut, wenn kriminelle Strukturen seine Schwäche ausnutzen und sich das Steuergeld der Bürger im großen Stil unter den Nagel reißen. Ich lebe in dieser Gesellschaft, in dem man sich an Vergewaltigung von Frauen und Mädchen gewöhnt hat, sogar an Gruppenvergewaltigungen. Denn die Frau ist inzwischen weit weniger wert als vor 100 Jahren. In dieser Dystopie sind nicht einmal Kinder sicher, die auf einem Volksfest sind oder mit der Erzieherin im Park unterwegs sind. Das ist ein grauenhafter Alptraum, den ich niemals gewählt habe und der mir von einem Staat aufgezwungen wird, der längst als erster das Recht mit Füßen tritt. Der häufig von Menschen vertreten wird, denen man nicht einmal einen Reinigungsjob zutrauen würde. Ein Staat, der Bildung mit linker Gehirnwäsche verwechselt und der seine ursprünglichen Bildungsabschlüsse entwertet. Und ein Staat, der mit der Wirtschaft die Lebensgrundlage der Bürger vernichtet. Meine Dystopie kann es fast mit der beschriebenen aufnehmen, es ist nur noch grauenhaft.
Die „Wohltäter“ verwenden das „Wir“ im doppelten Sinn: Zum einen, wenn sie ihr Milieu meinen, das allein berechtigt ist, allen anderen zu oktroyieren, was sie zu tun, zu lassen und zu denken haben. Zum anderen, wenn sie die vorbezeichneten Anderen in Haftung für ihre vorgeblichen Weltverbesserungs - und Weltrettungsprojekte nehmen - inklusive ihres überdurchschnittlichen Lebensunterhalts.
Huxley hat WIR und damit das Thema im Folge obskur weichgespült und etwas komodes draus gemacht, kein Wunder bei der Verwandtschaft. Insofern ist WIR eher der Vorgänger von ‘Schöne Neue Welt”. Bemerkenswert ist das sexuelle Recht einer Nummer, auf jede andere Nummer. Der feuchte Traum vom notgeilen, versoffenen Marx. Samjatin war einer der wenigen, welcher das Manifest von Marx gelesen und anscheinend richtig interpretiert hat. Die Weibergemeinschaft, ergo die Vergesellschaftung der Weiber kündigte Marx an, neben anderen Gräulichkeiten, und Samjatin hat die Idee bloßgestellt, weshalb er dann verschissen hatte.
Ein ähnliches Thema findet sich in dem 1890 erschienenen Roman von Edward Bellamy “Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887”. Ein junger Mann fällt Ende des 19. Jahrhunderts in einen hundertjährigen Schlaf und wacht in der “perfekten” kommunistischen Welt auf.
Falsch, Frau Lengsfeld, von Jewgeni Samjatin sind weitaus mehr Werke bekannt. Versuchen Sie’s doch mal mit der vierbändigen Ausgabe ausgewählter Werke, die 1991 im Gustav Kiepenheuer, Leipzig und Weimar erschienen ist. Schönen Gruß aus der Zone, Michael Meier
Ich bin JETZT auf Seite 130 meiner Ausgabe, 22. Eintragung. Mir fällt die Szene ein wo der Erzähler die von der besorgten Obrigkeit vorgegeben 50 Kaubewegungen beim Essen erwähnt. Oder: Seine Freundin O-90 ist 10 cm unter der Mutternorm, sie darf keine Kinder gebären.
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