Vera Lengsfeld / 08.06.2025 / 14:00 / Foto: Thomas Edwards / 7 / Seite ausdrucken

„Wir“ – eine 105 Jahre alte Dystopie

Von Jewgenij Samjatin ist nur dieses eine Buch bekannt und das wurde von den Bolschewiken schnell verboten. Es dürfte der erste dystopische Roman sein und diente George Orwell als Anregung für sein 1984.

Von Jewgenij Samjatin weiß man nicht viel, nur dass er ein Revolutionär und Schriftsteller war. Er hat den Aufstand auf dem Panzerkreuzer „Aurora“ mitgemacht, der zum Startschuss des Oktoberputsches wurde. Samjatin hat wohl schnell gespürt, wohin diese „Revolution“ führt. Von allem, was er als Schriftsteller geschrieben haben mag, ist nur ein schmales Buch bekannt: „Wir“, das 1920 entstanden ist und als erstes Buch überhaupt schnell von den Bolschewiken verboten wurde.

Das erste Angebot, Russland zu verlassen, hat Samjatin Anfang der 20er Jahre noch abgelehnt, trotz Schreibverbots, das über ihn verhängt worden war. Aber 1929 nahm er die von Maxim Gorki vermittelte Möglichkeit wahr, nach Paris zu emigrieren, wo er wenige Jahre später mit Anfang 50 starb. Er hinterließ zahlreiche Novellen und Erzählungen, von denen die wenigsten ins Deutsche übersetzt worden sind. „Wir“ ist der erste dystopische Roman und diente George Orwell als Anregung für sein 1984. Erstaunlich ist, wie hellsichtig Samjatin totalitäre Strukturen und Methoden vorausgesehen hat.

Sein Roman spielt in einer Stadt, umgeben von einer grünen Mauer, die als Siegerin aus dem letzten, dem 200-jährigen Krieg – dem zwischen Stadt und Land – hervorging. Es herrschen Transparenz und ein Leben nach mathematischen Prinzipien. Es gibt keine Individuen mehr, nur noch Nummern. Es herrscht vollständige Transparenz, die Häuser sind aus Glas. Man sieht seinen nächsten Nachbarn ins Zimmer. Nur wenn man ein rosa Billett zugesellt bekommt, erhält man vom Blockwart die Erlaubnis, die Vorhänge zuzuziehen. Es gibt kein Chaos mehr, keine ungeordneten Gefühle, selbst der Himmel über der Stadt ist gleichmäßig blau.

Erkrankt an der "Entstehung einer Seele"?

Das Ganze ist in Tagebuchform beschrieben, das die Nr. D-503, oberster Ingenieur beim Projekt „Integral“ – einer Rakete, die über das All in den Rest der Welt einfallen und die Revolution exportieren soll – für seine Leser aus ihm selbst nicht ganz verständlichen Gründen führt. Er möchte voll und ganz ein loyaler Bewohner des einzigen Staates sein, spürt aber ab und zu Regungen, die es nicht geben dürfte und die ihn erschrecken. Das kulminiert, als er auf einem Spaziergang während der Privaten Stunde, die alle noch haben, I-330 kennenlernt, die ihn fesselt, zugleich aber Angst macht. Sie, die heimlich zur Widerstandsbewegung im einzigen Staat zählt, zieht ihn immer mehr in ihren Bann. Nachdem sie unerlaubten Sex hatten, ist er ihr verfallen. Ob sie seine Gefühle erwidert oder ob sie ihn nur an sich bindet, weil er der Chef von „Integral“ ist, den die Widerständler in ihren Besitz bringen wollen, bleibt unklar.

Ausgerechnet am Tag der Einstimmigkeit, an dem alle Stadtbewohner den Wohltäter wieder wählen sollen, bricht der Aufstand los. Es gibt Hunderte Gegenstimmen, das Chaos bricht los, die offene Repression beginnt. Fluchten hinter die Mauer, Verfolgung und Verhaftungen lassen die Lage unübersichtlich werden. Es zeigt sich, dass der einzige Staat noch nicht alles im Griff hatte. Von seinen Ärzten war seit Längerem eine Krankheit entdeckt worden, die sie die „Entstehung einer Seele“ nannten. Sie forschten fieberhaft nach einem Gegenmittel. Eine kleine Operation am Gehirn könnte Abhilfe schaffen. Wer sich nicht freiwillig dieser Operation unterzog, wurde von den Wächtern eingefangen und in die OP-Säle gebracht. Die frisch Operierten beteiligten sich dann an der Jagd auf noch nicht Operierte. Der Versuch der Widerständler, „Integral“ in Besitz zu nehmen, scheitert. Ihr Aufstand wird immer aussichtsloser. I-330 gibt D-503 die Schuld am Misslingen. Er will sich nicht operieren lassen, wird aber als einer der Letzten eingefangen und zwangsbehandelt.

Danach ist sein inneres Gefühlschaos vorbei. Er wird abkommandiert, der Folterung von I-330 beizuwohnen, der er regungslos zuschauen kann. Sie wird dreimal einer grausamen Prozedur unterzogen – eine Art trockenem Waterboarding durch Luftentzug unter einer Glasglocke –, ehe sie gesteht. Die meisten ihrer Mitgefangenen hatten schon beim ersten Mal geredet. D-503 beendet sein Tagebuch mit dem Eintrag, dass die offenen Stellen der grünen Mauer mit Starkstrom gesichert wurden und der einzige Staat siegen würde: „Denn die Vernunft muss siegen.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf vera-lengsfeld.de

„Wir. Ein dystopischer Roman“, Jevgenij Samjatin, 2025, aionas: Weimar.

Vera Lengsfeldgeboren 1952 in Thüringen ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Dieser Beitrag erschien zuerst auf ihrer Seite vera lengsfeld.de

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Michael Meier / 08.06.2025

Übrigens war Samjatins WIR ein Gegenentwurf zu dem utopischen Roman “Der rote Planet” von Bogdanow, erschienen 1907.

Klara Altmann / 08.06.2025

Jeden Morgen wache ich in einer eigenen dystopischen Welt auf. In dieser sind Gehirnoperationen bei den meisten Menschen nicht einmal nötig, sie haben das Denken längst freiwillig aufgegeben und plappern brav Ideologien nach, die der täglichen Wirklichkeit völlig entgegengesetzt sind. Ich las sogar über solche, die die eigene grausam vergewaltigte und ermordete Tochter nicht als entscheidenden Wirklichkeitsfaktor sahen und sogar an deren Grab ihr ideologisches Mantra weiterbeteten. Repression ist ebenfalls längst Alltag, all jene, die eigene realitätsnahe Gedanken und Schlüsse zu äußern wagen, geraten in Gefahr, ihre Existenz zu verlieren, ihren sozialen Status oder im Extremfall morgens um 6.00 Uhr staatliche Kommandos in der eigenen Wohnung begrüßen zu dürfen oder am Ende sogar mit Geld oder Freiheitsstrafe für eigenständiges Denken belangt zu werden. Ich lebe in dieser Dystopie in der dem Staat 20 Messerangriffe am Tag völlig normal sind und der nichts dagegen tut, wenn kriminelle Strukturen seine Schwäche ausnutzen und sich das Steuergeld der Bürger im großen Stil unter den Nagel reißen. Ich lebe in dieser Gesellschaft, in dem man sich an Vergewaltigung von Frauen und Mädchen gewöhnt hat, sogar an Gruppenvergewaltigungen. Denn die Frau ist inzwischen weit weniger wert als vor 100 Jahren. In dieser Dystopie sind nicht einmal Kinder sicher, die auf einem Volksfest sind oder mit der Erzieherin im Park unterwegs sind. Das ist ein grauenhafter Alptraum, den ich niemals gewählt habe und der mir von einem Staat aufgezwungen wird, der längst als erster das Recht mit Füßen tritt. Der häufig von Menschen vertreten wird, denen man nicht einmal einen Reinigungsjob zutrauen würde. Ein Staat, der Bildung mit linker Gehirnwäsche verwechselt und der seine ursprünglichen Bildungsabschlüsse entwertet. Und ein Staat, der mit der Wirtschaft die Lebensgrundlage der Bürger vernichtet. Meine Dystopie kann es fast mit der beschriebenen aufnehmen, es ist nur noch grauenhaft.

S.Buch / 08.06.2025

Die „Wohltäter“ verwenden das „Wir“ im doppelten Sinn: Zum einen, wenn sie ihr Milieu meinen, das allein berechtigt ist, allen anderen zu oktroyieren, was sie zu tun, zu lassen und zu denken haben. Zum anderen, wenn sie die vorbezeichneten Anderen in Haftung für ihre vorgeblichen Weltverbesserungs - und Weltrettungsprojekte nehmen - inklusive ihres überdurchschnittlichen Lebensunterhalts.

Peter Holschke / 08.06.2025

Huxley hat WIR und damit das Thema im Folge obskur weichgespült und etwas komodes draus gemacht, kein Wunder bei der Verwandtschaft.  Insofern ist WIR eher der Vorgänger von ‘Schöne Neue Welt”. Bemerkenswert ist das sexuelle Recht einer Nummer, auf jede andere Nummer. Der feuchte Traum vom notgeilen, versoffenen Marx. Samjatin war einer der wenigen, welcher das Manifest von Marx gelesen und anscheinend richtig interpretiert hat. Die Weibergemeinschaft, ergo die Vergesellschaftung der Weiber kündigte Marx an, neben anderen Gräulichkeiten, und Samjatin hat die Idee bloßgestellt, weshalb er dann verschissen hatte.

Wilfried Rockensüß / 08.06.2025

Ein ähnliches Thema findet sich in dem 1890 erschienenen Roman von Edward Bellamy “Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887”. Ein junger Mann fällt Ende des 19. Jahrhunderts in einen hundertjährigen Schlaf und wacht in der “perfekten” kommunistischen Welt auf.

Michael Meier / 08.06.2025

Falsch, Frau Lengsfeld, von Jewgeni Samjatin sind weitaus mehr Werke bekannt. Versuchen Sie’s doch mal mit der vierbändigen Ausgabe ausgewählter Werke, die 1991 im Gustav Kiepenheuer, Leipzig und Weimar erschienen ist. Schönen Gruß aus der Zone, Michael Meier

Thomas Szabó / 08.06.2025

Ich bin JETZT auf Seite 130 meiner Ausgabe, 22. Eintragung. Mir fällt die Szene ein wo der Erzähler die von der besorgten Obrigkeit vorgegeben 50 Kaubewegungen beim Essen erwähnt. Oder: Seine Freundin O-90 ist 10 cm unter der Mutternorm, sie darf keine Kinder gebären.

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