Wann immer wir in Deutschland über die Ursachen für die deutsche Selbstkasteiung in der Asylpolitik oder im Umgang mit dem politischen Islam diskutieren, landen wir früher oder später beim Dritten Reich.
Dirk Schümer schreibt in DIE WELT:
„Keine Nation hat einen derart nachhaltigen Traditions- und Identitätsbruch erlebt wie Deutschland (…)“
Die bis heute andauernde Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit hätte zu einem Verlust von Kultur und Heimatgefühl geführt, das die Deutschen nun durch die Zuwanderer ersetzt wissen wollen. Unser Bruch mit der eigenen Kultur und Tradition sorge dabei für eine Sehnsucht, die wir dadurch stillen, dass wir die Intaktheit der Kultur der anderen umso mehr respektieren und erhalten wollen.
„Stehen bei uns fanatische Frömmigkeit, Patriarchat, soziale Aggression zu Recht unter Generalverdacht, in unsere eigene unheilige Tradition zurückzuweisen, so werden religiös bedingte Verhüllung, Antisemitismus, Strafe für Gotteslästerer, brutales Vaterrecht in der Familie, ja sogar Vielweiberei milder gesehen oder durchaus akzeptiert, wenn es sich bloß um Gäste aus einer anderen Heimat handelt.“
Ich stimme mit Schümer überein, dass es sich bei der deutschen Kultur um eine verstörte bis schwer gestörte Kultur handelt. Auch die Folgen der eigenen kulturellen Verleugnung sind mehr als treffend beschrieben. Einzig was die Gründe dieser kollektiven Profilneurose angeht, greift mir der sich in der Debatte wiederholende Verweis auf die Nazi-Schuld der Deutschen zu kurz.
Die elementaren Zutaten des Teiges
Denn der Teig aus Schuldgefühlen, der in jahrzehntelanger Handarbeit mühevoll vom linksintellektuellen Spektrum angerührt wurde, umfasst weit mehr Zutaten als das Dritte Reich. Auf dem fertigen Kuchen ist der Holocaust mittlerweile nicht viel mehr als die Sahnekirsche. Es geht auch ohne sie, aber mit ihr ist eben hübscher.
Die elementaren Zutaten des Teiges sind längst andere, was auch erklärt, weshalb sich Islam-Appeasement, Anti-Rassismus-Wahn und die Idee eines grenzen- und nationenlosen Utopias nicht nur in Deutschland zunehmender Beliebtheit erfreuen, sondern auch in anderen Ländern des Westens. Immerhin bestand der einzige Trost des gebeutelten Deutschen in den letzten dreieinhalb Jahren oftmals lediglich in der Feststellung, dass Länder wie Frankreich, England, Belgien und Schweden bezüglich Migration, radikalen Islam und gescheiterter Integration nicht minder desparat sind als wir. Und das ganz ohne die Bürde von sechs Millionen getöteten Juden.
Ja, man kann und muss darüber sprechen, welche Konsequenzen die Leugnung einer eigenen kulturellen Identität für den Integrationserfolg von Migranten mit zumeist sehr ausgeprägter kultureller und religiöser Identität hat. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, festzustellen, dass sich in den letzten dreieinhalb Jahren die Auswüchse gescheiterter Integration nirgendwo so deutlich gezeigt haben wie in Frankreich und England. Nirgends in Europa ist die Abschottung der muslimischen Bevölkerung größer. Der Terror als brutalstes Symptom dieser gescheiterten Integration – das wissen wir längst – macht auch nicht vor jenen Nationen halt, die über eine ausgeprägte nationale Identität beziehungsweise ein intaktes Heimatgefühl verfügen.
Übertriebene Toleranz gegenüber Migranten, ihrer Kultur und Religion aus Angst vor dem Rassismus-Verdacht, Parallelgesellschaften, die immer weitere Zugeständnisse von der Mehrheitsgesellschaft fordern, ein Justiz- und Strafvollzugssystem, das mit seinen Ansätzen von Resozialisierung nicht auf die Gewalt und Verrohung von migrantischen Tätern ausgerichtet ist sowie Terror und zunehmender Antisemitismus sind keine exklusiv deutschen Probleme, weshalb die Gründe, die für dieses Versagen der Aufnahmegesellschaften in jenen Bereichen sorgen, auch nicht exklusiv auf die deutsche Vergangenheit und den Umgang mit dieser heruntergebrochen werden können. Wenn es selbst in den USA mittlerweile möglich ist, dass eine antisemitische Kopftuchträgerin wie Ilhan Omar im Kongress sitzt, dann sollte uns das aufhorchen und nach den länderübergreifenden Gründen für die Toleranz bis zur Selbstaufgabe suchen lassen.
Material eines dystopisch-grausamen Romans
Es liegt in der Natur der Sache und ist daher keinesfalls despektierlich gemeint, wenn man feststellt, dass der Nationalsozialismus und seine Nachwehen bei der älteren Generation einen größeren Platz bei der Suche nach den Ursachen für Willkommenskultur und bedingungslose Toleranz einnimmt als es in der Realität tatsächlich der Fall ist. Das ist so, weil dieses auferlegte Schuld-Narrativ allein aus Gründen des geringeren zeitlichen Abstands bei dieser Generation in der Tat auch noch präsenter ist.
Von wem aber reden Schümer und andere, wenn sie von den Deutschen und ihrer „verstörten“ Kultur schreiben? Die Grün-Wähler, die Nationen-Abschaffer, die One-World-Ideologen und „Seenotretter“ speisen sich vor allem aus der Jugend. Generation XYZ von #WirSindMehr mit Materia und K.I.Z bis Hüpfen für das Klima mit Greta Thunberg. Also aus jener Generation, für die das Dritte Reich nichts weiter als eine abstrakte Monstrosität darstellt, die angesichts der eigenen Lebensrealität kaum greifbar, ja fast wie das Material eines dystopisch-grausamen Romans erscheint.
Dabei teile ich durchaus die Wahrnehmung, dass sich der Kampf der Deutschen gegen die Nazis mit jedem Jahr, in dem das Dritte Reich länger zurückliegt, mehr und mehr intensiviert. Seine größte Rolle spielte das Dritte Reich im Geschichtsunterricht an den Schulen nicht kurz nach seinem Untergang, sondern in den letzten 20 Jahren. Zugleich bedeutet Überkompensation nicht automatisch Bewusstsein, weshalb sich das Geschichtsbewusstsein bezüglich der Grauen des Nationalsozialismus bei vielen meiner Generation nicht auf Strukturen und Mechanismen hinter Faschismus und Nationalsozialismus gründet, sondern auf einstudierte Betroffenheit ohne wirklichen Bezug.
Ein Bezug zu einer Schuld und ein daraus resultierendes Verantwortungsgefühl entsteht bei den meisten Menschen sowieso nur, wenn es eine tatsächliche oder zumindest sich gut eingeredete persönliche Verantwortung für diese Schuld gibt. Wenn aber selbst der Opa schon ein Nachkriegskind war, fehlt dieser Bezug zu dieser persönlichen Verantwortung gänzlich. Das Dritte Reich verliert seine politische Wirkmacht, weshalb der deutsche Staat in Sachen Erinnerungskultur zu der bereits angesprochenen verzweifelten Überkompensation greift, die jedoch eher für eine „Abnutzung“ sorgt als für ein revitalisiertes Bewusstsein. Der Begriff „Nazi“ verliert eben auch seinen Schrecken, je öfter man ihn verwendet.
Der Erfolg des Schuld-Konglomerats
Längst gibt es daher viel wirkmächtigere Schuldkomplexe, aus denen sich allerhand politische Forderungen ableiten lassen. Im Gegensatz zur exklusiv deutschen Nazischuld lassen sich diese linken Schuldnarrative auf die gesamte westliche Hemisphäre ausdehnen und büßen dank der Tatsache, dass der afrikanische Kontinent immer noch arm, der Nahe und Mittlere Osten immer noch unfriedlich und das Klima immer noch gefährdet ist, wenn der Deutsche nicht augenblicklich seinen Diesel abschafft, nichts an Aktualität ein.
Meine Generation ist nicht schuld an sechs Millionen systematisch ermordeten Juden. Dafür aber an der Armut der Dritten Welt, den Kriegen im Nahen Osten und dem Klimawandel – der wiederum, wenn es nach den Grünen geht, auch wieder Flüchtlingsbewegungen zur Folge hat, die wir aufgrund unserer Schuld zu erdulden haben. Was früher allenfalls von nervigen Häkel-Pullover-Freaks an den Unis heruntergebetet und von der RAF in rohe Gewalt umgesetzt wurde, hat sich heute als legitime Weltanschauung – ausgehend von den Universitäten – tief in die Mitte der Gesellschaften des Westens und vor allem in die Mitte der jungen Generation gegraben.
Der Erfolg dieses Schuld-Konglomerats gründet sich hierbei auf seine abstrakte Natur. Die mangelnde konkrete Greifbarkeit mag für den rational denkenden Menschen die dünne, blödsinnige Argumentationslinie entlarven. Für die meisten, sich nicht großartig mit Politik auseinandersetzenden, sich aber trotzdem als gebildet inszenierenden Menschen ist dies jedoch nur Indiz für die wahnsinnige Komplexität dieser Themenfelder, die wir einfältigen Konservativen und Neoliberalen nur nicht begreifen.
Konkret heißt das: Afrika ist nicht arm, weil die Geburtenrate (im Sudan durchschnittlich 8 Kinder pro Frau!) jeden wirtschaftlichen Aufschwung auffrisst, Milliarden in Korruption versickern und der Arbeitsethos nicht unbedingt immer dem der Europäer entspricht, sondern weil wir diese Menschen für unseren Wohlstand ausbeuten. Im Nahen und Mittleren Osten von Israel bis Syrien gäbe es augenblicklich keine Konflikte und Kriege mehr, wenn wir unsere Waffenlieferungen einstellen würden. Shiiten. Sunniten, Rebellen und Regierungstruppen – alle würden sich in den Armen liegen, wenn der Westen nicht wäre und man statt dem Gewehr nur den Knüppel zur Hand hätte, und das Klima ist nicht kaputt und die Meere nicht zugemüllt, weil China und Indien ihren gesamten Müll über die Welt verteilen, sondern weil in deutschen Städten noch nicht flächendeckend Dieselfahrverbote eingeführt und Plastiktüten verboten wurden. Ist doch ganz klar.
Anders als bei der Lehre aus dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ergeben sich aus diesen Schuldnarrativen aufgrund ihrer abstrakten Natur jedoch keine konkreten Handlungsanweisungen, was sie wiederum umso verlockender macht. Dass für das Elektroauto noch mehr Kinder auf dem afrikanischen Kontinent nach seltenen Erden wühlen als für das eigene Smartphone? Interessiert keinen. Dass wir mit der unkontrollierten Zuwanderung nicht nur Opfer, sondern auch Täter hier her holen? Spielt keine Rolle. Dass die Ärmsten der Armen, die Alten und Kranken aus den Krisenregionen dieser Welt gar nicht die Möglichkeit haben, zu uns zu kommen? Wen juckt das? Abstrakt ist die Schuld und abstrakt ist die Wiedergutmachung. Was zählt, ist sowieso mehr die gute Absicht und vor allem das gute Gefühl. Die Demo gegen Rechts ist dabei nur die Kirsche auf dem Kuchen der Schuld und der abstrakten Gefühle. Die letzte Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen.