Jesko Matthes / 17.05.2018 / 12:00 / Foto: Olaf Kosinsky / 7 / Seite ausdrucken

Winfried Kretschmann wird 70. Verriss einer Gratulation

Winfried Kretschmann hat Geburtstag. Die WELT veröffentlichte vorab einen Essay ihres Autors Thomas Schmid, unter dem Titel „Die gute, alte Demokratie der Bürger gibt es nicht mehr“. Bereits diese Überschrift, der ich zunächst zustimmen möchte, reizt mich gleich danach zur Polemik: Denn, was gibt es dann? Die schlechte, neue Demokratie der Anti-Bürger? Schmids Essay ist ein Auszug aus einer Festschrift für Winfried Kretschmann zu dessen 70. Geburtstag.

Ich habe mir das Buch bestellt, ich möchte gern auch das lesen, was Angela Merkel und Norbert Lammert dem Jubilar ins Stammbuch schreiben. Fürs Erste genügt mir Thomas Schmids Essay. Er stellt einige steile Thesen auf: Der öffentliche Raum sei „fragmentiert“. Zugestanden, für das Internet mag das noch gelten, in dem krude Verschwörungstheorien, Tummelplätze von Trollen und Ideologen, gleichberechtigt neben Sachinformationen stehen, und wo jeder jedem Desinformation, fake news, vorwerfen, wahlweise auch Fakten recherchieren oder Fiktionen blühen lassen kann

Ich habe eine andere Vorstellung vom öffentlichen Raum. In meinem öffentlichen Raum steht das Brandenburger Tor, durch das 1933 im Gleichschritt die braunen Horden der SA mit ihren Fackeln zogen, einen kurzen Spaziergang weit steht heute das Holocaust-Mahnmal, und, was für eine parabolische Geschichte, vor dem selben Tor sind kürzlich die Fahnen Israels mit dem Davidstern verbrannt worden.

Zu meinem öffentlichen Raum gehört auch ein Parlament, der deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude des Paul Wallot aus der Kaiserzeit, das 1933 unter bis heute ungeklärten Umständen abbrannte. Mein öffentlicher Raum umfasst den Rückblick auf Philipp Scheidemann, der 1918 von einem Balkon auf der Südseite des Reichstags verkündete, das Alte und Morsche sei zusammengebrochen, das Neue aber lebe, die deutsche Republik. Er umfasst auch den Breitscheidplatz, auf dem ein islamistischer Attentäter in einem per Raubmord gestohlenen LKW nahtlos weiter mordete. Ich bin ein Berliner: Es ist das Risiko der Geschichte, sie sich auch in dem öffentlichen Raum anzusehen, in dem sie stattfindet.

Die Dinge der Demokratie haben einen inneren Zusammenhang, nach dem ein freier Bürger fragen kann, fragen muss. Dieser Zusammenhang, der politische, der geschichtliche, ist nicht nur ein fragmentierter Kontext, eine unzusammenhängende Aneinanderreihung von Zufällen, ein Konglomerat von parallelen Universen. Wer mir das weismachen will, der redet mir politisches Denken nicht ein, sondern aus.

So auch Thomas Schmid: Ich solle mich ein wenig mit Demokratie-Skeptikern wie Walter Lippmann und Carl Schmitt beschäftigen, gar anfreunden, um zu begreifen, dass der öffentliche Raum fragmentiert sei, dass ich einem Parlament, das auch ich wähle, nicht zu viel zumuten, aufbürden, gar zutrauen solle, aber dafür die Expertise den Experten lassen, also, in meiner Sprache: den Davidstern brennen sehen und mich mit den wenigen Sternstunden des Parlaments genauso abfinden wie mit dem umso häufigeren Fraktionszwang.

Schmids Text ist der Würdigung eines Seniors der „Grünen“ angemessen. Er ist ein wahrlich „konservatives“ Manifest, nämlich eine Lockung, mich mit dem status quo der real existierenden Demokratie und meiner eigenen Machtlosigkeit abzufinden, ein Dokument des Untertanengeistes unter der Ägide gewählter „Experten“. Denn so meint er es tatsächlich, wenn Schmid schreibt, die gute, alte Demokratie der Bürger gibt es nicht mehr: Ein großes Land, eine große Ökonomie, so Schmid in ehrfürchtiger Anrufung und verdächtiger Pseudo-Kritik erzkonservativer Denker von Aristoteles bis Tocqueville, sei für eine an ihrer Basis orientierte, subsidiäre Demokratie zu komplex. 

Entschuldigung, das ist die Fehlinterpretation des politischen Konservatismus, mit dem der Autor auch noch Wilfried Kretschmann dekorieren möchte, die altbackene Komplexitätstheorie der selbst ernannten Experten, nach dem Motto: vox populi vox Rindvieh. Ich spiele dieses pseudo-kritische Spiel der sorgsam getarnten Publikumsbeschimpfung nicht länger mit. Es ist ein zu albernes Spiel: Erst intellektuellen Staub aufwirbeln und sich dann beklagen, überhaupt keine demokratischen Lösungen mehr sehen zu können.

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Leserpost

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Wilhelm Müller / 17.05.2018

Herrn Kretschmann muss man ein Verdienst zuschreiben: Er hat bewiesen, dass im Südwesten unseres deutschen Vaterlandes reichlich recht einfältige Zeitgenossen leben. Neben der shithole Berlin ist das abgedrehte BW der Hotspot der Dekadenz geworden. In einem Bundesland, das einmal der Schrittmacher der deutschen Wirtschaft war, folgt die Erbengeneration einem linken Rattenfänger, der sich als Opi tarnt, in den Abgrund. Die Geschichte ist wirklich zuweilen zu derben Späßen aufgelegt.

Andreas Rochow / 17.05.2018

@ P. Steigert Die Forderung nach einem “Grundkonsens” - was immer das sein soll - ist sinnwidrig und gefährlich. Wenn eine Pflicht zum Grundkonsens bestehen würde, wäre “die Meinung der anderen” schon eine Regelwidrigkeit. Vor der demokratischen Mehrheitsentscheidung muss muss der ergebnisoffene Meinungsstreit stehen, sonst stirbt die Demokratie. Der “Grundkonsens” und nicht die “Fragmentierung”, also der Meinungspluralismus, würde das Ende der Demokratie bedeuten. Da wir uns mit großen Schritten dem Ende der Demokratie nähern, müssen Erklärungen dafür her. Die “Fragmentierung” ist es mitnichten. Die Furcht vor dem historische Scheitern des Linksgrünen aber können im Herzen Linksgrüne wie Kretschmann oder Thomas Schmid noch nicht eingestehen.

B.Kröger / 17.05.2018

Wer sich im öffentlichen, politischen Raum als sog. Experte bezeichnet, spricht anderen Menschen die eigenständige Entscheidungsfähigkeit ab. Cui bono?

Gerhard Manderley / 17.05.2018

Es steht auch einem Chefredakteur nicht an, das Maß seiner eigenen Beschränktheit auf alle anderen zu projizieren. Ich kenne viele Menschen, denen die Realität durchaus nicht zu komplex ist, weil sie noch klar denken können. Komplexität ist immer ein Zeichen verwahrlosten Denkens, wie wir es besonders häufig im linken Spektrum finden. Und Komplexität ist ein Herrschaftsinstrument, um zu verwirren und Kritiker abzulenken. Hinnehmen muss man das nicht!

Martin Landvoigt / 17.05.2018

Es galt wohl schon seit immer, auch unter glühenden Demokraten, dass die Demokratie, im besonderen die repräsentative, einige gravierende intrinsische Schwächen hat. Kurz: Die Demokratie ist ein schlechtes Herrschaftssystem ... nur: alle Alternativen sind schlechter! Autokraten und Aristokraten haben zumeist weniger Checks and Balances. Und der gute Wille, die der Staatstreue dem Herrscher gerne unterstellt, muss noch nicht einmal falsch sein, wenn durch Inkompetenz dennoch in den Abgrund marschiert wird. Die heutige Demokratiekritik ist aber häufig nicht von jenen, die sich um die pluralistische Repräsentanz und den mündigen Bürger sorgen, sondern jene, denen die Meinung der politischen Gegner nicht passt und darum dies in der Manier der Autokraten disqualifizieren wollen.

P.Steigert / 17.05.2018

Für Demokratie braucht man einen Grundkonsens, einmal wie sie funktionieren soll und dann wer dazugehört. Über beides werden sich die Menschen in diesem Land nicht mehr einig werden.

Helmut Driesel / 17.05.2018

Von der Intension her haben Sie vermutlich recht. Die Fragmentierung der Gesellschaft entsteht aber nicht durch rückblickende Zusammenschau, sondern durch den Willen und die Überzeugung der einzelnen Gruppen, ihr Heil nicht im Gemeinsamen sondern im Trennenden zu sehen und zu suchen. Wenn es nun nicht nur vier oder fünf Gruppen gibt sondern fünfzig, dann ist die Assoziation Staat dabei, sich in kleinere Zellen aufzulösen. Wie weit das ökonomisch auszuhalten ist, bleibt abzuwarten. In meinen Augen ist es ein völlig natürlicher Prozess. Die Erkenntnis, dass kleinere Assoziate sich weder verteidigen noch ökonomisch längere Zeit erhalten können, wird die Gegensätze dann wieder zusammen führen. Erzwingen kann man da, glaube ich, gar nichts.

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