Das Reich des Guten entsteht da, wo nicht mehr das kritische Denken und Handeln des Einzelnen gefragt ist, sondern alles für alle per Gesetz verordnet wird. Mit ihm zieht eine Zeit herauf, in der jede Interaktion und jeder Gedanke reglementiert sein werden – und in der kein Platz mehr für individuelle Haltungen, für Geschmäcker und Vorlieben ist, in der nicht mehr an unpassender Stelle gelacht, eine Zigarette zu viel geraucht oder ein Glas Wein über den Durst getrunken werden wird.
Der in Deutschland kaum bekannte französische Philosoph, Essayist und Schriftsteller Philippe Muray (1945–2006) schrieb seinen Essay „Das Reich des Guten“ über die französische Gesellschaft der frühen 1990er Jahre. „Die Ideen von Philippe Muray verdienen Verbreitung, sehr viel mehr als jene der meisten Intellektuellen und auch mehr als meine“, sagte Michel Houellebecq 2016 in seiner Frank-Schirrmacher-Preis-Rede.
Wer die aktuellen Debatten um die moralische Besserwisserei verstehen möchte, sollte zu diesem kürzlich bei Matthes & Seitz auf Deutsch erschienenen Buch greifen. Murays unverschnörkelte Sprache ist heute selten.
Einige Highlights aus dem Buch:
„Die demokratische Basis der neuen Tyrannei erlaubt jetzt schon, jeden, der besagte Tyrannei zu problematisieren wagt, an die äußersten Ränder der Gesellschaft zu verbannen. Künftig lautet die einzig richtige Frage, ob es noch möglich ist, nicht alles rigoros zu verbieten.“ (S. 53)
„So sichert sich das System seine ‚geistige‘ und ‚moralische‘ Macht. Mithilfe schneller und öffentlicher Polizeieinsätze in seinem Inneren beruhigt es die Zuschauer hinsichtlich seiner eigenen Integrität und macht die angeblich uns zuliebe selbstauferlegte totalitär-hygienische Überwachungspflicht tagtäglich unentbehrlicher." (S. 58)
„Die Neue Weltordnung wacht über die allgemeine Zufriedenheit. Von der Utopie eines Universums, in dem nur noch Freundlichkeit, Zärtlichkeit und gute Absichten herrschen, sollte man eigentlich eine Gänsehaut bekommen: der erschreckendste, weil realisierbarste aller Träume. Aber nein, niemand scheint ihn zu fürchten. Mit Gesetzen in den einzelnen Ländern, mit Polizeieinsätzen auf der ganzen Welt greift das Programm mit rasanter Geschwindigkeit um sich.“ (S. 66)
Er zitiert Sade („Die Philosophie im Boudoir“): „Die Wohltätigkeit ist viel eher ein Laster des Stolzes als eine wahre Tugend der Seele ... Durch Zurschaustellung verschafft man den anderen Erleichterung, nie durch bloße Absicht, Gutes zu tun.” (S. 68)
„Die wirklich grausame, wirklich reale Geschichte über die Varianten der Wohltätigkeit mit ihren Fluten, Krisen, Komödien sanfter oder rasender Torheit wird so schnell nicht gedruckt werden, man brächte ja die ganze Welt gegen sich auf.“ (S. 80)
„Das Leben ist kurz, Geschäft ist Geschäft: Damit das Geld aus den Tresoren sprudelt, muss mindestens, und zur Primetime, ein Leichentuch gelupft, den Fernsehzuschauern ab und zu ein frisch verhungertes somalisches Baby gezeigt werden.“ (S. 82)
„Über Moral zu reden, verpflichtet zu nichts! Das verschafft einem Ansehen, verbirgt einen. Alle Mistkerle sind Prediger! Je ausgekochter, desto gesprächiger! Ich werde nie müde, diese Passage aus Mea Culpa [Louis-Ferdinand Céline: „Mea Culpa“, 1937] zu zitieren.“ (S.102)
Muray sah den Moralismus von heute schon in den 1990er Jahren vorher. Sein Zorn richtet sich vor allem gegen einen Moralismus, der jegliche Abweichung von den selbst gesetzten Standards des Guten ahndet.
Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe erschien im September 2018. Drei Nachauflagen folgten 2019 und 2020. Volker Seitz publiziert regelmäßig zum Thema Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika und hält Vorträge.