Stellen Sie sich – natürlich derzeit rein theoretisch – vor, Sie würden eine Kreuzfahrt machen. Sie haben gebucht und brav den Reisepreis bezahlt und als Sie morgens zum Frühstück wollen, erreicht Sie über Lautsprecher eine Durchsage: „Liebe Passagiere. Wir haben einen Notfall. Bitte bleiben Sie in Ihrer Kabine.“ Ende der Durchsage.
Sicher würden Sie zuerst einmal in der Kabine bleiben, Anweisung ist schließlich Anweisung und der Kapitän wird für seine Durchsage schon seinen Grund haben. Nach etwa einem Tag in Ihrer Kabine bringt Ihnen ein Steward das Abendessen vorbei. Sicher würden Sie ihn fragen, um welchen Notfall es sich handelt, ob Sie in Gefahr sind und wann Sie die Kabine verlassen können. Als Antwort bekämen Sie in etwa Folgendes: „Der Kapitän hat seine Gründe. Es handelt sich um einen schlimmen Notfall, sonst hätten wir die Maßnahmen nicht ergriffen. Sobald der Notfall aber vorbei ist, dürfen Sie auch die Kabine wieder verlassen.“ Was wüssten Sie nun?
Sie würden spekulieren, Möglichkeiten gibt es viele. Angefangen bei einer schweren, ansteckenden Krankheit eines Passagiers, über eine filmreife Schiffsentführung oder eine wirklich üble Schlechtwetterfront, bis hin zu einem schweren Schaden am Schiff oder der Sichtung eines Eisbergs. Mitten im Mittelmeer. Sicher wüssten Sie nur eines: Sie dürfen Ihre Kabine nicht verlassen.
Sie müssen sich auf den Kapitän verlassen
Am nächsten Morgen bringt Ihnen der Steward das Frühstück, das im Vergleich zu gestern und vorgestern ein deutlich verringertes Format aufweist. „Der Kapitän hat die Speisen rationiert“, würde Ihnen der Steward auf Nachfrage antworten. Auf erneute Nachfrage nach dem Grund für die Maßnahme antwortet der Steward stoisch: „Wir haben einen Notfall.“
Welche Maßnahme würde es rechtfertigen, dass wie auf der „Santa Maria“ die Rationen gekürzt werden? In diesem Moment spüren Sie auch, dass das Schiff gestoppt hat und hören das Rasseln der Ankerketten. Es bewegt sich nichts mehr. Positiv: Sie stellen fest, dass sich die Lage des Schiffes selbst nicht verändert. Sie scheinen nicht zu sinken – wenigstens noch nicht. Das Schiff liegt stabil. Als Ihnen ein Steward das leckere Mittagessen, bestehend aus einem wässrigen Linseneintopf, bringt, fragen Sie erneut nach. Sie wollen wissen, wie die Sachlage ist, wann der Notfall endet und ob Sie helfen können. Sie erhalten, in dieser Reihenfolge, folgende Auskunft: „Wir haben eine unangenehme Situation an Bord, wir geben Bescheid, wenn diese beendet ist, bitte bleiben Sie so lange in Ihrem eigenen Interesse in der Kabine, damit helfen Sie uns am meisten.“
Jeden von uns wird eine derartige Lage früher oder später zuerst in Unbehagen, später in Panik versetzen. Das Schiff liegt still, Ihre Informationen sind rudimentär, Sie müssen sich darauf verlassen, dass der Kapitän des Schiffs weiß, was er tut. Gesichert ist, dass der Notfall so groß ist, dass Sie in Ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt sind und dass es weder vorwärts noch rückwärts geht. Abends erklärt Ihnen der Steward, dass der Kapitän beschlossen hat, Ihnen und den anderen Passagieren etwas Bewegungsfreiheit zu geben. Sie dürfen eine Stunde auf das Unterdeck, wenn Sie eine Schwimmweste tragen und sich nicht mit anderen Passagieren unterhalten. Von dem Angebot machen Sie natürlich Gebrauch, und die Gerüchteküche brodelt. Sie reden selbstverständlich doch mit den anderen Passagieren. Die überwiegende Mehrheit geht davon aus, dass sie sich auf einem Seuchenschiff befindet und der komplette Kahn unter Quarantäne gestellt wurde. Wo Sie sind und wie lange Sie dort sein werden, wissen Sie nicht. Sie können nur vermuten. Nebenbei erfahren Sie auch noch, dass einige Passagiere den Pool auf dem Achterdeck nutzen dürfen, Sie hingegen nicht. Weil Ihr Weg zum Pool weiter ist.
„Unser Schiffskompass und unser Funkgerät sind ausgefallen“
Spätestens nach einer Woche sind nicht nur Sie, sondern auch die anderen Passagiere weichgekocht. Auf dem Unterdeck finden sich Grüppchen, die ganz offen eine Meuterei fordern. Die „endlich wissen wollen, was hier los ist“ und wann das Schiff wieder Fahrt aufnimmt – oder die Passagiere evakuiert werden. Der Kapitän tritt in Begleitung bewaffneter Crewmitglieder auf das Oberdeck und verkündet seinen zornigen Passagieren, dass sie doch bitte Vertrauen haben mögen, er alles Menschenmögliche tut, um die Notlage zu beenden und er die Ausgangserleichterung auch jeden Moment wieder aufheben – oder erweitern könne. Es hinge ganz vom Verhalten der Passagiere ab.
Und als Ihnen am nächsten Morgen der Steward Ihre traurige Scheibe Toastbrot und die Tasse dünnen Kaffee bringt, drücken Sie ihm 500 Euro aus Ihrer Reisekasse in die Hand, damit er Ihnen endlich sagt, was hier eigentlich los ist und um welchen Notfall es sich handelt.
Der Steward steckt das Geld ein, schließt die Türe hinter sich und raunt Ihnen im Vertrauen zu: „Unser Schiffskompass und unser Funkgerät sind ausgefallen und der Kapitän hat weder eine Ahnung, wohin die Reise geht noch wann wir wohin wieder Fahrt aufnehmen. Bis wir dies wissen, bleiben wir da, wo wir sind und sparen Ressourcen. Und hoffen, irgendwie gerettet zu werden.“
Willkommen auf der „Deutschland“.