Wolfgang Röhl / 03.05.2016 / 06:29 / Foto: Chengoayuenviva / 9 / Seite ausdrucken

Über Wikipedia, Flora, Fauna und das Biotop für Kampfschriftgut

Immer wenn Spendenaufrufe des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales auf seiner verdienstvollen Website aufpoppen, fordert meine Frau mich auf: „Überweise mal was. Du nutzt Wikipedia doch dauernd.“ In der Tat, ich habe für Wikis Dienste noch nie einen Cent gelöhnt. Das wird sich wohl auch nicht so schnell ändern. Interessiert Sie der Grund? Ich muss dazu etwas ausholen.

Also, bis zu meiner Pensionierung stand ich Jahrzehnte auf der Payroll des „Stern“. Das war beileibe nicht so schlimm, wie es heutzutage klingen mag. Im Gegenteil. Ich habe da einiges gelernt. Das Magazin unterhielt – und unterhält noch immer – eine kopfstarke Dokumentationsabteilung, die nach dem Skandal im Mai 1983 („Hitler-Tagebücher“) aufgebaut wurde.

In dieser Abteilung wirken qualifizierte Menschen; viele haben einen Hochschulabschluss. Sämtliche Artikel müssen, bevor sie zur Druckerei gesendet wird, die „Dok“ überstehen. Die Dok prüft alles. Schreibweisen, Entfernungen, Wetterbedingungen. Wenn man zum Beispiel schreibt, während einer Reportage auf der Isla Robinsón Crusoe habe es heftig geregnet, so wird das gecheckt. Die Kollegen rufen notfalls bei der chilenischen Wetterwarte an.

Die Dok hat nichts mit einer Arztserie zu tun

Was eine Dok am meisten beschäftigt, sind belastbare Quellen für Zitate, Zahlen und Zusammenhänge, die in den Artikeln untergebracht sind. Die Prüfung dient der Abwehr von Leserprotesten, Gegendarstellungen oder Schlimmerem. Natürlich kann es vor Gericht trotzdem auch mal böse ausgehen. Aber eine gute Dok erstickt viele Blamagen bereits im Keim.

Im letzten Jahrzehnt meiner Tätigkeit für den Stern geschah der Aufstieg von Wikipedia. Immer öfter wurde das Online-Lexikon als Quelle einer Wahrheit zitiert, welche die Weisheit der Masse („Schwarmintelligenz“) gepachtet zu haben schien. Meine Kollegen in der Stern-Dok hatten immer ganz lange Zähne, wenn ich ihnen per Wikipedia irgendwas belegen wollte. Anfangs hielt ich das für die typische Abwehrreaktion einer Zunft, denen das immer populärer werdende Internetlexikon scheinbar den Teppich der Herrschaftswisserei unter den Füßen wegzuziehen drohte.

Bald aber wurde auch mir klar, dass Wikipedia mit Vorsicht zu genießen ist. Okay, wenn man etwas über Vögel im Garten wissen will oder über die Geschichte der Bremer Autoschmiede Borgward (mit d oder mit t am Ende?) oder den Wortlaut eines Zitats nachlesen möchte, das Tucholsky zugeschrieben wird, vielleicht aber von Kästner stammt – erst mal Wiki fragen. Wann wurde Hermann Hesse geboren? Napoleon Bonaparte, wie lautet sein wirklicher Name? Was ist ein Spannfutter? Die chromschöne Yamaha SR 500, die ich gelegentlich reite - von wann bis wann wurde die gebaut? Wikipedia weiß unheimlich viel. Es enthält auch eine Fehlermarge; das ist klar.

Geschichtsklitterung: Der Vietnamkrieg bei Wiki

Vor allem aber darf man Wikipedia niemals trauen, wenn es um politisch Strittiges geht. Da ist die Plattform selten neutral oder fair. Das Rückgrat der Wikipedia-Verfasser bilden (jedenfalls in Deutschland) junge Männer aus der Mittelschicht. Darunter viele linksgrün sozialisierte Wunschweltenbewohner. Wer zum Beispiel „Vietnamkrieg“ anklickt, erhält ein Dossier, das die Machthaber in Hanoi freudig unterschreiben würden.

Es liest sich wie ein Aufguss der Geschichtsklitterung, die den Besuchern der Revolutionsmuseen von Hanoi und Saigon verabreicht wird. Wo so getan wird, als seien die Amis die ursprünglichen Aggressoren im Vietnamkonflikt gewesen. Und nicht die von Russen und Chinesen hochgerüsteten nordvietnamesischen Kommunisten, die den Süden mit Terrorkommandos (siehe unter „Dorfältesten-Ermordungen“) fluteten, lange bevor die erste Bombe aus einem B 52-Schacht fiel.

Über die Massenflucht von Bauern aus dem Norden gen Süden des 1954 geteilten Landes, als die Kommunisten in ihrem Herrschaftsbereich die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchpeitschten und 50.000 Menschen umbrachten, die sich widersetzten, schreibt Wikipedia: „Etwa eine Million meist römisch-katholische Nordvietnamesen siedelten im folgenden Jahr (gemeint ist 1955) nach Südvietnam um, unterstützt durch Schiffe der US-Marine.“ Soso, sie „siedelten um.“ Vermutlich aus Jux und Tollerei. Wie es bekanntlich schon die Indianer taten, als die Weißen nach Amerika kamen.

Bei Che liegen die Scheuklappen nicht ganz so eng an

Bei anderen Wiki-Stichworten liegen die Scheuklappen nicht gar so eng an. Dass Ernesto „Che“ Guevara ein glühender Stalin-Verehrer war, der nur zu gern einen Atomkrieg mit Amerika angezettelt hätte, dass diese unauslöschliche Linken-Ikone vermeintliche Deserteure eigenhändig erschoss und nach dem Sieg der Revolution in Kuba massenhaft Erschießungen anordnete, dass Guevara später seine eigenen Genossen, sobald sie nicht spurten, in Zwangsarbeitslager deportieren ließ, all das verschweigt Wikipedia nicht.

Und doch liefert der sehr ausführliche Artikel kein Bild davon, was dieser Che summa summarum wirklich war: nämlich ein (fast) kompletter Versager. Abgesehen von einigen Episoden während der kubanischen Revolution misslang ihm alles, was er anging. Er versagte als Wirtschaftsminister Kubas genau so krachend wie als späterer Möchtegern-Revoluzzer in Afrika und Lateinamerika. Er verstand die Menschen, die er „befreien“ wollte, weder mental noch beherrschte er ihre Sprachen. Besaß keinen Schimmer von Geostrategie, brachte organisatorisch nichts auf die Reihe. Ein jämmerlicher Rohrkrepierer des Revolutionsexportgeschäfts. Bei Wikipedia dagegen erhält der Leser den Eindruck, es habe sich beim Che um einen tragisch gescheiterten Robin Hood gehandelt, der Großes hätte erreichen können.  

Ganz anders der Wikipedia-Artikel über Thilo Satan Sarrazin. Das Stück ist noch länger als jenes über Guevara und bemüht sich nachzuweisen: Der Ex-Bundesbanker, Ex-Politiker und amtierende Bestsellerautor hat in seinem verpfuschten Berufsleben falsch gemacht, was nur irgend falsch zu machen war. Praktisch jede seiner Entscheidungen war verheerend oder besaß ein Geschmäckle. Wollten Arbeitgeber Sarrazin loswerden, so erdreistete sich dieser Kerl, auf Auszahlung seines Vertrages zu bestehen. Etwas, das einem normalen deutschen Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglied nie in den Sinn käme.

Sarrazins Haushaltsüberschuss muss draußen bleiben

Einmal streift der Artikel etwas verlegen die Tatsache, dass es in Sarrazins Ära als Berliner Finanzsenator zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte der nichtsnutzigen Metropole einen Haushaltsüberschuss gab. Hier und da kommen ein paar Sympathisanten des Gottseibeiuns zu Wort, wie Henryk M. Broder oder Heinz Buschkowsky. Selbstredend wird ihm auch ein ellenlanges Lob an den Kopf geworfen, welches irgendein sächsischer NPD-Fuzzi seinen, Sarrazins, Thesen zollt.

Vier Fünftel der Zitate, die Wikipedia zum Stichwort Sarrazin bringt, sind allerdings kritisch, hellempört oder wutschnaubend. Dass der Mann ein Biologist, Rassist, Arbeitslosenhasser und Kopftuchmädchenschreck ist, erschließt sich dem Leser somit aus der Lamäng. Ein „Migrationsforscher“ namens Bade - also jemand vom harten Kern der harten Wissenschaften – wird von Wikipedia mit seinem Verdikt vorgestellt, S. sei ein „Brandstifter und Friedensbrecher“.

Der gesamte Wiki-Eintrag ist die Generalabrechnung mit einem eiskalten Monster des Neoliberalismus. Warum aber werden Wikipedia-Nutzer mit redundantem Kampfschriftgut versorgt? Es gibt doch ungezählte Medienschaffende, die das Verhauen des Thilo S. rituell besorgen, zuletzt wieder in „Spiegel“, „Zeit“ et al. Was die „lisbelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ (so vor Jahren die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“) wahrscheinlich auch noch genießt.

Warum versorgt Wiki den Leser mit redundantem Kampfschriftgut?

Mein Entschluss, lieber nichts für Wikipedia zu spenden, bekam neulich auch noch privates Unterfutter. Jemand machte mich darauf aufmerksam, dass selbst einer wie ich es nunmehr zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht hat. Das ist schon mal grundverkehrt. Ich erfülle nicht entfernt die sogenannten Relevanzkriterien für einen Eintrag, die angeblich von den Wikipedia-Administratoren streng gehandhabt werden, im Sinne einer „harten Tür“ zum Portal.

Nie habe ich ein erwähnenswertes Steuerverbrechen begangen noch je ein Kind unter Lebensgefahr aus einem brennenden Haus gerettet. Ich habe nicht für die DDR spioniert, wurde in meiner Zeit als Reporter nicht entführt, gefoltert und am Ende von der Bundesregierung gegen eine phantastische Summe freigekauft. Bekam niemals einen Journalistenpreis, saß zu keinem Zeitpunkt mit Dieter Bohlen in einer Casting-Jury. Meine Regionalkrimis werden für gewöhnlich nicht mit George Clooney in der Hauptrolle verfilmt. Holocaust-Leugnung ist auch nicht so mein Ding.

Kurz, ich bin für den allergrößten Teil der Öffentlichkeit ein Nobody. Entsprechend schmal ist der Wikipedia-Eintrag zu meiner Person. Dass ich aber selbst in den paar dürren Zeilen fünf Sachfehler, eine Ungenauigkeit, eine politische Tendenzbehauptung und einen Schreibfehler gefunden habe, wirft ein fahles Licht auf Wikipedias Schwarmintelligenzija. Liebes Online-Lexikon! So wird das nichts mit uns. Lass mich da bitte raus. Lösch den kurzen Quark über meine Person. Niemand  wird sich beschweren.

Bring du, im Großen und Ganzen geschätztes Wikipedia, statt dessen noch mehr Infos über Kultur und Technik, Flora und Fauna. Zum Beispiel über den Seeadler. Er benötigt unsere Solidarität, denn er ist von schießwütigen Windparkspekulanten bedroht. Einen Artikel über neue wissenschaftliche Erkenntnisse der Katzenforschung fände ich auch nicht schlecht.

Foto: Chengoayuenviva CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Patrick Kühnel / 03.05.2016

Exzellent geschriebener Artikel! Gelernt ist halt gelernt! Empfehlenswert in diesem Zusammenhang der Film “Die dunkle Seite der Wikipedia” von Fiedler/Speer. Fazit auch hier: Wenn es um die harten Wissenschaften geht, ist Wikipedia zuverlässig, sobald es aber politisch wird, sollte man Vorsicht walten lassen. Anscheinend gibt es einige Überzeugungstäter, die mit nichts Anderem beschäftigt sind, als politische Statements zu platzieren oder mißliebige Aussagen umzuschreiben - und dieselben Leute entscheiden zudem oft darüber, wessen Beiträge zugelassen werden und wessen Beiträge den “Qualitätsstandards” nicht genügen.

Tomas Reiffer / 03.05.2016

Wer bei Wikipedia “Verlagsimperium” sucht, der wird acht Artikel finden, in denen der - offenbar lexikalisch angemessene - Begriff verwendet wird: 1. Vanilla Sky, einem Film mit einem Protagonisten, der über ein “Verlagsimperium” verfügt. 2. Robert Maxwell, der Pergamon Press zu einem wissenschaftlichen “Verlagsimperium” ausbaute. 3. Roberto Calasso, dessen Verlag von Marina Berlusconis “Verlagsimperium” Mondadori bedroht wurde. 4. Ephraim George Squier, der beim “Verlagsimperium” von Frank Leslie veröffentlichte. 5. Stiftung Demokratie Saarland, welche aus den Überresten des NSDAP-“Verlagsimperium” entstand. 6. Philipp Engelhard Nathusius, der seinen Sohn als Herausgeber einer Zeitung eingesetzt hat, welche danach vom Verleger Reimar Hobbing in ein “Verlagsimperium” ausgebaut wurde. 7. Daniel Filipacchi, dessen Magazin Salut les copains der Startschuss für ein “Verlagsimperium” wurde. 8. Frieder Burda, der in verschiedenen Positionen im “Verlagsimperium” seines Bruders unterkam. Die SPD übrigens verfügt trotz dutzender Medienbeteiligungen im Bereich 10-100% über kein “Verlagsimperium”.

Dieter Wenzel / 03.05.2016

Das erinnert mich an den Artikel im Bento, der über einen vielleicht sogenannten Aktivisten der Schwarzfahrerszene in Berlin berichtete: Den Service toll finden und nutzen, aber genügend schwache Argumente haben, um ja nicht das kleinste Bisschen dafür zu zahlen… Der Typ war allerdings unter dreißig!

Reiner Engler / 03.05.2016

Hervorragend, Herr Röhl. Die gefühlt 2 km lange Lobhuddelei in der deutschen Wikipedia über Hugo Chavez ist übrigens die Inkarnation dessen was sie hier gerade beschrieben haben.

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