Es ist ein hübscher Samstagmorgen im Frühling. Der Schatz und ich hatten noch im Büro in der Stadt zu tun und da haben er und ich Hunger bekommen. Also „naus uff die Gass“, ein Döner (pro Person natürlich) should do the job. Und weil heute zwecks Seuchengefahr so wenig los ist, machen wir einen kleinen Umweg und schauen uns die Schaufenster der geschlossenen Läden an. Mitten in unseren beschaulichen Bummel durch die Fußgängerzone, ganz vorschriftsmäßig mit Maske, Gummianzug, Taucherflossen und Atemschutzgerät, stoppt der Schatz, als sei er gegen eine Glaswand gelaufen und quiekt erfreut: „Das da! Das wäre mein Kleid!“ Dabei zeigt meine Herzdame hocherfreut auf ein knallrotes langes Kleid im Schaufenster des „Emporium Galorium“ und klebt wie ein kleines Kind vor dem Bonbon-Laden an jenem Schaufenster fest. „Das ist ein wirklich tolles Kleid, Liebling“, ermutige ich den Schatz, in dem sicheren Wissen, dass der Laden ja zu hat. Wie sich unschwer an dem heruntergelassenen Gitter vor der zurückgesetzten Eingangstüre erkennen lässt. „Das würde dir definitiv gut stehen“, setze ich noch hintendran, um dem Schatz eine Freude zu machen, denn wenn der Schatz sich freut, freue ich mich auch. Umso mehr, weil das Gitter des Ladens ja unten ist. Closed wie die Bank von England. „Click und Collect“ steht auf einem Zettel neben dem Eingang. „Abholung Dienstag und Donnerstag, 12 Uhr bis 14 Uhr“. Und eine Handy-Nummer. Ich fühle mich sehr sicher.
In diesem Moment öffnet sich die Eingangstüre, eine Frau mit einem Schrubber und einem Eimer tritt heraus und wischt den Eingangsbereich zwischen Türe und Gitter. Warum auch immer sie das für notwendig hält. „Das ist exakt so ein Kleid, wie ich es mir schon immer gewünscht habe“, insistiert der Schatz, „aber ich müsste es mal anprobieren.“ Tja. Schade. Lockdown. Alles hat zu. So ein Pech. „Du kannst es vielleicht Dienstag und Donnerstag anprobieren?“, schlage ich vor. „Scherzkeks!“, schlägt der Schatz zurück, „da muss ich arbeiten, das weißt du!“ Ja, weiß ich. Das macht es ja so charmant. Der Schatz wirft einen Seitenblick auf die Frau, die hinter den Gittern schrubbt. Und wiederholt sein Flehen etwas lauter: „Dienstag und Donnerstag muss ich ja arbeiten, aber das Kleid ist wirklich schön. Ich müsste es aber anprobieren!“ Die Schrubberfrau tut so, als sei sie taub.
Okay. Jetzt bin ich gefragt. Wenngleich die Frau meines Herzens auch bisher nicht nackend, wie Gott und die Kosmetikindustrie sie schufen, durch die Weltgeschichte wandelte, so sind dieser Ausbruch und diese Begeisterung für eine textile Umhüllung ihres Körpers in einem Schaufenster doch neu für mich. Frei nach dem Motto „happy wife, happy life“ muss also eine Lösung her. Zumal wir sowieso irre viel Geld durch den Lockdown und die damit verbundene Defrequentierung gastronomischer Etablissements gespart haben. Sie hat sich und mir das verdammte Kleid verdient und könnte aufgrund der staatlich verordneten Hungerkur sogar reinpassen. Man müsste es halt mal anprobieren. Also sie. Nicht ich.
„Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen, Frau Schmitt!“
Ich gehe zwei Schritt auf die Schrubberfrau zu. „Ist das Ihr Laden?“, will ich wissen. Sie nickt. „Ja, aber der ist zu. Wegen der tödlichen Seuche!“, kleidet sie die sichtbare Tatsache in Worte. „Außer Dienstag und Donnerstag, von 12 Uhr bis 14 Uhr“, lese ich der Schrubberfrau ihr eigenes Schild vor. „Da kann ich nicht“, maunzt der Schatz zum dritten Mal von hinten dazwischen, „ich muss arbeiten“. „Wir müssten das Kleid da halt anprobieren“, erkläre ich der Ladeninhaberin. „Wir haben geschlossen“, erklärt sie zurück. Und erläutert die Gesetzeslage: „Ich würde ja gerne öffnen, aber ich darf nicht.“.
Hm. Ich kenne die Gesetzeslage ja auch. Wenn wir in den Laden gehen, ist die gute Frau reif und kann gar nicht so viele Kleider nicht verkaufen, wie sie Strafe zahlen muss. Hier muss eine Lösung her. Schnell. Sonst ist das Kleid vielleicht auch weggeclickt und wegcollected, bevor es der Schatz anprobieren konnte, und das würde mir der Schatz nie verzeihen, dass wir jenes Kleid nicht kauften, das sie sich doch immer schon gewünscht hat, seit sie das erste Mal an Fasching ein Prinzessinnendiadem trug. „Privat dürften wir Sie besuchen, weil wir zwei Personen sind und Sie nur eine!“, stelle ich fest. „Ja, wenn wir uns kennen würden…“, sagt die Schrubberfrau vorsichtig und halblaut. Ich gehe einen Schritt nach vorne. „Wie ist Ihr Name?“, frage ich. „Frau Schmitt, mit Doppel-T, Ingrid Schmitt“, antwortet sie. „Mein Name ist Thilo Schneider und dies ist mein Schatz, der heißt Frau Schneider, sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen“, stelle ich mich vor. Und setze laut ein „Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen, Frau Schmitt! Wie geht’s Ihnen denn so?“ hintendran. Frau Schmitt reagiert schnell und laut: „Ja, das stimmt, ja bei mir alles gut und selbst?“ „Ach“, gebe ich zurück, „da könnt‘ ich stundenlang erzählen…“ „Na“, sagt Frau Schmitt grinsend, „dann lasse ich Sie mal hinten rein!“ und bedeutet mir mit einer Geste, um die Ecke herum einer Art Hintereingang zuzustreben.
Dort, vor der Hintertüre, öffnet Frau Schmitt und schaut sich verschwörerisch nach links und rechts um. Niemand da, niemand zu sehen. Keine Passanten, keine Schergen des Herzherzogs. Wir betreten den abgedunkelten Verkaufsraum.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Frau Schmitt angelt das Kleid aus dem Schaufenster, der Schatz verschwindet in einer Kabine, kommt nach einer Minute wieder heraus und sieht aus wie mit rotem Textil übergossen. Das Kleid passt, als sei es eine Maßanfertigung. Natürlich wäre der Schatz nicht der Schatz, wenn er gleich kaufte, und natürlich wäre Frau Schmitt kein altes Einzelhandelsschlachtross, wenn sie nicht wüsste, wie man eine Kundin bedient. Flugs hängen noch drei andere Kleider auf Bügeln in der Umkleidekabine, es raschelt und wuschelt, gelegentlich kommt der Schatz heraus, zieht mal hier und zerrt mal dort, macht zwei, drei Flickflacks, Handstände und Pirouetten vor dem Spiegel, derweil Frau Schmitt und ich über unsere Kinder und den Lockdown und die damit verbundenen Probleme plaudern, und schließlich erwerben wir auf ganz altmodische Art, in Ruhe und ohne Hektik, ein rotes und auch gleich noch ein blaues Kleid ähnlicher Bauart. Mit Barzahlung und handgeschriebener Quittung. Schließlich kaufen wir privat von einer guten Bekannten. Das wird ja wohl noch erlaubt sein. Frau Schmitt packt die Kleider in eine unauffällige Tüte ohne Werbeaufdruck und wir schleichen uns wie Diebe zum Hintereingang wieder hinaus. Es ist doch gut, wenn man Leute auch privat kennt…
(Weitere neue Klamotten des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro