Können die Ukraine und ihre Unterstützer wirklich darauf setzen, dass es ihnen gelingt, die russische Wirtschaft an ihre Belastungsgrenze zu treiben?
Nur vier Tage nach Putins eindringlicher Warnung vor einer Eskalation hat Kiew die vom Kreml gezogene rote Linie überschritten. Am 25. November griff die ukrainische Armee einen Militärflughafen bei Kursk an. Warum treibt Kiew die Eskalation trotz aller Risiken voran?
Die Einschätzung, dass die Ukraine den Krieg militärisch nicht gewinnen kann, wird zunehmend auch in etablierten Medien diskutiert. „Russland hat weite Gebiete erobert und wird sie nicht aufgeben. Der Ukraine fehlen derzeit die militärischen Mittel, um diese zurückzuerobern“, erklärte der US-Politologe Ian Bremmer Ende November. Die jüngsten Raketenangriffe könnten somit auf ein neues Kalkül hindeuten: Der Konflikt soll bewusst verlängert werden, um die russische Wirtschaft an ihre Belastungsgrenze zu treiben. Doch wie realistisch ist dieses Szenario?
Obwohl der Kreml für 2024 ein Wachstum des um 3,5 bis 4 Prozent prognostiziert, deutet die wirtschaftliche Lage auf Stagnation hin: Der industrielle Boom in Russland, der seit Februar 2024 für ein schnelles Wachstum sorgte, ist im Juni 2024 abrupt zum Stillstand gekommen. Nach Angaben des Ministeriums für Industrie und Handel sanken die Produktionskennzahlen im Vergleich zum Mai um 1,5 Prozent. Besonders betroffen sind die Öl- und Gasförderung, die Raffinerieindustrie sowie der Bau von Metallkonstruktionen.
Das Ministerium nennt teure Kredite und Schwierigkeiten bei internationalen Transaktionen als Hauptgründe für den Abschwung. Zudem macht sich eine „hohe Basis“ bemerkbar, da das vergangene Jahr durch außergewöhnlich starke Zuwächse geprägt war. Das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe hat sich deutlich abgeschwächt, mit einem Rückgang von 9,1 Prozent im Mai auf 4,6 Prozent im Juni im Vergleich zum Vorjahr. Die Eskalationsstrategie Kiews scheint genau auf diese Schwächen abzuzielen, um den wirtschaftlichen Druck auf Russland weiter zu erhöhen.
4,8 Millionen Arbeitskräfte fehlen
Ein weiteres Problem ist die Demographie: Die erwerbsfähige Bevölkerung Russlands – also Menschen in der Altersgruppe 20 bis 65 – schrumpft jährlich um etwa eine Million. Dieser Trend wird durch die geringe Zuwanderung verstärkt, die seit Beginn des Ukraine-Kriegs ein historisches Tief erreicht hat. Laut der Russischen Akademie der Wissenschaften fehlen der Wirtschaft aktuell rund 4,8 Millionen Arbeitskräfte – besonders in der Industrie und im Energiesektor.
Eine aktuelle Studie der Moskauer Hochschule für Wirtschaft (HSE) mit dem Titel „Aktuelle Trends in der Beschäftigungsdynamik der Industriebranchen“ beleuchtet den anhaltenden Fachkräftemangel. Besonders betroffen sind die verarbeitende Industrie und der Energiesektor. „Die personelle Verwundbarkeit von Industriebetrieben, die vor allem das Problem des Mangels an qualifizierten Fachkräften widerspiegelt, blieb im dritten Quartal 2024 weiterhin angespannt,“ erklärt Inna Lola, stellvertretende Direktorin der HSE-Universität.
Zudem setzt die hohe Inflation die Bevölkerung stark unter Druck, mit steigenden Preisen für Grundnahrungsmittel und zunehmenden Diebstählen im Einzelhandel. Um den Rubel zu stabilisieren, erhöhte die Zentralbank den Leitzins auf 21 Prozent – ein Schritt, der Kredite verteuert und die Wirtschaft zusätzlich belastet. Dabei hatte Zentralbankchefin Elwira Nabiullina 2023 noch eine Entspannung des Inflationsdrucks prognostiziert
Der Bausektor leidet besonders unter Hypothekenzinsen von über 30 Prozent und dem Wegfall staatlicher Subventionen für Wohnungskredite, was den Immobilienmarkt nahezu zum Erliegen gebracht hat. Gleichzeitig verschärfen die globalen Ölpreise die wirtschaftlichen Herausforderungen: Ein drastischer Rückgang der Exporterlöse könnte den Rubel weiter unter Druck setzen, eine neue Inflationswelle auslösen und das Land in eine Rezession stürzen. Dabei steht die russische Zentralbank mit begrenzten Mitteln da: Aufgrund eingefrorener Währungsreserven sind ihre Möglichkeiten, diese Effekte abzufedern, stark eingeschränkt.
In dieser Lage setzt Moskau verstärkt auf eine Kriegswirtschaft, deren Umfang am 21. November 2024 deutlich wurde, als die Staatsduma den Haushalt für das kommende Jahr verabschiedete. Das Verteidigungsbudget wurde um 25 Prozent auf rund 130 Milliarden Euro erhöht, was 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht – ein Rekordwert in der Geschichte der Russischen Föderation. Dennoch bleibt diese Summe weit hinter den Spitzenzeiten der Sowjetunion zurück, als in den 1980er Jahren bis zu 25 Prozent des BIP für Rüstungsausgaben aufgewendet wurden.
Janis Kluge, stellvertretender Leiter der Abteilung für Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, ist überzeugt, dass die russische Wirtschaft an einem Wendepunkt steht. In einem kürzlich veröffentlichten Artikel stellt der Ökonom fest, dass das aktuelle Wachstumsmodell durch die anhaltende Kriegsführung an seine Grenzen gestoßen ist. Die überhitzte Wirtschaft habe die Belastungsgrenze erreicht, was trotz einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent zu einem akuten Arbeitskräftemangel führe.
Ein anschauliches Beispiel ist die Rüstungsindustrie: Trotz der Einstellung von rund 520.000 Arbeitern im Jahr 2023 bleiben weiterhin 160.000 Stellen unbesetzt. Dieser Mangel hat zu einem rapiden Anstieg der Löhne geführt. Die durchschnittlichen Gehälter stiegen 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 19 Prozent. In der Rüstungsindustrie sind die Zuwächse sogar noch höher: Russlands größter Panzerhersteller Uralwagonsawod erhöhte die Gehälter im Mai um 12 Prozent und im August nochmals um 28 Prozent.
Trotzdem läuft Kiews Kalkül ins Leere: Ein Zusammenbruch der russischen Wirtschaft bleibt unwahrscheinlich. Ein Kollaps würde voraussetzen, dass alle Sektoren gleichermaßen betroffen sind – was in Russland nicht der Fall ist. Der Kreml konzentriert gezielt Ressourcen auf die Rüstungsindustrie, die trotz Engpässen bei Arbeitskräften und Zulieferungen funktionsfähig bleibt. Dieser Fokus ermöglicht es, militärische Ziele konsequent zu verfolgen, während der private Sektor – vor allem Bauwesen, Handel und Landwirtschaft – die Hauptlast der wirtschaftlichen Schieflage trägt. Um den Arbeitskräftemangel zu mildern, wird die Anwerbung von Fachkräften aus Südostasien diskutiert.
Die Kriegswirtschaft setzt nicht auf allgemeines Wachstum
Solange es Moskau gelingt, ausreichend Arbeitskräfte, Rohstoffe und finanzielle Mittel in die Rüstungsindustrie zu lenken, wird ein schrumpfendes BIP Russlands Fähigkeit, den Krieg langfristig fortzuführen, kaum beeinträchtigen. Eine Kriegswirtschaft misst ihren Erfolg nicht an allgemeinen Wachstumszahlen, sondern daran, wie effektiv sie militärische Ziele unterstützt. Entscheidend sind die Verfügbarkeit von Ressourcen, die Widerstandsfähigkeit kritischer Infrastruktur und die Produktionskapazitäten. Kiews Eskalationsstrategie, den wirtschaftlichen Druck auf Russland zu erhöhen, birgt jedoch das Risiko, die Frontlinien über die Ukraine hinaus zu verschieben – mit unvorhersehbaren Konsequenzen.
Doch es gibt auch positive Aspekte. Trotz der Sanktionen zeigt Russland eine starkes Potenzial in zentralen Industriebereichen, die für seine Kriegswirtschaft von entscheidender Bedeutung sind. Mit einer Stahlproduktion von etwa 75,8 Millionen Tonnen im Jahr 2023 liegt es knapp hinter den USA, die rund 80,7 Millionen Tonnen produzierten. Dadurch verfügt Moskau über einen unverzichtbaren Rohstoff für die Herstellung von Panzern, Artillerie, Brücken und militärischen Infrastrukturen.
In der Aluminiumproduktion hingegen zeigt Russland eine klare Dominanz: 3,9 Millionen Tonnen Aluminium wurden 2023 produziert, verglichen mit nur 1,1 Millionen Tonnen in den USA. Das Metall spielt eine Schlüsselrolle in der Luftfahrt, modernen Waffensystemen und Fahrzeugen.
Darüber hinaus verfügt Russland über starke Kapazitäten in weiteren kriegsrelevanten Industrien. Die Titanproduktion gehört zu den weltweit führenden und versorgt die Luft- und Raumfahrtindustrie mit essenziellen Werkstoffen für Kampfflugzeuge, Raketen und moderne Panzerungen. Im Bereich Nickel und Kupfer zählt Russland ebenfalls zu den größten Produzenten weltweit. Diese Metalle sind für Elektronik, Kommunikationssysteme und Batterietechnologien unverzichtbar und bilden das Rückgrat moderner Kriegsführungstechnologien.
„Auch wenn die wirtschaftlichen Probleme den Optimismus in der russischen Bevölkerung bremsen und politische Zielkonflikte in der Regierung verursachen könnten, ist die Kriegsführung davon nicht unmittelbar betroffen. Hier sind vor allem der Erfolg der Rekrutierung und die physischen Möglichkeiten der Rüstungsindustrie entscheidend. Letztere hängen unter anderem von den Restbeständen sowjetischer Panzerfahrzeuge ab“, bemerkt Janis Kluge.
Die Ausweitung der Vergeltungsschläge
Das kürzlich vorgestellte Raketensystem „Oreschnik“ untermauert Russlands Rüstungspotenzial. Die neue Mittelstreckenrakete, die sowohl konventionelle als auch nukleare Sprengköpfe tragen kann, wird mittlerweile in Serie produziert. Dank ihrer hohen Geschwindigkeit und der Fähigkeit, mehrere Sprengköpfe unabhängig voneinander zu steuern, stellt sie eine erhebliche Herausforderung für bestehende Luftabwehrsysteme dar.
Der Kreml hat angekündigt, die Hyperschallwaffe für eine Ausweitung seiner Luftangriffe einzusetzen – eine direkte Reaktion auf den jüngsten Angriff in der Oblast Kursk. Präsident Wladimir Putin erklärte dies während seines Staatsbesuchs in Kasachstan am 28. November: „Bei bedeutenden Zielen werden wir die Mittel einsetzen, die uns zur Verfügung stehen, einschließlich – wie ich bereits sagte – der möglichen Verwendung der Oreschnik-Rakete gegen militärische Industrieanlagen oder Entscheidungszentren, auch in Kiew.“
Putin kündigte an, dass das russische Militär weiterhin mit Vergeltungsschlägen auf Angriffe gegen Ziele in Russland reagieren werde. Seit dem 25. November seien intensive Angriffe ausgeführt worden, darunter an einem Tag der Einsatz von 90 Raketen und 100 Angriffsdrohnen gegen 17 Ziele auf ukrainischem Territorium. Sollte Kiew tatsächlich darauf spekulieren, Russlands Wirtschaft durch weitere ATACMS-Angriffe unter Druck zu setzen, geht es ein großes Wagnis ein. Die Ausweitung der Vergeltungsschläge richtet verheerenden Schaden an.
Das Risiko einer Eskalation bleibt hoch, da Wladimir Putin westliche Staaten weiterhin als direkte Konfliktparteien betrachtet. „Wie sollte es auch anders sein?“, entgegnete er auf einer Pressekonferenz in Astana. „Wenn ihre Spezialisten Flugaufträge erstellen, sich gegenseitig Geheimdienstinformationen übermitteln und selbst die Angriffe auf Ziele auf russischem Territorium koordinieren, dann ist das offensichtlich der Fall.“
"Für jedes Ziel die geeignete Waffe"
Für die Auswahl der Angriffsziele und eingesetzten Waffen, betonte Putin, gelte ein strategischer Ansatz: „Für jedes Ziel müssen das passende Mittel und die geeignete Waffe eingesetzt werden.“ Die Wahl der Waffensysteme orientiere sich an der Bedeutung der Ziele und ziele darauf ab, maximale Effektivität zu erreichen, ohne unnötige Ressourcen zu verschwenden – eine besonnene Haltung, die kaum auf eine akute Notlage schließen lässt.
Auch der frühere russische Vizefinanzminister Sergej Alexaschenko zeigt sich unbeeindruckt. In einem Interview mit der FAZ erklärte er, dass die russische Wirtschaft weiterhin Wachstumspotenzial habe. Zwar habe sich das Wachstum in zivilen Sektoren seit Mai verlangsamt, doch eindeutige Anzeichen für einen Abschwung sieht er nicht. Viele Unternehmen hätten ihre Produktivität durch Umschichtungen von Arbeitskräften und Lohnanpassungen gesteigert. Selbst den Absturz des Rubels bewertet Alexaschenko nicht als ernsthafte Herausforderung für Putin.
Insgesamt zeigt die russische Wirtschaft trotz erheblicher Belastungen in zentralen Industrien eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit. Die gezielte Umverteilung von Ressourcen in die Rüstungsindustrie ermöglicht es dem Kreml, die militärische Schlagkraft aufrechtzuerhalten. Die Hoffnung Kiews, Russlands Position durch wirtschaftliche Erschöpfung entscheidend zu schwächen, erweist sich als unrealistisch. Fakt ist: Russland bleibt in der Lage, den Krieg noch lange fortzuführen.
Die fortgesetzten Angriffe der Ukraine auf russisches Territorium mit ATACMS-Raketen bergen ein somit auch weiterhin ein erhebliches Eskalationsrisiko. Angesichts des begrenzten militärischen Nutzens solcher Operationen interpretiert General a.D. Harald Kujat diese Aktionen als Ausdruck von Frustration. Er betont, dass die Strategie der USA, die seit Mai andauernden russischen Angriffe zu bremsen, gescheitert sei. Kujat weist darauf hin, dass die Ukraine heute in einer deutlich schlechteren Verhandlungsposition ist als im März 2022, als in Istanbul Friedensgespräche stattfanden.
Dies scheint auch Präsident Selenskyj erkannt zu haben. In der vergangenen Woche brachte er nicht nur erstmals mögliche Gebietsabtretungen an Russland ins Gespräch, sondern stellte auch eine Frage, die auf einen möglichen Wandel in Kiews Bereitschaft zur unbedingten Fortsetzung des Krieges hindeutet und zugleich die wachsende Kriegsmüdigkeit in der Ukraine verdeutlicht: „Vielleicht muss die Ukraine jemanden in Moskau überleben, um ihre Ziele zu erreichen und das gesamte Staatsgebiet wiederherzustellen.“
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.