Es ist unheimlich, wie sehr die SPD dem antiken Athen ähnelt. Zu der Zeit, als die Stadt dem berühmten Sokrates zu Leibe rückte, hatte sie ihre besten Tage hinter sich. Sie erschauderte angesichts verlorengegangener Schlachten – Mantinea, Sizilien, Aigospotami – und sehnte sich nostalgisch nach dem Glanz ihrer nun versunkenen Welt.
Genau wie die Sozialdemokraten von Schmidt und Brandt träumen, so schauten die Athener zurück auf ihre glorreichen Vorväter Themistokles und Perikles, die sich noch mit den spröden, aber disziplinierten Spartanern – also der CDU/CSU – messen konnten. Früher herrschte man über andere, kommandierte gar ein Imperium, aber jetzt war man Spielball neuer Mächte. Dazu gehörte nicht nur das multikulturell-despotische Persien – die Grünen! – sondern auch allerlei Hitzköpfe aus Böotien, die man in Anlehnung an Die Linke auch als Die Thebaner bezeichnen könnte.
Athen wollte sich seinen Niedergang freilich nicht selbst ankreiden. Die spartanischen Rivalen waren eben clever gewesen, hatten in Athener Gefilden gewildert, ihre Flotte „modernisiert“ und taktisch die griechische Mitte besetzt – die Ägäis. Sie hatten dabei den strategischen Vorteil, mit der Handelsmacht Korinth, einer Art antiken FDP, verbündet zu sein. Als sie dann auch noch begannen, eine Allianz mit dem persischem Großkönig – Habeck I.? – einzugehen, konnte Athen einpacken. Die Demokratie wankte und konnte einen Sündenbock gut gebrauchen.
Sokrates wurde nicht Opfer des berühmten Athener Scherbengerichts, also des Ostrakismos. Den nämlich hatte die Stadt noch zu heitereren Zeiten abgeschafft, weil ihr klar geworden war, dass die milde Höchststrafe – zehn Jahre Exil – den Verurteilten oft aufwertete, anstatt ihn zu demütigen. Das geschah zuletzt im Fall des Hyperbolus, der als antiker Gerhard Schröder einen klaren Machtfaktor darstellte, sich seiner Verbannung ins Ausland aber geradezu brüstete und so den Sinn des Verfahrens infrage stellte. Plutarch zitiert einen zeitgenössischen Dichter, der die Farce so bewertete: „Der Mann hat das Schicksal verdient, aber das Schicksal hat den Mann nicht verdient.“
Die eine von Platon, die andere von Achgut.com
Viel eher ähnelt das Gerichtsverfahren, dem sich Sokrates für seine philosophische Aktivität stellen musste, der SPD-Schiedskommission, der sich Thilo Sarrazin aufgrund eines Parteiausschlussverfahrens unlängst ausgesetzt sah. Ist es da noch verwunderlich, dass die beiden Verteidigungsreden, die eine von Platon und die andere von Achgut.com überliefert, sich ebenfalls ähneln?
Sokrates beschreibt in seinem Plädoyer die Verbrechen, denen er bezichtigt wird, als „das Verderben der Jugend und den Unglauben gegenüber den Göttern der Stadt, sowie den Glauben an neuartige daimonia.“ Mit letzterem war die göttliche Inspiration gemeint, auf die Sokrates sich zu berufen pflegte und die nicht ins theologisch-politische Konzept Athens passen wollte.
Es gab damals keinen Laizismus, keine Trennung von religiöser und staatsbürgerlicher Loyalität. Brach man mit der einen, dann auch mit der anderen. Und da Thilo Sarrazins inspirierender daimon die oft politisch inkorrekte Faktentreue zu sein scheint, die sich um Parteigottheiten wenig kümmert, sind die Vorwürfe ihm gegenüber nicht nur als opportunistische Machtmanöver zu verstehen, sondern auch als Immunreaktion parteipolitischer Frommheit, als spiritueller Würgreiz und ritueller Reinigungsreflex.
Diese Kompetenzüberschreitung beklagt Sarrazin in seiner Rede auf eine Weise, die sicher auch Sokrates im Hinblick auf die Athener Einmischung in sein Philosophentum unterschrieben hätte: „Politische Parteien sind Organisationen zur Formulierung politischer Ziele und zur Gewinnung und Ausübung politischer Macht. Sie sind keine Autoritäten für die Gewinnung von Wahrheit und Erkenntnis und haben kein besonderes Mandat, darüber zu befinden.“
Sokrates ging sogar noch etwas weiter als Sarrazin, indem er zur vielleicht ersten Politikerschelte der Philosophiegeschichte ausholte, aus der sein berühmtester Gedankengang erwuchs. Dem Plädoyer ist zu entnehmen, dass er einst „zu einem politikos“ spazierte, um dessen Kenntnisse auf die Probe zu stellen:
Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mann als weise erschien, sowohl anderen als auch insbesondere sich selbst gegenüber, aber das war er gar nicht. Und dann habe ich versucht, ihm aufzuzeigen, dass er nur davon ausging, weise zu sein, aber ohne es zu sein. Dadurch zog ich Hass auf mich, sowohl den seinen als auch den von vielen heute Anwesenden. Als ich jedoch wieder ging, dachte ich mir: „Ich bin weiser als dieser Mensch. Denn vermutlich weiß weder er noch ich irgendetwas Wahres und Gutes, aber er geht davon aus, etwas zu wissen, während er nichts weiß. Ich hingegen, während ich ja auch ich nichts weiß, gehe nicht davon aus, etwas zu wissen.“
Sokrates hatte Ähnliches wie Sarrazin zu berichten
Kein Wunder also, dass auch Sarrazin festhält: „Ich hatte niemals Ämter in der SPD, ich war nie Abgeordneter und habe beides auch nie angestrebt.“ Zwar habe er „im Umfeld der SPD“ in staatlicher Funktion gedient, sei aber „stets unabhängig“ gewesen: „Durch meine Tätigkeit und meine Sanierungserfolge als Finanzsenator in Berlin stieg ab 2002 meine bundesweite Bekanntheit, die ich aber immer dem Sanierungsziel für die Landesfinanzen unterordnete.“
Sokrates hatte Ähnliches zu berichten: „Ich, Männer Athens, hielt nie ein Amt der Stadt, außer einmal als Mitglied des Rates.“ In das aber wurde er, wie in der antiken Demokratie üblich, hineingelost. Deshalb saß er einst einer Gerichtsverhandlung bei, in der die Athener – wie so oft von religiösem Eifer getrieben – ihre eigenen Generäle exekutieren wollten, obwohl die in der Schlacht bei den Arginusen sogar siegreich und kollektive Hinrichtungen gegen das Gesetz waren. Sokrates versuchte das Recht zu wahren und stieß auf so viel Widerstand wie ein Berliner Finanzsenator bei der Haushaltssanierung:
Ich allein von allen Ratsmitgliedern lehnte Eure Gesetzeslosigkeit ab und stimmte dagegen. Und obwohl die Redner schon dazu bereit waren, mich anzuklagen und festzunehmen, und Ihr befahlt und brülltet, beschloss ich das Risiko einzugehen mich auf die Seite des Gesetzes und der Gerechtigkeit zu stellen, anstatt mich nur aufgrund der Angst vor Gefangennahme oder Tod auf die Eure zu schlagen, als ihr ungerechte Dinge empfahlt.
Beide verkennen den Nutzen der Querdenker
Leider war von den Athenern nicht mehr Dankbarkeit zu erwarten als aktuell von den Sozialdemokraten. Beide verkennen den Nutzen der Querdenker. Es ist segensreich – für eine Partei genau wie für eine Stadt – jemanden zu haben, der sich aus konformistischen Rückkopplungsschleifen herauszulösen und neue Lösungswege aufzuzeigen imstande ist. Sarrazin bekundet: „Ich sehe nicht, dass ich der SPD in irgendeiner Form geschadet habe. Im Gegenteil, hätte sie meine Analysen zu Einwanderung und Demografie ernst genommen, ginge es ihr heute besser.“ Bei Sokrates klang das so:
Denn wenn Ihr mich tötet, werdet Ihr nicht leicht noch jemanden wie mich finden, der – auch wenn es lächerlich ist, das auszusprechen – schlicht von dem Gott auf die Stadt angesetzt wurde wie auf ein großes und nobles Pferd, das aufgrund seiner Größe eher behäbig ist und von einer Schmeißfliege aufgeweckt werden muss. Genau so scheint der Gott mich auf die Stadt angesetzt zu haben, als jemand dieser Art: Ich wecke und überzeuge und ermahne jeden von Euch, und ich höre nicht auf, mich den ganzen Tag überall auf Euch niederzulassen.
Also sprach der Philosoph. Bei all den Gemeinsamkeiten ist es angemessen, abschließend den Athener Thukydides, den Chronisten des Kriegs zwischen Sparta und Athen, zu zitieren. Der hatte gehofft, sein Werk möge hilfreich sein für „ein klares Verständnis dessen, was geschehen ist und – so ist die menschliche Natur – wieder geschehen wird, auf dieselbe oder ähnliche Weise.“ Die Athener kannten das Gesetz der Geschichte, kennt es auch die SPD?
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