Die Machtübernahme von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) in Syrien stellt Moskau vor ein Fiasko: Der Kreml verliert an Einfluss, während ein erklärter Feind seine Vormacht etabliert.
Neun Jahre lang galt Moskau als Schutzmacht des Assad-Regimes – eine Rolle, die mit der ab 2015 verstärkten Militärintervention untermauert wurde. Bis Januar 2019 nahmen laut russischen Angaben etwa 68.000 Soldaten, darunter 460 Generäle, an der Mission teil. Dabei wurden über 87.000 Kämpfer ausgeschaltet, darunter 830 Anführer und 4.500 Militante aus den GUS-Staaten. Nahezu 1.000 Ausbildungslager und zehntausende Tonnen an Munition wurden zerstört. Die russische Intervention sicherte Assad das Überleben. Moskau erhielt das Recht, den Hafen von Tartus und die Basis in Hmeimim für 49 Jahre zu nutzen.
Nach dem Ende des Einsatzes operierte Russland mit reduzierten Kräften und flog nur noch wenige Einsätze pro Woche. Gleichzeitig blieb eine permanente russische Marineeinheit im Mittelmeer stationiert. 2018 führte die russische Marine dort groß angelegte Übungen durch, an denen 28 Kriegsschiffe und 36 Flugzeuge teilnahmen, um ihre Einsatzfähigkeit zu demonstrieren. Russlands Position in Syrien schien unantastbar.
Doch damit ist es nun vorbei. Eine Szene von symbolischer Wucht markiert das Ende dieses Kapitels: Umringt von seinen Anhängern steht Achmad al-Shar’a, Anführer der islamistischen Miliz HTS, in der ehrwürdigen Umayyaden-Moschee und hält eine flammende Rede. Der Ort könnte symbolträchtiger kaum sein: Bereits im Jahr 708 ließ Kalif al-Walid die einstige Basilika in eine Moschee umbauen und setzte damit ein Zeichen für die Vormachtstellung des Islams in Syrien – ein Moment, der sich auf frappierende Weise zu wiederholen scheint.
In Syrien ist al-Shar’a vor allem unter seinem Kampfnamen Abu Mohammad al-Julani bekannt. Als Emir ist er nicht nur militärischer Anführer, sondern sieht sich auch als Hüter des Islams. In gravitätischem Ton preist er Allah und verkündet den Beginn einer neuen Ära. Sein Einzug in die Moschee, erklärt er, markiere einen Wendepunkt für die islamische Nation. Syrien werde nun von Spaltung und Korruption gereinigt, und der Sieg über das Regime von Bashar al-Assad sei allein den Mudschahedin zu verdanken.
Begleitet von frenetischem Jubel seiner Gefolgsleute tritt er schließlich ins Freie, erhebt die Hand zum Gruß – ein Moment des Triumphs, der den vorläufigen Höhepunkt einer der blutigsten Phasen der syrischen Geschichte markiert. Es ist das Ende eines Dammbruchs, der erst wenige Tage zuvor begonnen hatte: Wie aus dem Nichts führte die von HTS angeführte Koalition einen Siegeszug durch das Land, eroberte Stadt um Stadt – ohne nennenswerten Widerstand. In nur zwölf Tagen schaffte es al-Shar’a, woran die syrische Opposition 13 Jahre lang scheiterte: die 54-jährige Herrschaft der Assads zu beenden. Doch wer ist dieser Mann, den seine Anhänger als islamischen Erlöser feiern? Und wie wird Moskau auf die neue Realität in Syrien reagieren?
Der letzte Funkspruch des Luftwaffenkommandos
Für den Kreml ist das Worst-Case-Szenario eingetreten: Syrien steht jetzt unter der Kontrolle einer islamistischen Miliz, die Russland seit 2015 erbittert bekämpft. HTS hatte die russische Militärintervention von Beginn an als „brutale Besatzung“ verurteilt – eine Einschätzung, der sich im Oktober 2015 insgesamt 41 Oppositionsgruppen anschlossen. 2016 erklärte al-Shar’a in einer Videobotschaft: „Die russische Intervention hat die Entschlossenheit der Mudschahedin nur gestärkt, das tyrannische Regime zu stürzen.“
Besonders brisant: Bis zuletzt flog die russische Luftwaffe Angriffe auf Stellungen der HTS in Idlib. Der letzte Funkspruch des russischen Luftwaffenkommandos vom 7. Dezember dokumentiert die Intensität der Operationen: „In den vergangenen 24 Stunden führten Flugzeuge der russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte Raketen- und Bombenangriffe auf Ansammlungen und Verstecke von Kämpfern, Fahrzeugkolonnen, Lagerhäuser, Kommando- und Stützpunkte sowie Artillerie- und Mörserstellungen in den Provinzen Idlib, Hama und Aleppo durch. Dabei wurden über 300 Terroristen, 55 Fahrzeuge und ein Materiallager zerstört.“
Dass Moskau nun unter diesen Bedingungen um den Erhalt seiner Militärstützpunkte in Syrien verhandeln muss, gleicht einem politischen Offenbarungseid. Dies gilt umso mehr, als HTS den Wurzeln des internationalen jihadistischen Terrorismus entspringt – einem Feind, der Russland erst im März 2024 heimgesucht hat. Beim Anschlag auf die Crocus City Hall gab es 696 Opfer, darunter 145 Tote.
Die Gruppe, 2011 als syrischer Ableger von al-Qaida unter dem Namen Jabhat al-Nusra gegründet, sorgte früh für klare ideologische Positionen: Al-Shar’a, von Abu Bakr al-Baghdadi nach Syrien entsandt, machte unmissverständlich deutlich, dass es dort keinen Platz für Christen und andere religiöse Minderheiten geben solle. Erst 2016 trennte sich HTS offiziell von ihrer Mutterorganisation und nahm den Namen Hay’at Tahrir al-Sham an.
Unter der Führung von Achmad al-Shar’a verlagerte die Gruppe ihren Fokus zunehmend auf syrische Belange und distanzierte sich bewusst von der globalen Dschihad-Agenda. Um seine Regierungsfähigkeit zu beweisen, etablierte HTS in der Provinz Idlib eine pseudostaatliche Ordnung unter der Verwaltung der „Syrischen Befreiungsregierung“. Religiöse und soziale Strukturen wurden zentralisiert, das Ministerium für religiöse Stiftungen (Awqaf) übernahm die Kontrolle über Moscheen und Geistliche und bevorzugte dabei loyale Vertreter. Ein Beispiel: 2020 wurden in Arab Sa’id Geistliche mit Verbindungen zu al-Qaida-nahen Netzwerken durch regimetreue Prediger ersetzt.
Staat auf der Grundlage der Scharia
Trotz taktischer Anpassungen bleibt die ideologische Basis von HTS unverändert: Die Gruppe strebt eine islamische Herrschaftsordnung sunnitischer Prägung an. Dabei versteht sie sich nicht nur als politische Macht, sondern auch als religiöse Erneuerungsbewegung. Ziel ist nicht die Freiheit des ethnisch und religiös vielfältigen syrischen Volkes, sondern die Umkehrung der bisherigen Machtverhältnisse. Unter Bashar al-Assad dominierte die alevitische Minderheit, die etwa 10 Prozent der Bevölkerung ausmacht, während Sunniten und Christen von der Macht ausgeschlossen waren.
HTS hält an ihrer islamistischen Weltanschauung fest und verfolgt langfristig die Errichtung eines Staates auf Grundlage ihrer Scharia-Interpretation. Anders als al-Qaida oder der IS setzt die Gruppe jedoch auf eine schrittweise Umsetzung ihrer Vision im nationalen Rahmen statt auf globale Ambitionen oder Terroranschläge. Dass die Gruppe bislang auf eine strikte Durchsetzung der schariatischen Normen verzichtet hat, dürfte Teil eines politischen Kalküls sein – ähnlich wie die Bekenntnisse zu einer friedlichen und geordneten Machtübergabe unter Einbeziehung aller Religionsgruppen des Landes. Auch die Taliban machten bei ihrer Rückkehr an die Macht in Afghanistan 2021 ähnliche Wahlkampfversprechen, um die internationale Gemeinschaft zu beruhigen. Geblieben ist davon nichts.
Gleiches gilt für den Iran, dessen Geschichte die Gefahren der aktuellen Lage verdeutlicht. Nach dem Sturz des Schahs 1979 nutzte die islamistische Fraktion um Ruhollah Khomeini die Gelegenheit, ihre Macht durch die systematische Ausschaltung anderer Oppositionsgruppen zu festigen. Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass HTS einer ähnlichen Versuchung widerstehen wird.
Ein Blick auf die Biografie von Achmad al-Shar’a unterstreicht die ideologische Prägung und Radikalisierung der Gruppe. International gesucht und von den USA seit 2013 mit einem Kopfgeld von mittlerweile 10 Millionen US-Dollar belegt, begann Al-Shar’a seine islamistische Laufbahn 2000, inspiriert von der zweiten Intifada in Palästina. „Damals war ich 18 oder 19 Jahre alt und dachte darüber nach, wie ich meine Pflicht erfüllen kann, die Nation zu verteidigen“, erklärte er rückblickend.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 schloss sich al-Shar’a dem irakischen Widerstand gegen die US-Besatzung an und trat der al-Qaida im Irak (AQI) unter Abu Musab al-Zarqawi bei. Zwischen 2003 und 2008 war er aktiv, bis er in Abu Ghraib und Camp Bucca inhaftiert wurde. Diese Zeit bezeichnete er später als entscheidend: „In Bucca habe ich begonnen, die richtigen Konzepte über den Dschihad zu vermitteln, um Fehlinterpretationen des Islam zu korrigieren.“
Auftritte in westlichen Medien
Die Gründung von Jabhat al-Nusra kommentierte al-Shar’a später mit den Worten: „Ich wollte von Anfang an sicherstellen, dass der irakische Ansatz hier nicht wiederholt wird.“ Doch 2013 kam es zum Bruch mit Abu Bakr al-Baghdadi, der die autonom agierende Gruppe in den Islamischen Staat eingliedern wollte. Al-Shar’a widersetzte sich entschieden: „Unser Ziel war es immer, die syrische Revolution zu verteidigen – nicht, sektiererische Kriege zu schüren.“
Ab 2021 suchte er aktiv den Dialog mit westlichen Medien, um das Image von HTS zu verbessern. „Unsere Region stellt keine Bedrohung für die Sicherheit Europas oder der USA dar“, sagte er in einem Interview mit Frontline und kritisierte zugleich die internationale Anerkennung des Assad-Regimes: „Wie kann die Welt einem Diktator Legitimität zusprechen, der chemische Waffen gegen sein eigenes Volk eingesetzt hat?“ Sein jüngster Auftritt in der Umayyaden-Moschee erinnert an Abu Bakr al-Baghdadis Predigt 2014 in der al-Nuri-Moschee in Mossul, mit der dieser sich zum Kalifen erklärte. Es folgte eine Schreckensherrschaft aus Gewalt und Völkermord.
In einem Interview vom 7. Dezember 2024 bemühte sich Achmad al-Shar’a, den Islam als Grundlage für eine neue Regierungsführung in Syrien zu präsentieren, ohne seine radikalen Ansichten offenzulegen. „Islam ist nicht nur Kampf und Konfrontation; er ist vor allem Aufbau“, erklärte er. Doch diese Worte stehen im Widerspruch zu seiner Vergangenheit. Während er betont, der Kampf diene der Verteidigung der Nation und dem Aufbau eines gerechten Systems, bleibt unklar, wie er Gerechtigkeit tatsächlich definiert.
Gezielt versucht al-Shar’a, Ängste vor einer islamischen Herrschaft zu zerstreuen. „Menschen, die Angst vor islamischer Regierungsführung haben, kennen entweder falsche Umsetzungen davon oder verstehen sie nicht richtig“, behauptet er. Doch die Realität in den von HTS kontrollierten Gebieten zeichnet ein anderes Bild: Oppositionelle werden unterdrückt, Minderheiten marginalisiert.
Der Kreml und die Islamisten
Besonders hebt al-Shar’a die historische Koexistenz religiöser Gruppen unter islamischer Herrschaft hervor. „Diese Sekten haben seit über 1.400 Jahren hier koexistiert. Niemand hat das Recht, sie auszulöschen.“ Doch Berichte über die Verfolgung von Minderheiten widersprechen dieser Darstellung deutlich.
Während Syrien größtenteils unter der Kontrolle von HTS steht, bleibt unklar, wie Russland auf die neue Lage reagieren wird. Ein realistischer modus vivendi erscheint schwer vorstellbar. Für den Kreml ist der Umgang mit Islamisten ein heikles Thema. Wladimir Putin hat die Bedrohung, die von ihnen ausgehen kann, nicht vergessen. Nach dem verlorenen Ersten Tschetschenienkrieg 1996 ließ Boris Jelzin der abtrünnigen Kaukasusrepublik weitgehende Autonomie. Das Ergebnis war ein Fiasko.
Statt Stabilität folgte Chaos: Tschetschenien versank in Kriminalität, die eingesetzte Regierung scheiterte, und die Region wurde zu einem Stammesgebiet, geprägt von Drogenhandel, Waffenschmuggel und Entführungen. 1999 eskalierte die Lage, als die jihadistische Miliz von Schamil Bassajew Dagestan angriff, um dort ein Emirat zu errichten. Der einmonatige Konflikt führte direkt in den Zweiten Tschetschenienkrieg.
Das russische Militär gewann zwar schnell die Oberhand, doch die Bedrohung durch islamistische Terroranschläge blieb über Jahre bestehen. Diese Erfahrung prägte Russlands Haltung: Verhandlungen oder Zugeständnisse gab es nicht – Kompromisslose Härte wurde zur einzigen Sprache. Diese Linie, maßgeblich durch Wladimir Putin geprägt, wurde auch zur Grundlage der russischen Militärintervention in Syrien. „Wenn die Terroristen noch einmal die Köpfe erheben, fügen wir ihnen solche Schläge zu, die sie bisher nicht erlebt haben“, warnte Putin im Dezember 2017 in Hmeimim.
Dennoch hat Russland bereits Verhandlungen aufgenommen. Dies könnte ein Indiz für einen möglichen Kompromiss sein. „Natürlich werden derzeit alle notwendigen und möglichen Maßnahmen ergriffen, um Kontakt mit denen herzustellen, die für die Gewährleistung der Sicherheit zuständig sein könnten. Selbstverständlich treffen auch unsere Streitkräfte alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen“, äußerte Kremlsprecher Peskow am 11. Dezember. Ein solcher Deal wäre nicht neu für Russland. Bereits in Afghanistan wandelte Moskau seinen Umgang mit den Taliban von „illegaler Terrorgruppe“ zu einem anerkannten Partner. Ähnlich deutet die russische Rhetorik gegenüber HTS auf eine Anpassung hin: Innerhalb weniger Stunden nach dem Fall von Damaskus änderten russische Staatsmedien die Bezeichnung der Gruppe von „Terroristen“ zu „bewaffneter syrischer Opposition“.
Russland sucht eine neue Rolle
Ein möglicher Kompromiss könnte durch die unterschiedlichen Prioritäten beider Seiten erleichtert werden. Während HTS auf rein nationale Interessen fokussiert ist, verfolgt der Kreml eine geopolitische Strategie, die auf den Erhalt und Ausbau seines Einflusses im Nahen Osten und Afrika abzielt. Syrien dient Moskau dabei primär als Drehkreuz für internationale Operationen, eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes wäre für Russland daher wenig relevant.
Auch für HTS birgt eine Annäherung an Russland Vorteile. Bisher stark von der Türkei abhängig, könnte eine Partnerschaft mit Moskau der Gruppe größere Unabhängigkeit und dringend benötigte internationale Legitimität verschaffen. Angesichts der ablehnenden Haltung des Westens gegenüber der neuen syrischen Führung könnte Russland ein entscheidender Partner werden, um den Machtanspruch von HTS zu stärken.
Darüber hinaus könnte Moskau eine Schlüsselrolle in der Vermittlung mit Israel übernehmen, das weiterhin entschlossen ist, moderne Waffensysteme daran zu hindern, in die Hände islamistischer Milizen zu gelangen. In den vergangenen Tagen hat die israelische Luftwaffe mehr als 85 Prozent der syrischen Luftabwehr sowie weite Teile der Luftstreitkräfte zerstört. Damit hat Tel Aviv die totale Lufthoheit über Syrien erlangt – ein Faktor, der das Risiko von Angriffen auf Israel entscheidend minimiert.
Sollte Moskau HTS diplomatische Anerkennung im Austausch für den Erhalt seiner Basen anbieten, könnte dies nicht nur Russlands Präsenz in Syrien sichern, sondern auch eine neue Grundlage für seine geopolitische Strategie im Nahen Osten schaffen. Alternativ könnte der Kreml sogar eine Schutzmacht für alawitische Autonomien in Latakia werden, um den Einfluss von HTS zu begrenzen.
Der Sturz Assads markiert zwar einen Rückschlag, doch von einem Scheitern der russischen Nahostpolitik kann keine Rede sein. Der Kreml verfügt weiterhin über robuste wirtschaftliche und politische Netzwerke in der Region. Gelingt es Moskau, mit HTS eine pragmatische Partnerschaft einzugehen, könnte Russland sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen. Es bleibt denkbar, dass der Kreml die Gelegenheit nutzt, in Ruhe neue Optionen auszuloten – getreu dem alten russischen Sprichwort: „Der Morgen ist klüger als der Abend.“
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.