Seit längerem gibt es eine Diskussion um das Wahlrecht von Menschen mit geistiger Behinderung, genauer: mit schwerer Ausprägung der Behinderung. Denn ganz überwiegend stehen nur sie, nicht aber die leichter Behinderten unter einer dauerhaften Total- oder Vollbetreuung. Letzteres bedingt den Ausschluss vom Wahlrecht. Nach einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) aus dem Sommer 2016 betrifft das 81.000 Personen. Bezogen auf die Bundestagswahl 2013 entspricht das 0,13 Prozent der Wahlberechtigten. Es handelt sich also um eine kleine Gruppe, der das Wahlrecht aus den o.g. Gründen bisher versagt bleibt.
Grüne und SPD hatten 2013 eine Initiative gestartet, um das zu ändern, denn die bisherige Praxis verstoße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Initiative bekam jedoch keine Mehrheit, die CDU zierte sich. Im Juni 2017 haben Grüne und die Linke erneut einen solchen Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht. Außerdem liegt beim Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Wahlprüfungsbeschwerde von Betroffenen vor, über die wohl noch in dieser Legislaturperiode entschieden wird. Kürzlich hat auch die SPD das Thema wohlwollend wieder aufgenommen. Henryk M. Broder kommentierte das im Lichte von Niedergang und Geldnot der Sozialdemokratie.
Den Autor interessiert besonders die Frage, wie die Befürworter des Wahlrechts für alle geistig Behinderten ihr Ansinnen inhaltlich begründen. Um es vorwegzunehmen: sie begründen es eigentlich gar nicht. Dabei würde man doch von einer rationalen Diskussion dieses Themas vor allem zweierlei erwarten: Überlegungen zu kognitiven Mindestvoraussetzungen für die Ausübung des Wahlrecht und zu der Frage, inwieweit diese bei den unter Totalbetreuung stehenden geistig Behinderten begründet als vorhanden angenommen werden können. Aber weit gefehlt. Die sogenannten Begründungen verströmen bloß den Charme einer etwas infantil anmutenden Moralisierung: Wir müssen das machen, weil es in der UN-Behindertenrechtskonvention so drin steht. Tun wir das nicht, ist das diskriminierend und eine Schande. Andere Länder, etwa Finnland und Österreich, haben die Konvention umgesetzt und sollten uns ein Vorbild sein.
"Es geht ums Prinzip"
Spon meint mit Zeitgeist kompatibler Direktheit: „Ob sie das praktisch können, ist nebensächlich. Es geht ums Prinzip.“ Um dieses Prinzip aber nicht übermäßig zu strapazieren, ist der Artikel aufgemacht mit dem Foto eines jungen Mannes, der so gar keine äußeren Stigmata einer schwereren geistigen Behinderung zeigt, im Gegenteil. Darüber hinaus sei er laut seinem gesetzlichen Betreuer 2013 fälschlicherweise unter Totalbetreuung gestellt worden. Das mag ja sein. Nur warum der Betreuer dann die folgenden vier Jahre nicht genutzt hat, den Fehler vom Gericht korrigieren zu lassen, bleibt offen.
Lebenshilfe, die Selbsthilfevereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien, sowie ihre Bundesvorsitzende Ulla Schmidt – genau, die ehemalige SPD-Gesundheitsministerin – weist außerdem darauf hin, dass auch eine Totalbetreuung mitnichten fehlende Geschäftsfähigkeit bedeute. Das stimmt hier jedoch nur in formaler Hinsicht, weil es sich um unterschiedliche Rechtsgebiete handelt und eine aufgehobene Geschäftsfähigkeit gesondert nachzuweisen ist. Aber dieser Nachweis einer fehlenden Fähigkeit zur freien Willensbestimmung wird zwanglos bei so gut wie jedem geistig Behinderten gelingen, der zu Recht unter Totalbetreuung steht.
Damit ist es an der Zeit für einige Begriffsklärungen. Wenn jemand aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, seine „Angelegenheiten“ selbst zu regeln, kann das von einem vom Vormundschaftsgericht bestellten gesetzlichen Betreuer übernommen werden. Der Betreuungsumfang hängt dabei ab von den Einschränkungen des zu Betreuenden einerseits und den zu regelnden Angelegenheiten andererseits.
Eine geistige Behinderung oder intellektuelle Beeinträchtigung war bisher in erster Linie definiert durch einen IQ von unter 70, also einer weit unterdurchschnittlichen Intelligenz. Da trotz gleichen IQs die Anpassungsfähigkeit an soziokulturelle Standards recht unterschiedlich ausfallen kann, bestimmen jetzt auch soziale Kompetenz und das Ausmaß von Selbstständigkeit in lebenspraktischen Dingen die Klassifikation. Der Schweregrad und der damit einhergehende Unterstützungsbedarf einer geistigen Behinderung kann folglich sehr unterschiedlich ausfallen:
Ein nur leicht Beeinträchtigter benötigt vielleicht gar keine Unterstützung oder lediglich eine bei der Regelung von Mietangelegenheiten. Bei einer schweren geistigen Behinderung dagegen, wenn allenfalls ein geringes Verständnis von Konzepten, Zeit, Mengen und Geld vorhanden ist, die Kommunikation sich auf das Hier und Jetzt im Rahmen von alltäglichen Ereignissen beschränkt und für alle Anforderungen des täglichen Lebens Unterstützung benötigt wird, besteht umfassender lebenspraktischer und gesetzlicher Betreuungsbedarf.
In Bayern 26mal häufiger Totalbetreuungen als in Bremen
In solchen Fällen neigen einige Gerichte zur Einrichtung einer allumfassenden Betreuung. Mit dieser Totalbetreuung ist die Akte dann vom Tisch und kommt so bald auch nicht wieder. Andere Gerichte lassen es bei einer nur teilweisen Betreuung bewenden, etwa wenn in bestimmten Bereichen ein Handlungsbedarf nicht konkret absehbar ist, beispielsweise ein Umzug in eine andere Einrichtung unwahrscheinlich ist oder Telefon- und Internetanbieter gar nicht in Anspruch genommen werden können.
Kommt es später wider Erwarten doch dazu, beantragt der Betreuer beim Gericht eine Erweiterung der Betreuung. Das ist natürlich besonders in Flächenstaaten aufwendig, weil der Richter oftmals gehalten ist, sich vor Ort einen persönlichen Eindruck zu machen. Darüber hinaus sollte nicht unbeachtet bleiben, dass die mit der „Political Correctness“ einhergehende systematische Tendenz zur Beschönigung und Verniedlichung von Behinderung die Einrichtung von Totalbetreuungen erschwert. Denn bei einer nicht voll umfänglich betreuten Person kann ggf. die Illusion einer teilweisen Selbstständigkeit aufrechterhalten werden. Diese Faktoren dürften im Wesentlichen die teils großen Unterschiede bei der Zahl der Totalbetreuungen zwischen einzelnen Bundesländern erklären - in Bayern 26mal häufiger als in Bremen.
Nun muss der zuständige Fachminister nicht befürchten, wegen Verstoßes gegen die UN-Behindertenrechtskonvention zum Sozialdienst in einer Behinderteneinrichtung verurteilt zu werden. Zum Glück wird die Einhaltung der Konvention vom Deutschen Institut für Menschenrechte kontrolliert, und nicht etwa vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. So werden lediglich Lob und Tadel verteilt. Lob für die bereits erfolgte Gewährung des Wahlrechts bei Kommunal- und Landtagswahlen auch für unter Totalbetreuung stehende geistig Behinderte in Schleswig-Holstein und NRW. Tadel in Bezug auf die bisher noch fehlende Anpassung des Wahlrechts für die Bundestagswahl. Aber auch der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat 2015 die Situation in Deutschland geprüft und gefordert, bestimmten Gruppen nicht länger das Wahlrecht vorzuenthalten. Man ist natürlich geneigt zu fragen, ob es im Weltmaßstab nicht vielleicht doch dringlichere Probleme im Leben der Behinderten gibt, um die sich die UN vorrangig kümmern sollte.
Dankenswerterweise setzten sich wenigstens die Autoren der BMAS-Studie (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) mit der Frage nach den kognitiven Voraussetzungen für die Ausübung des (aktiven) Wahlrechts auseinander und bringen das zudem sehr schön auf den Begriff: „Die Fähigkeit zum Treffen komplexer rationaler Entscheidungen ist ein höherer kognitiver Prozess, der das Verstehen und Abwägen von Entscheidungsalternativen inklusive ihrer Bedeutung und erwünschten und unerwünschten Folgen beinhaltet sowie die Fähigkeit, anhand von (Ziel-)Kriterien oder ethisch-moralischen Normen eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen zu treffen und ggfs. zu begründen.“ Erst wenn diese Voraussetzungen vorhanden sind, stelle sich die Frage, ob eine Wahlassistenz im Einzelfall hilfreich sein könnte.
Die Frage stellen, ob diese Voraussetzungen bei höhergradig geistig behinderten Personen vorhanden sind, heißt sie zu beantworten. Denn das Fehlen von solchen kognitiven Fähigkeiten ist ja gerade konstituierendes Element ihrer Behinderung. Da hilft dann auch keine Leichte Sprache. Dass sich bei den unter Totalbetreuung stehenden geistig Behinderten Einzelfälle finden, bei denen das anders ist: geschenkt: Die Fehlbeurteilung gehört bekanntlich zum Rechtssystem wie der Hosenanzug zu Merkel.
Zudem gibt es noch ein weiteres, von der kognitiven Ausstattung der potentiellen Wähler nicht ganz unabhängiges Problem, nämlich die erhöhte Fremdbeeinflussbarkeit, die bei vielen geistig Behinderten gegeben ist. Gewählt werden würde dann die Partei oder der Kandidat, zu denen Mitbewohner, Eltern oder die Lieblingsbezugsperson raten.
Die meisten geistig Behinderten dürfen bereits wählen
Legt man konservative Schätzungen zu Grunde, dürfte der Anteil von geistig Behinderten aller Schweregrade innerhalb der deutschen Wahlbevölkerung etwa 0,8 Prozent betragen. Da, wie dargestellt, lediglich 0,13 Prozent nicht über das Wahlrecht verfügen, folgt daraus, dass die große Mehrheit der geistig Behinderten bereits ohne Einschränkungen wählen darf.
Teils ist das durchaus in Ordnung, teils aber höchst fragwürdig. Denn mindestens eine relevante Minderheit der nicht unter Totalbetreuung stehenden geistig Behinderten verfügt mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls nicht über die notwendigen kognitiven Voraussetzungen. Allein der Anteil schwer oder schwerst geistig Behinderter an der deutschen Wahlbevölkerung dürfte etwa doppelt so groß sein wie die aktuell unter Totalbetreuung stehenden 81.000 Personen. Zudem muss man annehmen, dass es auch unter den bisher noch gar nicht erwähnten mittelgradig oder mäßig geistig Behinderten einen nennenswerten Anteil ohne die für die Ausübung des Wahlrechts erforderliche kognitive Ausstattung gibt.
Die Totalbetreuung ist letztlich also nicht mehr und nicht weniger als ein grober Marker für diejenigen, bei denen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass sie mit dem Wahlrecht nichts, aber auch rein gar nichts anfangen können. Und die sich im Übrigen deswegen auch nicht wirklich diskriminiert fühlen können, wenn sie nicht wählen dürfen. Denn das kriegen sie schlicht gar nicht mit. Gewährt man ihnen das Wahlrecht trotzdem, dann tatsächlich nur aus Prinzip, da hat Spon schon recht. Die Frage ist nur: Welches Prinzip soll hier eigentlich genau gemeint sein?
Der Autor, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins, ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.