Lessings „Ringparabel“ wird gerne bemüht, um die vermeintliche Gleichheit von Judentum, Christentum und Islam zu illustrieren. Doch Lessing erwies dem Westen mit dieser Geschichtsklitterung einen Bärendienst.
Die westliche Wahrnehmung des Islam scheint wie gefesselt von Hemmungen und Behinderungen. Als Europäer stehen wir im Bann der berühmten Ring-Parabel, präsentiert in Lessings Theaterstück Nathan der Weise, deren Motiv bereits Jahrhunderte früher in verschiedenen antiken Quellen auftauchte. Im Grunde geht es in dieser Parabel um das Vorhandensein mehrerer gleicher Stücke oder Konzepte, von denen eins als das echte und wahre vermutet wird, wobei sich am Ende herausstellt, dass der Nachweis dafür nicht zu erbringen ist. In einem allgemein-philosophischen Sinn wird damit der Anspruch einer absoluten, allgemeingültigen Wahrheit zugunsten mehrerer Wahrheiten aufgegeben. Es handelt sich sozusagen um die Ur-Parabel der Relativierung. Da sie im Lauf der Jahrhunderte durch viele Hände ging, wurde sie immer glatter und nichtssagender. Bei Lessing heißt es dann: „Man untersucht, man zankt, Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich; (so wie) Uns jetzt – der rechte Glaube.“
In diesem verallgemeinerten Sinn sah der Ägyptologe Jan Assmann bereits im altägyptischen Isis-Osiris-Mythos (überliefert vom römischen Historiker Diodor unter Berufung auf einen verschollenen Text des im vierten vorchristlichen Jahrhundert lebenden Historiographen Hekateios von Milos) den „Ursprung der Ringparabel“. Eine andere Spur verfolgte die israelische Historikerin Iris Shagrir, weiter östlich, frühchristlich, in der „Story of the precious pearl“, enthalten in der Apologie des Patriarchen Timotheus vor dem Kalifen Mahdi um 785, wo es heißt: „Die Perle des wahren Glaubens fiel mitten unter uns und befindet sich zweifellos in der Hand eines von uns, während wir alle glauben, dass wir dieses kostbare Objekt besitzen.“ (Wobei sich das Sprachbild von einer „Perle des wahren Glaubens“ bereits im Neuen Testament findet, im Matthäus-Evangelium 13,45, entstanden im ersten oder zweiten Jahrhundert.)
Im späten achten Jahrhundert ebnete ihr die Übersetzung ins Arabische, durch den persischen Schreiber Ibn al-Muqaffa, den Weg in die östlichen Literaturen des frühen Mittelalters, etwa in eine für den byzantinischen Kaiser Alexios Komnenos um 1.100 angefertigte Niederschrift in syro-aramäischer Sprache, kurz darauf in eine hebräische, um 1270 in eine lateinische. In der heute bekannten Form mit den drei Ringen wird sie in der jüdischen Anthologie Shebet jehuda erzählt, einem seit dem Frühmittelalter bekannten Manuskript des Shlomo ibn Verga, gedruckt Mitte des 16. Jahrhunderts, deren Geschichten von unbekanntem Alter sind. Ende des 13. Jahrhunderts taucht sie in der italienischen Sammlung Le Cento Novelle antiche auf (Novella 72/73), um 1340 in der wahrscheinlich in England entstandenen Gesta Romanorum und 1349 im berühmten Decamerone des Boccaccio.
Das erfundene Sprachrohr einer „allgemeinen Weltreligion“
In den letztgenannten Versionen symbolisieren die drei Ringe bereits die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Lessing beruft sich ausdrücklich auf die Fassung des Boccaccio, in der die drei monotheistischen Konzepte Judentum, Christentum und Islam mit drei einander zum Verwechseln ähnlichen Ringen verglichen werden. Da alle drei einander zum Verwechseln ähnlich sind, so die Logik dieser Erzählung, könne es sich bei den in ihrem Namen ausgefochtenen Kontroversen, Konflikten und Kriegen nur um Missverständnisse oder Vorwände handeln, die – im Sinne der neuen, aufklärerischen Vernunft – durch geistigen Austausch, Aufklärung und Toleranz zu überwinden sind.
Lessings Ring-Parabel nimmt ihre Legitimation aus dem gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen aus einer nahöstlich-nomadischen Welt, symbolisiert in der Gestalt des biblischen Patriarchen Abraham, auf den sich alle drei Religionen als Urvater berufen. Aus diesem Grund und wegen ihrer weltweiten Wirkung ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam summarisch als die „drei abrahamitischen Religionen“ zu bezeichnen. Diese Sicht hat sich das moderne, weitgehend säkulare Europa des 19. und 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht, und damit alle drei Religionen eo ipso gleichgestellt und eines Gutteils ihres eigentlichen Charakters beraubt.
Dagegen wurde früh Einspruch erhoben. Etwa von der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Fanny Lewald, die in ihrem Roman Jenny (1843) einen ihrer Protagonisten sagen lässt: „In dem Bestreben, die positiven Religionsunterschiede als unwesentlich darzustellen, hat Lessing den einzelnen Repräsentanten der verschiedenen Konfessionen ihren nationalen und durch den Glauben bedingten Typus genommen, so daß Saladin, der Templer und Nathan, drei so ganz abweichende Charaktere, eine Art von protestantischer Familienähnlichkeit bekommen.“ Der Prager Kunstkritiker Johannes Urzidil schrieb 1948 im amerikanischen Exil, Lessings Nathan sei kein Jude, auch kein lebendiger Mensch, sondern ein Konstrukt, das erfundene Sprachrohr einer „allgemeinen Weltreligion“.
Ein „welthistorisches Plagiat“
Es passte ins Konzept der Aufklärung, die drei monotheistischen Religionen durch diese Verallgemeinerung insgeheim zu entwerten. Wie sich in Lessings Ringparabel nicht ermitteln lässt, welcher der drei Ringe der echte, ursprüngliche ist, soll folglich auch keine der drei Religionen die wahre, nicht einmal mehr die ursprüngliche sein. Und da somit keine der drei Religionen für sich die „Echtheit“ beanspruchen kann, darf sich der moderne Mensch getrost von ihnen abwenden und es ohne sie versuchen. Unter dem Vorwand einer überlegenen Sicht auf die drei angeblich gleichwertigen – und gleichweise unzeitgemäßen – Religionen entledigten sich vor allem die christlichen Nationen Europas, wie von Nietzsche vorausgesagt, des biblischen Gottes und seines Wertekanons, als sei er nichts als lästiger Ballast.
Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich Lessings Parabel von den drei gleichen Ringen als verfehltes Bild. Die Metapher von den drei Ringen, die einander zum Verwechseln ähnlich sind, so dass sich angeblich nicht mehr feststellen ließ, welcher der ursprüngliche war und welcher der nachgeahmte, ist schon deshalb falsch, weil bei den drei in Frage stehenden Religionen ganz zweifelsfrei eine Reihenfolge ihrer Entstehung und damit Originalität ihrer Ideen feststellbar ist.
Schon von daher sind die „drei abrahamitischen Religionen“ von Grund auf verschieden: das Judentum ist in der Reihenfolge die erste, das Christentum die zweite, unmittelbar aus dem Judentum hervorgegangene – Jesus war religiöser Jude – , während der Islam eine spätere, am Rand der jüdisch-christlichen Sphäre entstandene Bewegung ist, deren Textwerk, der Koran, sich der beiden vorhergegangenen bedient, ihre Ideen und Texte übernimmt und zugleich ihre irdischen Vertreter bekämpft.
Abraham Geiger, der Begründer des deutschen Reformjudentums, hat in seiner 1833 in Bonn veröffentlichten Dissertation nachgewiesen, dass etwa achtzig Prozent des Textmaterials des Koran – Erzählungen, Gleichnisse und religiöse Konzepte – aus der Bibel übernommen sind. Daher nennt der deutsch-jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig in seinem 1921 erschienenen Buch Der Stern der Erlösung den Koran unumwunden ein „welthistorisches Plagiat“. Plagiiert wird auch das Christentum, weil auch Figuren des „Neuen Testaments“ im Koran erscheinen, Jesus, Johannes oder Maria, als wären sie Teil der Offenbarung Mohammeds. Maria ist sogar die einzige namentlich erwähnte Frau im Koran, da sie durch die unbefleckte Empfängnis als Einzige von der allgemeinen „Unreinheit“ dieses Geschlechts ausgenommen ist.
Verblüfft über ihre generelle Unvereinbarkeit
Die über Jahrtausende auseinander liegende Entstehungszeit der drei Religionen ist ein weiterer Grund, das Zutreffen der Ring-Parabel zu bezweifeln. Auch sonst wäre der Wahrheitsgehalt der Parabel zu prüfen, die aus ihr abgeleitete These von der spirituellen „Gleichwertigkeit“ der drei „abrahamitischen Religionen“ bis hin zu der heute in Europa verbreiteten, überaus bequemen, von jeder genaueren Kenntnis unbeschwerten Annahme, diese „Gleichwertigkeit“ oder „Gleichheit“ mache es überflüssig, sich überhaupt noch ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen. In der Version des Boccaccio, lange vor Lessings bedeutungsschwerer, pseudo-philosophischer Wiedergabe im „Nathan“, war die Ring-Parabel ein listiges „Geschichtchen“ (im italienischen Original una novelletta), mit dem sich ein reicher alexandrinischer Jude einer Fangfrage des Sultans Saladin zu entziehen suchte. Die in der Not und halb im Scherz erzählte novelletta aus Boccaccios Unterhaltungs-Roman wurde über den Umweg des deutschen Aufklärers Lessing zu einem fundamentalen Axiom modernen europäischen Denkens.
Davon profitiert heute vor allem der Islam. Schon für den Schweizer Historiker Jacob Burckhardt, in seinem berühmten Buch Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), war die Ring-Parabel „Ausdruck der Indifferenz“ gegenüber der für Europa bestehenden Bedrohung durch das islamisch-türkische Reich. Damit, schreibt Burckhardt, „hing dann die Toleranz und Indifferenz zusammen, womit man zunächst dem Mohammedanismus begegnete (...) Der wahrste und bezeichnendste Ausdruck dieser Indifferenz ist die berühmte Geschichte von den drei Ringen, welche unter anderem Lessing seinem Nathan in den Mund legte (...) Der geheime Vorbehalt, der ihr zugrunde liegt, (ist) der Deismus“, womit Burckhardt atheistische Tendenzen der Aufklärung meinte, die sich gegen das Christentum richteten.
Heute steht Lessings Ringparabel jedem differenzierten Herangehen an die drei monotheistischen Religionen im Wege. Sie erweist sich als fatal falsche Metapher. Das Schlagwort von den „drei abrahamitischen Weltreligionen“ blockiert eine genauere Betrachtung des „Religiösen“, die im Vorurteil einer falschen Verallgemeinerung befangen bleibt. Wer sich jedoch die Mühe macht, die Grundlagenschriften dieser drei religiösen Konzepte, Bibel und Koran, genauer zu studieren, ist verblüfft über ihre generelle Unvereinbarkeit.
Der Islam ist im Kern eine Religion des Krieges
Die Genealogie der Schriften ist eindeutig: der erst im sechsten Jahrhundert aufkommende Islam beutet das spirituelle Potenzial der beiden älteren Religionen systematisch aus, usurpiert ihre Gedanken als seine eigenen und verwirft ihre bisherigen Vertreter als Verräter an der wahren Offenbarung. Aus ihrer Verwerfung leitet der Koran die Notwendigkeit ihrer Verfolgung und Vernichtung ab. Wodurch auch das Verhältnis zum Krieg ein ganz anderes ist als in Juden- und Christentum: Er wird nicht, wie dort, ambivalent wahrgenommen, als unvermeidbares Übel, sondern als die eigentliche Erfüllung.
Der Islam ist im Kern eine Religion des Krieges, da er seinen Anhängern bis zur völligen islamischen Befriedung der Welt den Glaubenskrieg gebietet. Entsprechend ist das Gottesbild des Koran mit dem der Bibel unvereinbar, Gott als Kämpfer und Krieger, und das Menschenbild nicht mehr geprägt von der Gleichheit aller Wesen vor dem Schöpfer (wie etwa in Psalm 145, 9 formuliert), sondern von einer gnadenlosen Segregation: hier die „Übermenschen“, die gläubigen Muslime, dort die Verworfenen, Juden, Christen und „Ungläubige“, zu deren Ausbeutung und Vernichtung jedes Mittel erlaubt ist.
Die bedrückende Bilanz eines solchen Text-Vergleichs ist inzwischen im westlichen Bewusstsein angekommen. Vor allem aufgeklärte frühere Muslime weisen auf das Gewalt-Potenzial dieses Religionstextes hin. Die Erkenntnis der permanent bestehenden Gefahr, die von den Geboten des Koran ausgeht, löst verständlicherweise einen Schock aus. Die Lektüre des Koran – wozu sich nur relativ wenige Menschen im Westen entschließen – enthüllt ein Ausmaß an Gewalt, das ein westlicher Leser in einer religiösen Grundlagenschrift nicht für möglich hält. Welche Hoffnung auf Frieden kann es geben, wenn der anderen Seite in ihrer Religion der ständige Krieg geboten ist? Sind wir dazu verdammt, selbst endlos im Kriegszustand zu leben, um uns der versuchten Übernahme durch die Glaubenskrieger zu erwehren? Die Reaktion der politisch Verantwortlichen ist Verdrängung und Leugnung. Millionen Menschen ahnen die erschreckende Wahrheit und versuchen sie aus ihrem täglichen Leben auszublenden.
Andererseits ist das Konzept von den „drei abrahamitischen Religionen“ auch heute politisch hilfreich, als Brückenschlag zwischen Partnern verschiedener Glaubensrichtungen, um die bestehenden Unvereinbarkeiten und von Extremisten ausgenutzten Feindseligkeiten im Sinne gedeihlicher Geschäfte zu überwinden. Wenn im reichen Öl-Emirat Abu Dhabi neuerdings wieder eine Kirche und eine Synagoge in Betrieb sind, geschieht es unter Berufung auf die Ring-Parabel und das Konzept der drei gleichwertigen „abrahamitischen Religionen“. Die beiden noch vor wenigen Jahren undenkbaren Neubauten stehen gemeinsam mit der Imam-Al-Tayeb-Moschee in einem gut bewachten Areal nicht weit vom Palast des Emirs. Name des viel besuchten, viel bestaunten Objekts: „The Abrahamic Family House.“ Auch die 2020 geschlossenen „Abraham Accords“, die Staatsverträge zwischen Israel und seinen früheren arabischen Feinden, bemühen das fragwürdige Gleichnis. Doch die Ring-Parabel verhüllt die Wahrheit. Man nimmt es in Kauf, weil die Wahrheit nicht selten einem guten Geschäft im Wege steht.
Dieser Beitrag erschien in gekürzter Form zuvor in der NZZ.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.
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