Chaim Noll / 13.04.2020 / 06:25 / Foto: Freud / 122 / Seite ausdrucken

Wie lange spielen wir noch mit?

Am Anfang hat es sogar Spaß gemacht. Ruhe. Entspannung. Nur das Nötigste tun. Kein hektisches Gewimmel in den Straßen. Vier Wochen nicht arbeiten oder wenigstens nicht im Büro, und das Gehalt läuft weiter. Es war annehmbar, wenn man ein großes Haus hat mit Garten. Und keine kleinen Kinder, die den ganzen Tag beschäftigt werden müssen. Oder wenn man an Alleinsein, allein arbeiten gewöhnt ist. Dann war es auszuhalten. Aber auf viele traf das alles nicht zu.

In Israel hat die Zahl der Arbeitslosen, die wegen der Corona-Restriktionen ihren Job verloren, inzwischen die Millionengrenze überschritten, das sind 25 Prozent derer, die vorher feste Arbeit hatten, die höchste Rate in der Geschichte des Landes. Und das nach einer Periode grandiosen wirtschaftlichen Aufschwungs, mit den niedrigsten Arbeitslosenzahlen unserer Geschichte. So schnell kann sich das Blatt wenden, über Nacht. Am Corona-Virus gestorben sind bis heute, da ich dies schreibe, 102 Israelis, fast alle hochbetagt. Verglichen mit 350 Verkehrstoten im vergangenen Jahr. Ihretwegen war niemand auf die Idee gekommen, die Straßen abzusperren.

Solche Rechnungen machen wenig Eindruck, denn es geht nicht um Zahlen. Die Begründung für die beispiellosen Restriktionen ist ein Rückgriff auf die ethischen Werte unserer Gesellschaft. Nach dem traditionellen jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, müssen wir alles nur Erdenkliche zum Schutz und zur Rettung jedes einzelnen Menschenlebens tun. „Wer eines Menschen Leben rettet, der ist, als hätte er die Welt gerettet“, heißt es im Talmud-Traktat Sandedrin 37a. Dieser Grundsatz ging in die Ethik von Juden- und Christentum ein, rund fünf Jahrhunderte später übernahm ihn auch der Koran (leider ohne Nennung der Quelle) in Sure 5,32. Entsprechend erklärte die deutsche Kanzlerin Merkel in ihrem Video-Podcast am 3. April zur Begründung der Corona-Restriktionen: „Weil wir eine menschliche Gesellschaft sind. Weil es nicht um Zahlen geht, sondern immer um jeden einzelnen Menschen, dessen unveräußerliche Würde zu achten ist.“

Und deshalb haben wir alle mitgemacht: Weil die Situation, von Seiten der Ethik, zunächst eindeutig war. Je länger aber die Restriktionen andauern, umso mehr geraten wir in ein Dilemma. Was ist mit der „Würde“ und Gesundheit derer, die bei weiterer Blockade der Volkswirtschaft, der Versorgung, des öffentlichen Lebens, der Bewegungsmöglichkeiten, der für die Gesundheit notwendigen Entspannung existenziellen Schaden nehmen? Pleite gehen, ihr Einkommen verlieren, sich bis über beide Ohren verschulden müssen? Ich schlafe schlechter, seit ich mich nicht mehr frei bewegen darf. Wir alle wissen, dass Hausarrest auf Dauer gesundheitsschädlich ist. Und andere trifft es viel härter. Immer mehr Menschen erleiden gesundheitliche Schäden, die sich aus dem Abwürgen der Wirtschaft, der Stilllegung des öffentlichen Lebens ergeben. Vor allem Kleinbetriebe, Dienstleister, Handwerker, Freiberufler gehen regelrecht daran kaputt.

Uns beschleicht zunehmend ein Misstrauen

Denn nicht nur das Corona-Virus kann zum Tod führen, sondern auch Existenzverlust, Stress, Herzinfarkt, Depression, Panikattacken, Alkoholismus, häusliche Gewalt. Oder unterlassene ärztliche Leistungen wegen Corona-blockierter Strukturen des Gesundheitswesens. Jeder hat seine besonderen Gründe, eine Aufrechterhaltung des Shutdown zu fürchten. So sehr sich Politiker, Medien und große Teile der Öffentlichkeit darin sonnen, dass sie in einer nie gesehenen Sorge um Alte und Kranke jede Infektion ausschließen, ihr Land stilllegen und die ökonomischen Verluste hinnehmen wollen, so sehr bedrohen sie andererseits Millionen Menschen, die von den Eingriffen um ihre Existenz gebracht werden, somit auf längere Sicht um ihre Gesundheit, um ihr Leben.

Je länger die behördlich erzwungene Blockade unseres Lebens anhält, umso mehr büßt sie ihre ethische Legitimation ein. Und damit unsere Bereitschaft, sie hinzunehmen. Besorgt melden deutsche Medien„Langsam schwindet die Angst der Menschen vor dem grassierenden Coronavirus.“ Denn wenn die Angst abnimmt, spüren wir umso stärker die wirtschaftlichen Sorgen, die Verluste an Freiheit, menschlichen Beziehungen und kreativen Möglichkeiten. Unser Verständnis  für die verordnete Kontaktsperre nimmt ab. Unsere Bereitschaft zum geduldigen Abwarten, zum Gehorsam. Irgendwann spielen wir nicht mehr mit.

Zudem beschleicht uns zunehmend ein Misstrauen, die regierenden Politiker könnten die Stilllegung des öffentlichen Lebens für ihre Zwecke missbrauchen. Abgesehen von der geplanten Diätenerhöhung wurde schon vor einigen Wochen im Bundestag „in kleiner Runde“ eine Änderung des Grundgesetzes diskutiert, um, ähnlich wie in Kriegszeiten, auch im Fall von Epidemien mit einem Notparlament aus nur 48 Mitgliedern zu regieren, genannt „Gemeinsamer Ausschuss“, mit nur 32 ausgesuchten Bundestagsabgeordneten und 16 Mitgliedern des Bundesrates – eine Initiative der Regierungsparteien, die zum Segen der Demokratie vorerst am Widerstand der anderen Fraktionen scheiterte. Auch in Brüssel wird dieser Tage von weiterer Verengung und Zentralisierung der Macht geträumt. Für manche – anders als für die vielen Verlierer – eröffnet Corona eine Fülle neuer Möglichkeiten.

Die Stimmung kann jeden Tag umschlagen

Zugleich wird die Kritik immer lauter, nicht nur im Detail, sondern am generellen Ansatz der Regierenden, mit der Epidemie umzugehen. War der Shutdown eine kluge Strategie? Ist es sinnvoll, wegen eines Virus, das in ähnlicher Form jederzeit wieder auftreten kann, das gesamte öffentliche Leben lahmzulegen? Mit Sicherheit war es die spektakulärste – und das ist es, was für Politiker zählt. “Lockdown is lunacy,” erklärt dagegen der israelische Experte Yoram Lass, Professor für Pharmakologie an der Universität Tel Aviv. “It's impossible to stop a virus by government decree.” („Stilllegung ist Wahnsinn. Es ist unmöglich, ein Virus durch Regierungsverordnung zu stoppen.“) Andererseits behaupten Anhänger eines „starken Staates“, wie der britische Politologe David Runciman, der Regierung bliebe, um überhaupt noch politisch relevant zu sein, nichts anderes übrig, als „die Leute zum Gehorsam zu zwingen, unter Anwendung aller Zwangsmaßnahmen, die dem Staat zur Verfügung stehen.“ („Either people are forced to obey, using the coercive powers the state has at its disposal. Or politics breaks down altogether...“)

Solche ins Staatsrechtliche gehende Debatten werden uns noch eine Weile unterhalten, aber letztlich nicht die Entscheidung ersparen, wie wir uns, jeder für sich, im Fall weiterer Zwangsmaßnahmen verhalten. Noch hat jeder einzelne Bürger der westlichen Demokratien persönliche Handlungsfreiheit im Rahmen des Grundgesetzes. Daher wäre es unklug, sogar gefährlich, die Restriktionen unnötig auszudehnen. Es wäre dumm vonseiten der Regierenden, die Hinnahme-Bereitschaft ihrer Mitbürger für unerschöpflich zu halten. Die Stimmung kann jeden Tag umschlagen, und die Reaktion könnte heftig ausfallen. Politiker in einer Demokratie sollten wissen: Eine freie Gesellschaft lässt sich nicht mit Angst regieren. Auch nicht mit Angst vor einem Virus.

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Leserpost

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Dr. W. Rösner / 13.04.2020

Herr Noll, ich habe den Verdacht, Sie haben da was verwechselt. Vielleicht sogar auch die Kanzlerin. Niemand aus der Epidemiologie hat je behauptet, man könne durch einen Lockdown Leben retten. Man hat nur gesagt: einen Versuch ist es wert, vielleicht bringt’s was! Denn, es ist klar, dass der Lockdown die Erkrankungskurve nur abflachen kann, das Integral unter der Kurve bleibt gleich. Wenn man denn die Ausbreitung zeitlich streckt, werden die Intensivstationen weniger überlastet und können sich besser den Kranken widmen, für die die Kapazitäten freigeblockt wurden. Natürlich auf Kosten derer, die durch diese Maßnahmen NICHT behandelt werden. Operationen wurden verschoben, Menschen begeben sich aus Angst vor Covid19 verspätet in Behandlungen, ja vermeiden sogar das u.U. dringend notwendige Krankenhaus in der Vorstellung, sie könnten dort stören. Einige Krankenhäuser melden Kurzarbeit an, aus Mangel an Auslastung! Wir machen am Ende des Jahres eine Bilanz, ok? Dann wird man sehen, dass die Gesamtsterblichkeit nicht wesentlich von derjenigen in anderen Jahren abwich. Was man auch sehen wird, ist ein dramatischer Wirtschaftseinbruch. Das ist aber bereits jetzt sicher. Kurz: der Schaden ist sicher, der Nutzen äußerst fraglich.

Helene Bronner-Fiorentino / 13.04.2020

@Wilfried Cremer Ich bediene mich des Kommentars von s.teich: IHR Beitrag gehört eingerahmt und abgespeichert für die Ewigkeit. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen…..DANKE !

herbert binder / 13.04.2020

Ein klarer und sehr lesenswerter Artikel von Ihnen, lieber Herr Noll. Sie schreiben an einer Stelle: “Denn nicht nur das Corona-Virus kann zum Tod führen, sondern auch…”. Ich möchte Ihre Liste ergänzen: sondern auch der Suizid. Ansonsten ist der äußerst “lebendige” Kommentarteil bestes Anschauungsmaterial dafür, was Sie mit Ihrem Text alles “angerichtet” haben. Mir kam immer wieder eine Passage des Hobelliedes in den Sinn, die abgewandelt heißen könnte: da streiten sich die Leut’ herum, wohl um des Virus “Glück”, fast jeder heißt den andern dumm - dabei weiß keiner nix - genauer: nichts richtiges. Das ganze Zahlenmaterial (Zahlensalat?) könnte sich dereinst als eine Sonderform des McGuffin herausstellen. Im Moment sind m.E. jedenfalls der Spekulation noch viele Türen geöffnet. Machen Sie’s (weiterhin) gut.

Günter Schaumburg / 13.04.2020

Herr Hans Reinhardt, pflichte Ihnen bei. So, wie unsere Vorfahren einst bis kurz vor dem Endsieg an WuWa’s (Wunderwaffen) glaubten, so ist das Pendant heute die Maske, die es nicht zu kaufen gibt, ähnlich den WuWa’s, die auf dem Reisbrett lagerten.

Frances Johnson / 13.04.2020

Vergessen: An Israel einen Glückwunsch wegen guter Medizin, nur maximal (ohne Dunkelziffer) 1 Prozent Letalität. @ Sabine Schönfelder: Hatte das nicht als Konkurrenz aufgefasst. Mache nur die mir selbst auferlegte Aufgabe hier, so gut es geht. Aber vielen Dank für die Antwort.

Joachim Kuhnle / 13.04.2020

Schon wieder ein unglaublich guter Text von Chaim Noll. Ich bin begeistert.

Dov Nesher / 13.04.2020

@Herrn Wagner: schon klar am Deutschen Wesen sill die Welt genesen und was aus dem Ausland kommt ist erstmal seltsam. Es kann halt nicht sein, was nicht sein darf.

Johannes Schuster / 13.04.2020

@Frances Johnson: Ich stelle hier mal eine Theorie des kommunikativen Handelns vor: In einer durch den Klimawandel aufgeheizten Weltuntergangsstimmung (Abstraktum) trifft die Nachricht von einem tatsächlichen Virus auf: Das Virus wird ein Item - ein konventioneller Begriff der Angst. Dieser Begriff “neuartiges Corona” wird das Objekt des kommunikativen Aushandelns seines Wertes. Gut, jetzt kommt der Jahrmarkt der Eitelkeiten und jeder will die Mode haben. Jetzt geht es zu wie in der Kernphysik, daß jeder Prozess des Handels mit Corona, also jeder Impfbegriff mindestens 2 Folgebegriffe freisetzt, die mit Corona zu tun haben und sich um diesen Begriff als Kern zentrieren. Das einzige, was nach einiger Zeit exponentiell ist, noch lange vor der Durchseuchung ist die Begriffsinfektion. Das ist ein Wachstum an “kompetenter Funktionalität” wie in einer Atombombe. Die Gemeinde der Wissenschaft brodelt und wird instabil, die Politik wird ebenfalls begrifflich und gewertet infiziert - und instabil. Es läßt einen Schlag wie in Block 4 in Tschernobyl, der Deckel fliegt weg - und die Welt steht still. Corona sollte ähnlich einem Kernunfall - nur einem solchen der Soziologie untersucht werden, ich glaube es ist der größte jemals durch das Internet verursachte Kommunikationsunfall. Wir hätten vor 50 Jahren nie erfahren, wenn es eine Erkrankungswelle auch China gegeben hätte, wir hätten sie unwissend überlebt. Ich finde die Vorstellung einer kommunikativ veranstalteten Kernschmelze bis hin zum Wirtschaftskollaps verlockend und surreal zugleich. Das ist das kommunikative Castle Bravo aus dem Baukasten Marke confirmation bias.

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