Es ist erstaunlich, mit welcher Geduld und Disziplin die Bevölkerung die Corona-Maßnahmen der Regierungen von Bund und Ländern bisher hingenommen hat. Das könnte seitens der politisch Verantwortlichen als Indiz für die Zulässigkeit der Maßnahmen verstanden werden. Der bisher ausgebliebene Protest, der fehlende „Aufschrei“, der sonst bei weit geringeren Eingriffen ertönt, könnte aber mit gleichem Recht als Beleg für die unterentwickelte Wertschätzung der grundgesetzlichen Freiheitsrechte im Bewusstsein der Bürger („Untertanen“) erscheinen. Für eine seriöse Betrachtung scheiden beide Ansätze allerdings als zu spekulativ und wenig tragfähig aus.
„Eine nüchterne Erörterung“ der Vereinbarkeit der Corona-Maßnahmen mit dem Grundgesetz hat bereits „Justus Lex“ vor zwei Wochen auf der Achse geliefert. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht der verfassungsmäßige Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er kommt zum überzeugenden Ergebnis: „Bis zum 20. April 2020 sind die Maßnahmen ... zweifelsfrei verhältnismäßig“ und damit auch verfassungsrechtlich zulässig.
Ich möchte mich daher im Folgenden auf die Aspekte konzentrieren, die bisher gar nicht oder zu wenig beachtet wurden. Es handelt sich dabei vornehmlich um folgende Punkte:
- Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in zeitlicher Perspektive
- Die Abwägung der einschlägigen Rechtsgüter
- Das Demokratieprinzip
Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen
Justus Lex hat bereits darauf hingewiesen: „Auf der anderen Seite wäre es völlig unverantwortlich und außerhalb des Ermessensspielraums, wenn der Staat die jetzigen Maßnahmen beispielsweise ein Jahr lang aufrechterhalten würde.“ Und: „Die genaue zeitliche Grenze, ab der man von einem Übermaß bzw. von einer Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinne sprechen könnte, weil sich die Bundesregierung und die Landesregierungen dann erkennbar aus ihrem Ermessen herausbewegen würden, kann niemand exakt ziehen. Bis zum 20. April 2020 sind die Maßnahmen aber zweifelsfrei verhältnismäßig.“
Ich schreibe diese Zeilen exakt am 20. April 2020 und frage mich deshalb, wie die Rechtslage morgen oder übermorgen zu beurteilen sein wird. Denn wirkliche Entwarnung kann nach jetzigem Erkenntnisstand nur gegeben werden, wenn entweder sogenannte Herdenimmunität erreicht ist oder ein Impfstoff/Medikament einsatzbereit ist.
„Damit eine natürliche Immunität entsteht, müssten etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung die Erkrankung – da es noch keine Impfung gibt – durchmachen. Sobald es eine Impfung gegen Corona gibt, kann dieser Herdenschutz auch durch eine entsprechende Durchimpfungsrate erreicht werden.“ Wer Näheres über diesen für die geltenden Maßnahmen grundlegenden Aspekt wissen möchte, höre sich gut vier Minuten die informativen Ausführungen des Wiener Universitätsprofessors Dr. Herwig Kollaritsch zum Herdenschutz und zur Basisreproduktionsrate an. Danach liegt die Basisreproduktionsrate bei Covid-19 zwischen 2,4 und 2,5. Sie müsste deutlich unter 1 gesenkt werden, damit es letztlich zum Erlöschen der Epidemie kommt. Die bisherigen rigiden Maßnahmen haben die Basisreproduktionsrate nach offiziellen Verlautbarungen auf 0,7 gedrückt (Stand 16. April), so dass diese Idealvoraussetzung gegeben wäre. Die entscheidende Frage ist allerdings, was passiert, wenn die Maßnahmen gelockert werden und die Basisreproduktionsrate wieder ansteigt. Dann wären die bisherigen Opfer umsonst gewesen, und die Schrauben müssten wieder angezogen werden. Doch würde sich die Verhältnismäßigkeit jetzt anders darstellen als in der „ersten Runde“, da nunmehr klar wäre, dass die Maßnahmen wesentlich länger durchgehalten werden müssen. Alle Politiker haben sich daher bisher gehütet, verbindliche Aussagen über das Ende der jetzigen rigiden Verbotspolitik zu machen, mögen die jeweiligen Interviewer auch noch so gedrängt haben.
Irgendwann wird allerdings die Frage unvermeidbar sein, was denn passiert, wenn die Lage Maßnahmen erfordert, die weit bis ins nächste Jahr hineinreichen, also etwas „völlig Unverantwortliches“ zu tun.
Eine Gesamtschadensbilanz ist unerlässlich
Es ist daher dringend geboten, endlich alle in Betracht kommenden Auswirkungen zu „bilanzieren“ und dann unter den Augen der Öffentlichkeit gegeneinander abzuwägen. Dazu können hier nur Andeutungen gemacht werden, denn eine derartige Bilanz erfordert das Zusammenwirken von Experten aus allen berührten Bereichen.
Auf der einen Seite steht die Zahl der Toten, die zu erwarten sind, wenn Maßnahmen zurückgefahren werden und die Basisreproduktionsrate wieder ansteigt. Dieser Zahl müssen alle Folgen gegenübergestellt werden, die bei einer Fortsetzung der bisherigen Verbotslinie eintreten werden oder befürchtet werden müssen. Dazu zählen nicht nur die zu erwartenden Pleiten (allein im Hotel- und Gaststättengewerbe sollen diese etwa ein Drittel der Betriebe umfassen: 70.000 von 223.000) und sonstigen wirtschaftlichen Folgen, sondern auch die dadurch verursachten menschlichen Schicksale, einschließlich wahrscheinlicher Selbstmorde und Depressionen. In diese Richtung gingen bisher allenfalls Warnungen vor der Zunahme häuslicher Gewalt gegenüber Kindern und Frauen infolge der erzwungenen Abwesenheit von Beruf, Kindergarten/Kita und Schule bei gleichzeitiger Erhöhung der Stressfaktoren Angst (vor Krankheit und Tod) und Sorge (vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder des Eigenheims wegen Zahlungsunfähigkeit) oder Langeweile. Mögen diese Phänomene auch schwierig abzuschätzen sein, so sind sie doch unzweifelhaft real und schwerwiegend. Schließlich muss auch die erzwungene Vereinsamung alter und kranker Menschen in die Waagschale geworfen werden.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass von „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“ gesprochen wurde, als den Häftlingen der RAF der Kontakt zu Mitgefangenen und der Außenwelt zeitweise untersagt wurde. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht das Kontaktsperre-Gesetz 1978 für verfassungsgemäß erklärt, hat aber durchaus erkannt, dass, „die Kontaktsperre für die Betroffenen in der Regel mit erheblichen Belastungen vor allem in psychischer Hinsicht verbunden“ ist, die vom Staat zu schützenden Sicherheits- und Freiheitsinteressen seiner Bürger jedoch höher bewertet. Im vorliegenden Zusammenhang geht es nicht in erster Linie um die Verfassungsmäßigkeit der getroffenen Maßnahmen, sondern vielmehr um die inhumane Behandlung von Menschen, die sich ohnehin in einer belastenden Situation befinden, und deren Folgen.
Wie wichtig ist das Überleben der freiheitlich-demokratischen Grundordnung?
Diese Sicht könnte noch weiter ausgedehnt werden. Etwa auf die psychischen Folgen des Kontakt- und Lernausfalls für die betroffenen Kinder, deren Zahl ja in die Millionen geht. Wobei die bisher schon „abgehängten“ nun vollends den Anschluss verlieren dürften. Aber auch so wird deutlich: Die Rechtfertigung der getroffenen Maßnahmen allein mit dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ist nur für kurze Zeit tragfähig. Danach müssen alle Konsequenzen zusammengetragen, gegenübergestellt und gewichtet werden. Dabei geht es nicht darum, dass die Regierung „Handlungsfähigkeit“ demonstriert, sondern sich verantwortlich zeigt für die Zukunft der gesamten Gesellschaft. Die Gesundheitsfürsorge kann es schwerlich rechtfertigen, die Wirtschaft eines Landes und das Schicksal einer unbekannten Zahl von Individuen auf unabsehbare Zeit „an die Wand zu fahren“. Dazu gehört auch, dass es Kennzeichen einer Pandemie ist, dass sie Todesopfer fordert.
Justus Lex hat in seine „nüchternen Erörterung“ dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass der „Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit einer funktionierenden Marktwirtschaft ... auf Dauer wichtiger [ist] als das Überleben von einigen tausend Menschen. Denn in Deutschland sterben ohnehin – schon ohne Corona – etwa 900.000 Menschen jedes Jahr“ (das sind mehr als 2.500 täglich, ohne dass davon jemand außer den betroffenen Angehörigen und Freunden Notiz nähme). Wenn die politischen Entscheidungsträger anderer Meinung sind, dann müssen sie das der Bevölkerung klipp und klar erklären, führen doch alle schließlich bei jeder Gelegenheit das Wort „Transparenz“ im Munde.
Frank Furedi, Professor für Soziologie an der University of Kent in Großbritannien, hat kürzlich in einem Achse-Beitrag betont: „Wenn diese [in seinem Artikel geschilderte] dystopische Sichtweise der Zukunft erst einmal in die DNA der Gesellschaft eingedrungen ist, kann es für Regierungen schwierig sein, Maßnahmen zu ergreifen, die der Bedrohung, der unsere Gemeinschaften wirklich ausgesetzt sind, angemessen sind.“
Das Demokratieprinzip
Mögen auch die bisherigen Maßnahmen verhältnismäßig und selbst bei längerer Dauer gerechtfertigt sein, so muss sich die Regierung gleichwohl fragen, ob derart weitreichende Entscheidungen nicht auch einer parlamentarischen Legitimierung bedürfen. Schon bei der Flüchtlingskrise und auch der Griechenlandkrise wurde ja moniert, dass sämtliche Entscheidungen am Parlament vorbei getroffen wurden. Um wie viel mehr muss das hier gelten, wo die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft auf dem Spiel steht.
Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG) gehört zu den fünf Staatsstrukturprinzipien des Grundgesetzes. Während es in politischen Reden und Debatten bei jeder Gelegenheit beschworen wird, ist es in konkreten Entscheidungssituationen weniger sichtbar. Im Alltagsbetrieb mag es durchaus genügen, dass die Exekutive auf ein demokratisch legitimiertes Gesetz, wie hier auf das Infektionsschutzgesetz, als Grundlage ihres Handelns verweisen kann. Aber wie sieht es bei „Schicksalsfragen der Nation“ (Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts) aus?
„Der Bundestag wird vom Volk gewählt und ist der Ort, an dem unterschiedliche Auffassungen über den richtigen politischen Weg formuliert und diskutiert werden. Die wichtigsten Aufgaben des Bundestages sind die Gesetzgebung und die Kontrolle der Regierungsarbeit.“ So steht es auf der Homepage des Deutschen Bundestages, ist also gewissermaßen amtlich. „Er [der Bundestag] ist das entscheidende politische Forum der Nation“ (so der seinerzeitige Bundestagspräsident Norbert Lammert).
Anstatt täglich vor die Kameras und Mikrofone zu treten und wohlklingende Statements abzugeben, sollten die Politiker der Opposition (also der vier Fraktionen von AfD, FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/GRÜNE) endlich von ihren parlamentarischen Befugnissen nach der Geschäftsordnung (Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 GG) Gebrauch machen. Also Anträge oder Große Anfragen einbringen, die nach § 75 Absatz 1 GO als Verhandlungsgegenstand auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden können und somit eine entsprechende Debatte ermöglichen. So könnten zum Beispiel Experten-Hearings oder die Einsetzung einer „Enquete-Kommission“ beantragt werden, um anschließend deren Erkenntnisse und Vorschläge öffentlich zu diskutieren. Die periodischen Erklärungen der Kanzlerin, eines Ministerpräsidenten oder des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts genügen keineswegs den Erfordernissen des Demokratieprinzips.
Teil 1 finden Sie hier.