Wie kann ich ein Nazi sein?

Nach alt-kommunistischer Art schmäht Wladimir Putin seine Gegner als „Nazis“. Der jüdische Präsident der Ukraine fragt, was dieser Unsinn soll. 

Das dritte Jahr seiner Amtszeit dürfte sein schwerstes Jahr sein. Und obwohl die Gefahr eines Angriffs seitens Russland bereits zu seiner Inauguration im Mai 2019 drohte, gab sich Wolodymyr Selenski, Präsident der Ukraine, positiv. Reden wolle man mit Russland, in aller gebotenen Distanz zwar, aber dennoch mit offenem Ohr und offenem Herzen, wie der 44-Jährige betonte. Am 24. Februar 2022 griff Putin die Ukraine als Ganzes an. Der starke Mann vom Kreml rechtfertigte den Einmarsch, er wolle das Land „entnazifizieren“. Ein Land, das mit mehr als 70 Prozent einen Juden zum Präsidenten gewählt hat: Wolodymyr Selenski.

1978 kam Selenski in der Industriemetropole Krywyi Rih in der damals noch sowjetischen Ukraine zur Welt. Der Vater ist ehemaliger Professor für Kybernetik und die Mutter Ingenieurin. Akademiker, die dem jungen Wolodymyr den Blick auf eine offene Welt geschärft haben dürften. Doch sein Weg in die Politik und ins höchste Amt der Ukraine verlief nicht – wie häufig in seinem Heimatland – über die miefenden Seilschaften von Oligarchen, sondern über das Volk. Selenski war Schauspieler und ein in der Ukraine sehr bekannter Darsteller noch dazu. So spielte er in „Diener des Volkes“, einer Art Sitcom, den Premierminister selbst. Eine Rolle, die Wirklichkeit wurde.

Putins Lippenbekenntnisse

Im Wahlkampf setzte er ganz auf seine Authentizität und sein Selbstbewusstsein: „Ich bin eine absolut unabhängige Person. Ich möchte niemanden beleidigen, aber derjenige, der mich kontrollieren wird, ist noch nicht geboren.“ Doch ganz ohne Oligarchen kam auch Selenski nicht aus. Einer der reichsten Ukrainer, Ihor Kolomojski, unterstützt den jungen Selenski. Beide setzten auf Bürokratieabbau, Toleranz auch gegenüber Homosexuellen und Offenheit, was andere gesellschaftliche Themen anging.

Kurz nach dem Amtsantritt 2019 traf sich Selenski im sogenannten Normandie-Format mit Merkel, Putin und Macron im Élysée-Palast. Es wurde der Austausch von Gefangenen beschlossen, sowie ein Waffenstillstand in der Ostukraine. Ferner wurde ein „Bekenntnis formuliert“, wonach Luhansk und Donezk einen Sonderstatus erhielten, um dort Wahlen unter OSZE-Beobachtung durchzuführen. Als am 21. Februar 2022 Putin beide Regionen als russisch anerkannte, war klar: Es konnte sich nur um Lippenbekenntnisse gehandelt haben.

„Sagt das meinem Großvater!“

Nun spricht ausgerechnet dieser russische Präsident von „Entnazifizierung“. Dieser Putin, der mit einem Angriffskrieg selbst Nazi-Methoden anwendet. Dieser Putin, der lügt und betrügt, um einen längst vergessen geglaubten Sowjet-Imperialismus wieder aufleben zu lassen und damit seinem Land und seiner Bevölkerung massiv schadet.

Selenski wandte sich am 22. Februar 2022 mit einer emotionalen Rede, die er auf Russisch hielt, gegen die Unterstellung: „Man sagt Ihnen, wir seien Nazis, aber wie kann ein Volk Nazis unterstützen, das mehr als acht Millionen Menschenleben für den Sieg über den Nationalsozialismus geopfert hat? Wie kann ich ein Nazi sein? Sagt das meinem Großvater, der im Krieg als Infanterist der Sowjetarmee gekämpft hat und als Oberst in der unabhängigen Ukraine gestorben ist!“

„Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben“

Putin konnte nur deswegen so weit gehen, weil man ihn so weit hat gehen lassen. Ein US-Präsident, der müde ist und bereits nach einem Jahr im Spätherbst seiner Amtszeit angekommen zu sein scheint, ist nicht hilfreich. Eine deutsche Regierung, die als Hilfe allen Ernstes Helme in die Ukraine geschickt hatte – vermutlich das Einzige, was noch in der Bundeswehr funktioniert –, ist ebenfalls keine Hilfe. Die Ukraine war und ist auf sich allein gestellt. Selenski wusste das immer.

Putin jedoch vergeht sich militärisch und moralisch. In dem Versuch des russischen Präsidenten, den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine mit einem fiktiven „Völkermord“ zu rechtfertigen, verharmlost er tatsächliche Völkermorde. In seinem Propaganda-Wahn lässt Putin auch die letzte Maske fallen, Pietät und innere Hygiene sind für den ehemaligen KGB-Spion Fremdwörter.

Und so kann man nur hoffen, dass der Geist der ukrainischen Nationalhymne auch heute noch seine Gültigkeit entfaltet:

„Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben, noch wird uns lächeln, junge Brüder, das Schicksal. Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne, und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein. Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit, und bezeugen, dass unsere Herkunft die Kosakenbrüderschaft ist.“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Neomarius.

Foto: President.gov.ua CC BY 4.0 via Wikimedia Commons

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Frances Johnson / 25.02.2022

“But the opposition, Rabbi Shmuel Kaminezki said, did not come from the Orthodox Church, a bastion of anti-Semitism in the past, or from a Ukrainian nationalist movement that collaborated with the Nazis during Hitler’s invasion of the Soviet Union. They could not seem to care less that Mr. Zelensky was a Jew, the rabbi recalled. Instead, the hostility came from Mr. Zelensky’s fellow Jews, both secular and religious, for whom painful memories of czarist-era pogroms and the Holocaust are still very much alive.” NYT, April, 2019: “Ukraine’s Newly Elected President Is Jewish. So Is Its Prime Minister. Not All Jews There Are Pleased.” Have fun reading. Best he grab his coat.

Arne Ausländer / 25.02.2022

Putin - wie übrigens auch Erdogan - ist in der Wahl der Beschimpfungen pragmatisch und scheut keine noch so irrsinnigen Widersprüche. “Nazi” wirkt immer, wie wir es ja auch in Deutschland besonders seit der Diffamierung der Coronaproteste dauernd erleben.—Als ich vor Jahren (schon zu Putin-Zeiten immerhin) in Moskau im Zug nach Warschau saß, verabschiedeten auf dem Bahnsteig dicke russische Skinheads ihre polnischen “Kameraden” mit “Sieg Heil!”. Letztere trugen schwarze, SS-Uniformen nachempfundene Kleidung. Welch ein Schwachsinn! Und nein, das war kein extremer Einzelfall. Oft hörte ich in Rußland, wie Hitler mystifizierend gerechtfertigt wurde. Bei einem sibirischen Rockfestival sagte mir ein Burjate, Freunde von ihm würden sich sehr für Deutschland interessieren. Die saßen in einem Tipi - und trugen stolz diverse deutsche Weltkriegsutensilien…—Von den amtlichen Beschimpfungen und bezahlten Darstellern abgesehen, sehe ich Sympathisanten von Rechtsextremismus in Osteuropa ähnlich wie (nicht organisierte) Stalinisten im Westen: beide sehen nicht den tödlichen Ernst dieser Ideologien, glauben den falschen Versprechungen. Im persönlichen Gespräch sind sie meistens normale nette Leute - was mich recht ratlos macht. Aber nicht ängstlich. Gewaltherrschaft kommt immer von schon Mächtigen, erst dann werden die Irrungen der kleinen Leute gefährlich.—Abschließend zur aktuellen Krise: In der Ukraine gibt es kein Nazi-Problem! Anders als - staatlich gefördert und finanziert - 1990-1993 in Ostdeutschland. Beide Einschätzungen stützen sich auf meine eigenen Alltagsimpressionen und Analysen.

Detlef Fiedler / 25.02.2022

“Ferner wurde ein „Bekenntnis formuliert“, wonach Luhansk und Donezk einen Sonderstatus erhielten, um dort Wahlen unter OSZE-Beobachtung durchzuführen”. Der Inhalt dieses Bekenntnisses war ja bereits zuvor, als völkerrechtsverbindlich in Minsk I (2015), festgenagelt worden. Die Regierung Selinski ist der rechtmässige Nachfolger der damaligen Regierung. Haben Sie da irgendwelche Erkenntnisse, werter Herr Plutz, inwiefern die Punkte von Minsk I (bzw. II) von Herrn Selenski respektive seiner Regierung umgesetzt worden sind und was die Deutsche Politik seit 2015 unternommen hatte, um der Umsetzung dieser vertraglichen Vereinbarungen durch Kiew Nachdruck zu verleihen? Die freien Wahlen unter OSZE-Bebachtung in Luhansk und Donezk abzuhalten, war demach ja Selenskis Job, nicht der von Putin.

Stefan Riedel / 25.02.2022

“Der jüdische Präsident der Ukraine fragt, was dieser Unsinn soll.” Propaganda, Propaganda! Joseph Goebbels eben. Wer sind hier die Nazis?

Klaus Keller / 25.02.2022

Zitat: Seit Wochen nehmen ukrainische Zivilisten in ihrer Freizeit an militärischen Trainings teil, um – wie sie meinen – Russland abzuschrecken und für den Ernstfall vorbereitet zu sein. Darüber gab es in der westlichen Presse schon etliche Berichte. Zitat aus einer Tschechischen Reportage: Die Zugehörigkeit des Paramilitärs zu der faschistischen Formation des Regiments Asow ist in der Fotostrecke gut an dem Abzeichen erkennbar, das er auf dem Ärmel trägt. Nicht nur der Schriftzug “Asow” ist sichtbar, sondern auch die sogenannte “Wolfsangel”, die der Verband von einer Division der Waffen-SS übernommen hat. Zitat Ende - Vermutlich ist das gemeint. Wessen Interessen der Präsident vertritt, kann ich nicht sagen. Auf mich wirkt der ehemalige Schauspieler wie eine Marionette.

Theodore Joyeux / 25.02.2022

ES REICHT ! Lenken Sie doch nicht von dem Perversen Dreck in Deutschland ab! Dies soll auch nur davon innenpolitisch in Deutschland ablenken, dass die tatsächliche zivilisatorische Verwahrlosung in der deutschen Gesellschaft, den beiden Kirchen und in der Politik einen Grad erreicht hat, der nicht mehr umkehrbar ist. Vielleicht hilft hier in der Mitte Europa auch nur noch ein Krieg weiter, um diese Perversen in allen gesellschaftlichen Führungsstrukturen niederzuringen. Allen voran:  Die Katholische Kindermißbrauchssekte mit allen ihren Mitgliedern gilt es dabei unter die Lupe der seit über Jahrzehnten anhaltenden Verbrechen zu nehmen und ihre Perversitäten zu beenden. 118 Tatvorwürfe wegen sexuellen Kindesmissbrauchs umfasst die Anklage gegen einen katholischen Priester in Köln. Im Missbrauchsprozess gegen einen katholischen Priester vor dem Landgericht Köln wird das Urteil gesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat 13 Jahre Haft gegen ihn gefordert, die Verteidigung maximal acht Jahre. Dem heute 70-Jährigen werden 118 Tatvorwürfe zur Last gelegt. So soll er über viele Jahre hinweg Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Das jüngste Opfer war demnach ein neun Jahre altes Mädchen. Der Priester zwang Kinder laut Anklage zum Geschlechtsverkehr, zu Oralsex und zu vielen anderen sexuellen Handlungen. Während des Prozesses hatten sich weitere Opfer gemeldet, woraufhin die Anklage erweitert wurde und der Priester in Haft kam. Das Gericht sah Wiederholungsgefahr. In dem seit November laufenden Prozess wurde deutlich, dass der Priester stets ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis auszunutzen verstand. Er missbrauchte den Zeugenaussagen zufolge zum Beispiel ein Mädchen, das in einer Ferienfreizeit Heimweh hatte. In einem anderen Fall erweckte er den Eindruck, sich um die Tochter einer alkoholkranken Mutter kümmern zu wollen. Als Krankenhausseelsorger wiederum baute er zu einer Familie ein besonderes Vertrauensverhältnis auf. In einem Fall schloss der

U. Unger / 25.02.2022

Kriegsrhetorik war noch nie logisch!

Frances Johnson / 25.02.2022

Es spielt keine Rolle, ob ein Präsident Christ, Atheist, Jude, Moslem oder Fahrradfahrer ist. Was eine Rolle spielen sollte, ist Qualifikation. Hierfür musste man in früheren Zeiten mal in seiner Armee an höherer Stelle gedient haben. Vielleicht würde heute auch reichen, eine Weile in einem verantwortungsvollen Beruf unterwegs gewesen zu sein. Jude ist keine Qualifikation, sondern eine Religionszugehörigkeit. Man kann auch nett und hübsch sein, aber intellektuell nicht zu einem Ministeramt, geschweige denn Außenamt, taugen. Es ist die Tendenz bei uns im Westen, Ämter mit Charisma zu besetzen, und daran wird die Demokratie mit ihren - ach so freien, von Medien charismatisch begleiteten - Wahlen scheitern. Ein Staat ist nicht Hollywood, auch wenn Hollywood mit seinen hohlen Nüssen längst mitregiert.

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