Einer der Vorteile eines selbst und ständig unternehmenden Unternehmers ist die Freiheit, spontan zum Unterlasser zu mutieren, während die Angestellten brav ihrem Broterwerb nachgehen. Daher habe ich in einem spontanen Anflug von Dekadenz beschlossen, meine Sekretärin alleine meinem Broterwerb nachzugehen zu lassen und einen Kaffee auf der Fußgängerzone des Schtetls zu trinken.
Ich liebe das „Crépes de Paris“, weil es eben so schön in der Fußgängerzone liegt und neben Crepés auch Pfannkuchen und Kaffee serviert und weil ich da, je nach Bedarf, in der Sonne oder im Schatten sitzen und zu meinem Heißgetränk einen Zigarillo rauchen und die Vorbeigehenden beobachten kann. Gelegentlich treffe ich auch irgendeinen Bekannten oder Kunden, der sich dann mit den Worten: „Na, haste nix zu schaffe?“, nach dem Konjunkturstand meiner Unternehmung erkundigt. Meist antworte ich dann mit einem fröhlichen: „Nein, ich bin reich und hab’s hinter mir“, zurück und dann plaudern wir ein wenig.
Also stehe ich gestern vor dem Pariser Krepp-Laden, dessen Außenbereich mit rot-weiß gestreiftem Trasseband abgesperrt ist. Wie bei einer Kanalbaustelle oder einem Polizeitatort. In einer Lücke der Absperrung steht ein kontaktloses Desinfektionsgerät und auf einem kleinen Tisch liegt eine Art Gästebuch mit Kugelschreiber, daneben ein Handsprüher für die in Plastik gebundene Speisenkarte. „LIEBE GÄSTE“, spricht mich ein Plakat in GROSSBUCHSTABEN an, „bitte tragen Sie einen Mundschutz und warten Sie, bis Ihnen unsere Servicemitarbeiterin einen Platz zuweist“.
Wir müssen uns alle den Kriegsgesetzen fügen
Zur Erinnerung, falls Sie ein schwaches Gedächtnis haben oder nur oberflächlich lesen: Wir befinden uns mitten in einer Fußgängerzone. Vor mir, hinter mir, neben mir und diagonal von mir befinden sich jede Menge Fußgänger. Alte, Junge, Kinder, Hausfrauen, Grün-Wählende, Hunde, die Menschen hinter sich herzerren und kleine Menschen, die von ihren Verziehungsberechtigten hinter sich hergezerrt werden. Keiner von denen trägt einen Mundschutz. Wir sind im Freien. Sie rennen, laufen, hasten, schlendern und gelegentlich kurvt ein Fahrradfahrer um sie alle herum, weil er seine Mitbenutzer der Zone als sich langsam bewegende menschliche Slalomstangen betrachtet.
Der freie Platz, um den es in dem gut gefüllten Trassebandrechteck geht, ist keine fünf Meter entfernt. Ein schöner, netter Platz mit zwei Stühlen, um den das Crepés-Haus – diesmal mit schwarz-gelbem Band – ein Quadrat geklebt hat. Was diesem und den anderen Plätzen den Charakter eines Sitzplatzes auf der Luke eines Raketensilos verleiht. Egal. Es ist Corona-Zeit, wir müssen uns alle den Kriegsgesetzen fügen. Ich setze also brav meinen Spuckschutz auf und warte, dass mich die Servicemitarbeiterin sieht und mir den einen verbliebenen Platz zuweist. Und warte. Und warte.
Die Servicemitarbeiterin hat mehr zu tun als die Lenzpumpen auf der Titanic, knapp zwanzig Leute sitzen ja auch bereits und wollen becrept und bekaffeet werden, und ich gehe davon aus, dass Sie mich gesehen hat. Ich muss nur warten. Früher, in den goldenen Zeiten vor 12 Monaten, ich erinnere mich, als wäre es letztes Jahr gewesen, wäre ich einfach zu jenem Platz gegangen, hätte mich niedergelassen und mit Handy und Zigarillo meinem Kaffee geharrt und dabei gut ausgesehen. Herum. Aus. Vorbei. Wir alle müssen rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst agieren, immerhin hatten wir, wahrscheinlich wegen der hirnlosen Anti-Corona-Demo vor 14 Tagen, in der letzten Woche 1 Corona-Neuerkrankung in der Stadt. Damit darf man nicht spaßen, und es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sich in meinem Crepés-Café die andere Corona-Neuerkrankung befindet, die noch gar nichts von ihrem Glück weiß, ein Virenschiff des Todes zu sein und im Moment so vor sich hin superspreadet, während ich mit sicheren fünf Metern Abstand von meinem Platz getrennt bin.
So etwas endet ja ruckzuck in einer Anarchie
Und ich warte. Vom Grunde her wäre es kein Problem: Fünf Meter schaffe ich, mit etwas Glück in allerhöchstens zehn Schritten. Ich wäre quasi „in Husch“ am Platz und könnte dann den blöden Mundschutz abnehmen, weil das am Platz ja erlaubt ist und ich dann nur in einem Radius von 150 Zentimetern vor mich hin aerosole. Zumindest, so lange die Amerikaner nicht die Interkontinentalrakete unter meinem Tisch abfeuern. Ich könnte das machen und das Rebellengen in mir ist sehr aufwallend in Versuchung.
Aber ach … Zuerst schreit mich dann wahrscheinlich ein Gast an, warum ich ihn so gefährde und dann die schwitzende Servicemitarbeiterin, warum ich nicht vorschriftsmäßig gewartet habe, bis sie mir den einen Platz zuweist. Das wäre dann schon auch irgendwie eine Missachtung ihrer Person, und mit etwas Pech hätte sie nicht nur Menstruations-, sondern auch noch einen Migrationshinter- oder Vorder- oder Hauptgrund, und dann würde ich mich quasi, ohne es zu wollen, als sexistischer Rassist oder rassistischer Sexist outen. Ich meine, wir leben in hochsensiblen Zeiten, wenn da jeder sich einfach einen Sitzplatz nimmt, ja wo kommen wir da hin? So etwas endet ja ruckzuck in einer Anarchie, und gerade ich als alter weißer Mann will das nicht, ich mag meinen Diesel und habe kein Interesse daran, diese Gesellschaft in einen tobenden Mob abrutschen zu sehen, der dann mit Fackeln und Forken vor meinem Haus steht und „Schneiderschneider, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ skandiert. Das wäre mir nix!
Außerdem weiß ich es ja nicht! Vielleicht wird der verdammte Crepés-Laden bereits aus irgendeiner finsteren Ecke von Ordnungsamtmitarbeitern beobachtet und wenn ich dann da unangewiesen 'reinrenne, dann müssen sowohl der Wirt als auch ich eine drakonische Strafe hinblättern, und ich kann die Raten vom Haus nicht bezahlen und gehe in die Insolvenz, da hätte ich zwar schön Zeit zum Kaffeetrinken, aber dann weder das passende Geld noch das passende Café dazu, weil die Schergen des Sheriffs ja auch den Wirt drakonisch bestrafen würden, der dann ja ebenfalls Insolvenz anmeldet und dann käme in das hübsche Straßencafé ein Handy-Laden, aber ich habe ja bereits ein Handy und brauche kein Zweithandy. Andererseits sind es wirklich nur fünf Meter und ich könnte meine Visitenkarte am Platz liegenlassen, dann kann mich der Kreppkamerad auch anrufen, falls er doch versehentlich den anderen Superspritzer im Lokal hatte und alle wären zufrieden. Ich hätte meinen Platz, meinen Kaffee mit Corona und der Staat einen Schuldigen.
Jetzt trinkt der Polohemdmann meinen Kaffee
Es könnte natürlich auch sein, dass die Servicemitarbeiterin mit den Worten „Moment, ich muss erst die Laserstrahlen ausschalten“ auf mich zukommt und mir so das Leben rettet, weil ich ansonsten durchlöchert werde, weil ich zu ungeduldig war, und mein Großvater war immerhin beim Feldersatz in Norwegen, als die Deutschen da einmarschiert sind, ich meine, DAS waren Probleme und nicht das Warten mit einem Mundschutz und einer beschlagenen Brille vor einem blöden Straßencafé, das muss man ja auch mal ins Verhältnis setzen. Wer will schon nach Norwegen? Erst recht mit einem Truppentransporter?
Und während ich, in meine Gedanken versunken, brav und doof mit meinem Mundschutz vor dem Laden stehe, taucht ein Gleichaltriger ohne textilen Spucknapf, dafür aber mit Glatze und einem Polohemd, auf dem groß die Ziffer „19“ steht, zuerst auf und dann direkt neben dem freien Platz unter dem Trasseband durch und setzt sich. Husch. Auf den letzten verbliebenen Platz. Auf meinen Platz. Den ich mir mit deutscher Disziplin, Tugend und Gesetzestreue eigentlich reserviert hatte.
Um mich herum hasten die Menschen. Ohne Mundschutz. Sie zerren Kinder hinter sich her und werden von ihren Hunden gezerrt. Sie haben keine Angst. Sie verhalten sich gesetzeskonform. Wie ich. Weil ich ein Depp bin. Deswegen trinkt jetzt der Polohemdmann meinen Kaffee. Herzlichen Dank, Herr Söder.
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