Thilo Sarrazin / 23.10.2021 / 06:15 / Foto: Achgut.com / 138 / Seite ausdrucken

Wie ein Traum aus besseren Tagen

Bei der SPD stand im Bundestagswahlkampf ein halbes Jahr lang nur einer vorne, nämlich der Spitzenkandidat Olaf Scholz. Der Rest, einschließlich der beiden Parteivorsitzenden, hielt einfach die Klappe oder sagte genau dasselbe wie der Kanzlerkandidat, und das über den gesamten Wahlkampf hinweg. Das war langweilig, aber es wirkte sehr verlässlich.

Als Kanzlerkandidat leistete sich Olaf Scholz keine einzige verrutschte Formulierung, keinen Stolperer und keinen Fehltritt. Auf viele wirkte er so wie eine männliche Ausgabe der vertrauten Angela Merkel. Im Unterschied zur grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erweckte Olaf Scholz auch nicht den Eindruck, mehr scheinen zu wollen als er ist. Das schuf Vertrauen und begrenzte die Neigung vieler Bürger, grün zu wählen.

Aber Scholz hätte nicht gewinnen können ohne seinen besten Verbündeten. Der hieß Markus Söder und wäre selbst gern Kanzlerkandidat der Union geworden. Als es im April 2021 – nur fünf Monate vor der Wahl – endgültig gegen ihn lief, war er unfähig, sich selbst in eine ausreichende Disziplin zu nehmen und stänkerte praktisch bis zum Wahltag offen und verdeckt gegen den gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Unionsparteien.

Söder: Charakterlich ungeeignet

Schlimmer noch, in der CSU, aber auch der CDU, stänkerten viele mit ihm mit. Das wäre für die Erfolgschancen Armin Laschets selbst dann eine schwere Bürde gewesen, wenn sein Wahlkampf ansonsten fehlerfrei gelaufen wäre. Immerhin hat Söder damit aller Welt gezeigt, dass er für das Kanzleramt charakterlich nicht geeignet ist. Das wird auch bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 nicht in Vergessenheit geraten.

Frühzeitig beging Armin Laschet, und mit ihm die gesamte Kampagne der Union, einen schweren Fehler. Er wollte sich als der natürliche Erbe Angela Merkels präsentieren und sich unter Vermeidung aller größeren Konflikte mehr oder weniger in das von ihr gemachte Nest setzen. So fehlte es seiner Wahlkampagne zunächst schlichtweg an Feinden: Die SPD hatte ja Merkels Politik 12 Jahre lang treu begleitet. Die Grünen schienen wiederum mit ihrer Klimawende die Kraft der Zukunft zu sein, die man mit Streicheleinheiten zähmen, aber nicht inhaltlich hart bekämpfen wollte. Die FDP galt als Fleisch vom eigenen Fleische und musste deshalb geschont werden.

Die zahlreichen ehemaligen Unions-Wähler dagegen, die zur AfD abtrünnig geworden waren, fühlten sich durch deren fortgesetzte Schmähung gekränkt und dachten nicht an Rückkehr. Die spät im Unions-Wahlkampf vorgenommene Wiederauflage der uralten Rote-Socken-Kampagne drückte immerhin die Linkspartei unter 5 Prozent und verhinderte deren Teilnahme am Koalitions-Poker. Dafür kann Scholz Laschet dankbar sein.

Laschet: Ein unbeschriebenes Blatt

Für die meisten Wähler war Armin Laschet ein unbeschriebenes Blatt – ein Mann aus der Provinz, der plötzlich in Berlin auftauchte, dessen Worte nicht im Gedächtnis blieben und dessen gelegentliche Tollpatschigkeit zum Spott anregte. Als Nachlassverwalter für Merkels Erbe wirkte Olaf Scholz glaubwürdiger. Als Antreiber und Erneuerer wirkten – jeweils für ihre Klientel – die FDP und die Grünen glaubwürdiger. So gesehen, gab es streng genommen überhaupt keinem Grund, die Union zu wählen, außer man folgte der Macht der Gewohnheit. 

Die schockierenden 24,1 Prozent der Wählerstimmen, die die Union letztlich erhielt, wirken gegenwärtig, vier Wochen nach der Wahl, wie ein Traum aus besseren Tagen, denn aktuell steht die Union in allen Umfragen bei 20 Prozent. Durch die anhaltende Selbstzerfleischung der Union wird die FDP förmlich in die Arme von SPD und Grünen getrieben, und bänglich muss der bürgerliche Wähler darauf hoffen, dass die FDP in den Koalitionsverhandlungen ausreichend Zähne zeigt und ihn vor Steuererhöhungen und allerlei Experimenten schützt. Sicher ist das nicht.

Die Union muss sich in den kommenden Oppositionsjahren darüber Gedanken machen, wofür sie eigentlich stehen will. Die deutsche Politik geht in eine Phase schwerer Herausforderungen und kaum auflösbarer Widersprüche. Das gilt insbesondere für die Konsequenzen aus der geplanten Energie- und Klimawende.

Wenn eigene Ideen und Konzepte fehlen, wird es allerdings kaum ausreichen, die Regierung zu kritisieren. In nahezu allen politisch wesentlichen Bereichen – Bildung, Migration, Familie, Umwelt, Wirtschaft, Finanzen – hat die Union in den 16 Merkel-Jahren ihr eigenes Profil weitgehend aufgegeben, und das Personal, welches diese Lücke politisch wie konzeptionell füllen könnte, ist gegenwärtig noch nicht sichtbar.

Daneben gibt es rein machtpolitisch zwei Hausaufgaben zu erledigen, die für die Zukunft der Union entscheidend sind: (1) Man muss eine Unionspartei schaffen, die Sonderrolle der CSU hat sich historisch überlebt. (2) Man muss die zur AfD abgewanderten Wähler wieder zurückgewinnen, oder man muss bereit sein, mit der AfD Koalitionen einzugehen. Andernfalls wird die Union auf unabsehbare Zeit eine Geisel linker Parteien ohne die Möglichkeit zu einer eigenen Mehrheit sein.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

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Walter Haller / 23.10.2021

Ich finde diese Analyse zutreffend und punktgenau.

Jochen Brühl / 23.10.2021

Bevor die Union die AFD-Wähler zurückgewinnen kann, muss sie erst einmal (in der Opposition) den Beweis antreten, dass sie es wert ist, die 24,1 % der Wählerschaft vertreten zu dürfen, die sie völlig abseits jeglichen Merkelismusses bei der letzten Wahl dazu gebracht hat, sie zu wählen. Nur sehr wenige von denen hat für eine Merkelpolitik gestanden (die ja nicht mehr antrat), es sei den, sie hießen Marco Wanderwitz, Karin Prien oder Peter Tauber. Da Merkel ihren Stimmzettel im Gegensatz von Laschet richtig gefaltet hatte, wissen wir nicht einmal, ob sie die CDU und Laschet gewählt hat. Ihr Stimmzettel hätte mich da schon wesentlich mehr interessiert als Laschets. Sollte die CDU nicht all die Dinge verhindern, für die die Ampel eine GG-Änderung benötigt, ist sie keine 24,1 und keine 20 Prozent wert, sondern einfach entbehrlich. Auch die Verhinderung einer gemeinsamen Abstimmung mit der AFD ändert an diesem Befund nichts. Der Kindergarten muss endlich aufhören, wonach eine richtige Stimme dadurch zu einer falschen Stimmabgabe werden soll, weil der vermeintlich Falsche gleich abgestimmt hat. Und Entscheidungen sind schon gar nicht rückgängig zu machen. Die CDU muss jetzt die Seite nicht nur formal wechseln, sondern geistig und inhaltlich. Wenn sie das nicht kann, wird es sie hoffentlich nicht mehr länger geben, da dann Ausgaben für so etwas einfach nicht mehr gerechtfertigt wären.

Stanley Milgram / 23.10.2021

So, was ändert ich jetzt? Nichts. Wir werden unterdrückt, die Bullen schlagen uns zusammen, die Gerichte verurteilen uns ( 180 Tagessätze!), wir haben verloren! Der Faschismus ist zurück. Egal, ob mit Merkel oder Scholz. Doch gönne ich es euch… ihr verfluchten Mitläufer!

Rainer Hanisch / 23.10.2021

“Das wird auch bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 nicht in Vergessenheit geraten.” Ach, Herr Sarrazzin, die Wähler haben ein sehr kurzes Gedächtnis! Das langt nie bis 2025. Diesem Irrglauben sind schon viele Bundesbürger aufgesessen und haben gehofft, dass sich die Wähler an das eine oder andere erinnern und ihre Stimmabgabe entsprechend gestalten. Absolute Fehlanzeige, wie 16 Jahre Merkel-Diktatur beweisen. Die zur AfD Abgewanderten wird die Union wohl abschreiben können. statt dessen sollte sie sich mit einer Koalition mit deer AfD anfreunden. Die gehirngewaschenen “Wähler” werden es zwar nicht begreifen und fleißig die üblichen Hetzparolen herumbrüllen - aber sei es denn! Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit beider Parteien könnte der AfD gewiss von Nutzen sein, was ihre Parteientätigkeit betrifft. Da besteht tatsächlich noch sehr viel Handlungsbedarf. Allerdings haben die sogenannten “Volksparteien” auch etliche Fehler begangen. Man denke nur an die “Strömungen” innerhalb der SPD und deren “Flügel” bzw. Ableger mit anderen Namen und Inhalten. Nur erinnert sich daran keiner mehr.

Roland Müller / 23.10.2021

Was sind das für Wähler, die sich von billigen durchsichtigen Kampagnen beeinflussen lassen? Es ist einfach nur traurig, zu sehen, wie das Bildungssystem auf der ganzen Linie versagt.

Steffen Huebner / 23.10.2021

Es ist aus. Die alte CDU/ CSU kann sich nicht mit den alten Kadern “erneuern”. Wie soll das denn mit der ganzen alten Merkel- Blase, von Brinkhaus über Ziemiak und Spahn bis Söder passieren? Denen glaubt doch kein Wähler und weg vom Futtertrog will aber auch keiner von denen.  Nee nee… die wählen hier viele aus Dunkeldeutschland mit Gedächtnis nie wieder. Bleibt nur der Untergang und hoffentlich bald.

Chris Kuhn / 23.10.2021

Ich schrieb es schon mehrmals: Laschets historische Leistung war es, einen Kanzler Söder verhindert zu haben, der sich nun in Bayern heruntermerkeln kann.

Dirk Jungnickel / 23.10.2021

Ob sich Scholz die Mahnungen und Ratschläge seines Ex - Genossen hinter die Ohren schreibt oder sie weggrinst wie Manches andere, bleibe dahin gestellt. Seine Rautenkopie ist wie ein Menetekel. Was auf der Achse bisher noch nicht gründlich analysiert wurde: Warum die Erleuchtete bei ihren Abschiedsbesuchen quasi als Übermutter der EU gefeiert wurde und die Gazetten Europas sie fast mit Lorbeerkränzen erstickt haben, ist vor allem einer Tatsache geschuldet: Merkels Außenpolititik zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie Deutschland immer hinten an stellte. Dafür schulden ihr die EU - Staaten natürlich Dank. (Als einzig Positives wäre zu vermerken, dass sie sich den Kreml - Obristen weitgehend von Halse zu halten wußte.)

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