Wie ein Bär im Kreis laufen

Zwei Jahrzehnte lang lebte sie in Gefangenschaft. Wenn man Braunbär ist mit einer Lebenserwartung von etwa 25 Jahren, dann sind zwei Jahrzehnte der größte Teil des Lebens. Zwei Jahrzehnte lebte die Braunbärin in einem rumänischen Zoo, und sie lebte in einem Käfig, der wahrscheinlich kleiner als Ihr Wohnzimmer ist und nur wenig größer als ein gewöhnliches Bad (hier gibt es ein Foto).

Zwei Jahrzehnte lang lief sie auf dem engen Betonring ihres brutal kleinen Käfigs im Kreis herum. (Es erinnert uns an Rilkes Panther, den ich im Essay „Bleibt wütend!“ besprach.) 2018 wurde die Bärin endlich aus dem Zoo von Piatra Neamț (Kreuzburg an der Bistritz) befreit. (Auf der bekannten Reisebericht-Website Tripadvisor nennt ein Reisender jenen Ort den „traurigsten Zoo der Welt“, mehrere Reisende empfehlen die sofortige Schließung. Die Bärin wurde in einer speziellen Pflegeeinrichtung mit ihrer Schwester zusammengebracht, wo sie sich in einem geschützten Wald bewegen konnte und doch von qualifizierten Tierpflegern versorgt wurde.

Jedoch, was tat die alte Bärendame, als sie in eine geschützte Freiheit entlassen wurde, die sie gar nicht kannte? Die Bärin lief weiter im Kreis. Bei Zenger News findet sich ein Foto, bei YouTube via Digi24HD (circa ab Sekunde 13, rumänisch) auch die Videoaufnahmen des Tieres.

Wären wir denn überhaupt noch in der Lage, wirklich frei zu sein?

Um eine bekannte Redeweise neu und hier sehr treffend anzuwenden: Die Bärin blieb gefangen, obgleich sie in Freiheit war. Man hatte die Bärin aus dem Gefängnis zu holen vermocht, jedoch nicht das Gefängnis aus der Bärenseele.

Kinder, die beim Spielen draußen immer Ausschau halten, ob sie nicht von der Polizei vom Schlittenhügel gescheucht werden – Kinder, die sich morgens ganz automatisch ihr Gesicht verstecken wie der Beduine im Sandsturm – und bald: Kinder, die ganz nebenbei ausgefragt werden, ob die Eltern sich gestern Abend nicht verbotenerweise daheim mit den Nachbarn getroffen haben – werden diese Kinder überhaupt zur Freiheit in der Lage sein?

Sie und mich, liebe Leser, sträubt es ja jeden Tag, die Maske aufsetzen zu müssen. Ich zähle nicht mehr mit. Aber auch wir Erwachsenen, die wir inzwischen dann doch gelernt haben, uns im Zweifelsfall auf die Zunge zu beißen, bis es nach Blut schmeckt, bevor wir eine „falsche Meinung“ zu sagen riskieren, wären wir denn noch überhaupt in der Lage, wirklich frei zu sein, wenn man uns die Freiheit anböte?

Der Mensch ist das Tier, das in sich die Möglichkeit trägt, weit mehr als nur Tier zu sein. Ein Skorpion wird immer ein Skorpion sein, und bekanntlich will er sich auch nicht ändern. Ein Hund – richtigerweise „des Menschen bester Freund“ genannt – kann bestenfalls versuchen, ein sehr guter Hund zu sein.

Ein Mensch aber, und das unterscheidet ihn vom Tier, kann sich selbst befehlen, ein ganz anderer Mensch zu sein. Genauer: Der Mensch kann es können. Es ist im Menschen angelegt, sich selbst etwas befehlen zu können. Der Feigling kann sich selbst befehlen, mutig zu sein. Ein Fauler kann sich selbst befehlen, fleißig zu sein. Und einer, der im Kopf unfrei ist, kann sich selbst befehlen, frei zu sein – das unterscheidet den Menschen von jener traurigen Bärin.

(Der Mensch ist ja, so die Bibel, zum Abbild Gottes geschaffen, und ist es nicht in vielen Religionen ein Kennzeichen der Götter, in mancherlei Gestalt aufzutreten?)

Gerade weil die Fäden, die man um unsere Fußknöchel, Armgelenke und um unsere Gedanken legt, so viele werden, dass sie bald zu Seilen werden, gerade weil wir eine neue und doch uralte Unfreiheit zu schmecken beginnen, gerade deshalb ist es uns aufgetragen, nicht zu vergessen, wie sich die Freiheit einst auf unserer Haut anfühlte.

Solange der Bär sich erinnert, wie es ist, nicht nur im Kreis zu laufen, solange ist seine Freiheit noch nicht ganz erloschen, solange ist er, zumindest in der Seele, noch ein wenig frei. „Wer sich nicht bewegt“, so heißt es, „der spürt seine Fesseln nicht.“ Ich sagte letztes Jahr: „Bewegt euch!“ Ich sage wieder: „Bewegt euch!“ Und jammert dabei nicht: „Ich bewege mich, obwohl es weh tut!“, sondern erklärt stolz: „Ich bewege mich, damit die Fesseln weh tun! Solange die Fesseln mich noch schmerzen, solange habe ich nicht vergessen, was Freiheit ist.“

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Dushan Wegner.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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Leserpost

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Frances Johnson / 05.02.2021

Das ist ein sehr berührendes Stück, danke.

Peter Thomas / 05.02.2021

Werter armin wacker, Ihrem Kommentar entnehme ich, daß Sie sich für einen Christen halten, und für einen besonders auserlesenen obendrein. Im selben Atemzug schelten Sie Wegner als begriffsstutzig, und ihren Schlußsatz kann ich nur so deuten, daß Sie nicht-christgläubige Menschen als Tiere schmähen. Ich weiß nicht, ob sich Christus beschämen läßt, aber wenn, dann sind es “Nachfolger” wie Sie, die das schaffen. // So, das mußte jetzt raus.

T. Schneegaß / 05.02.2021

Der Tanzbär wird von evolutionär höher entwickelten Tieren gequält, der Tanzmichel von evolutionär Gleichgestellten. Der Tanzbär hat objektiv keine Chance, der Tanzmichel will subjektiv keine haben.

Henni Gedu / 05.02.2021

Für Kinder gab es eine Lösung. Wenn sie aus den Luftschutzkellern durften, bewegten sie sich als Werwölfe. Ist wieder aktuell. Die Polizei kann nicht überall nach Verrätern suchen. In Berlin (HB, HH?) brennen jede Nacht feindliche Autos. Nennen wir die Jungs Wehrwölfe, sind die Nazis aus dem Bild. Nomen est omen: Sozi & Nazi schreibt sich anders - anderer Wahnsinn, doch gleiche Methode.

Andreas Mertens / 05.02.2021

Vergebliche Worte Hr. Dushan. Der gemeine Michel wurde bereits im Käfig geboren. Er kann nur im Kreis laufen, kann nicht ohne Maulkorb leben..  er kann es einfach nicht. Alles außerhalb der Käfigs macht ihm Angst. Man steckte bereits die Vor-Vorfahren dieses absonderlichen Tier’s namens “Michel” vor langer Zeit in einen Käfig .... den Wohlstandskäfig ... den Gesetzeskäfig ... den Angstkäfig ... den Abhängigkeitskäfig. ... etc. Selbst die Urgroßeltern der heutigen Käfigbewohner waren Käfigbewohner. Kein Lebender in diesem Land hat je gelernt was es heißt frei (und damit aber auch selbstverantwortlich) zu sein. Ein einzig Volk von Untertanen , Claqueuren und Winkmittelträgern. Diese Bande klatscht sogar ihrem Henker zu wenn der nur einen schönen Knoten um ihren Hals knüpft.

M.-A. Schneider / 05.02.2021

Endlich mal wieder ein Wegner!  Vermutlich ist das durchaus eine Strategie unserer Politikdarsteller, dass sie sich der Hoffnung hingeben, die Bürger könnten sich an diesen schon viel zu lange währenden Ausnahmezustand ohne Freiheit gewöhnen und jedes noch so winzige Stück aus dem Grundrechtekatalog, das ihnen dann bei Wohlverhalten großzügigerweise als Privileg häppchenweise zurückgegeben wird, dankbar und ergeben annehmen. Hoffentlich tritt das nicht ein und immer mehr Menschen besinnen sich und fordern massiv sowohl Grundrechte als auch Normalität zurück.

E. Meierdierks / 05.02.2021

Verehrter Herr Wegner, wie immer haben Sie vollendet eine Frage in den Raum geworfen, auf die jeder die Antwort wissen kann, wenn er denn selbst denkt und nicht denken läßt. Ich versuch also mal eine Antwort: das ist der Plan. War er von Anfang an - wenn nicht absichtlich, dann eben unterschwellig, von jemandem, die nach eigenen Aussagen mit Demokratie und Freiheit nicht viel anfangen kann. Meine schlimmste Desillusionierung des vergangenen Jahres ist die Erkenntnis, das die Mehrheit der Deutschen mit beidem ebensowenig anfangen kann. Und daß es in den anderen westlichen Ländern offensichtlich auch so ist. Damals aus dem Ostblock konnte man noch in den freien Westen fliehen - wem erzähle ich das - fliehe ich jetzt in den Osten, der aus Entbehrung noch besser weiß, was Freiheit ist? Wenn die mich überhaupt wollen, wo ich, da muß man ehrlich sein, nicht wirklich und frühzeitig (vor 40 Jahren) genug gegen die Freiheitszerstörung angetreten bin.

E Ekat / 05.02.2021

Diese “Pandemie” bedroht nicht unseren Freiheitswillen, sie hat vielmehr offengelegt, daß dieser nicht vorhanden, wohl längst abhanden gekommen ist. Wie anders ließe sich erklären, daß seit Jahren keine der Restriktionen von Merkel, keiner der Eingriffe in unser Wirtschafts- und Rechtssystem, in unsere Werteordnung zu irgendeiner erfolgreichen Abwehr- Reaktion geführt hat. Ganz im Gegenteil. Man kann über die Betriebsräte in der Autoindustrie beispielsweise nur noch lachen. Sofern Merkel nicht mit übernatürlichen Kräften in Verbindung steht muß man uns, die hiesige Bevölkerung schlicht und einfach als dumpf bezeichnen.  Widerstandskämpfer sind wir - nun zum dritten Male - eher nicht. Uns kann man wahrlich als Kreisgeher bezeichnen.

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