Fred Viebahn / 23.08.2011 / 21:52 / 0 / Seite ausdrucken

Wie dünnhäutig ist die Erde?

Wow! Der Schreck sitzt mir noch in den Gliedern: Gerade wieder daheim angekommen in Virginia nach vier Monaten fast ununterbrochener Reiserei, sitzen wir beim Lunch in der Küche, als ohne jede Vorwarnung unser Haus anfängt, sich wie ein nasser Pudel zu schütteln. In den Schränken klirren die Gläser, ein dekoratives Brotbrett fällt von der Wand. Tornado? Ein rascher Blick aus dem Fenster zeigt unsere sonnendurchflutete grüne Hochsommerlandschaft, in der sich kein Blättchen rührt. Flugzeug in illegalem Tiefflug oder im Absturz begriffen? Quatsch, was einem da durch den Kopf rast: Außer dem Gläserklirren und einem tiefen Grollen, als brauste plötzlich mitten in unserem bukolischen Gefilde eine U-Bahn unter uns durch, ist nichts zu hören.

“Erdbeben”, sagt Rita—sie muß es wissen, denn sie ist vor über zwei Jahrzehnten bei einer Lesereise in Los Angeles mal von einem frühmorgens aus dem Bett gebeutelt worden. Und jetzt?

“Nach unten”, sagt sie,  und rennt schon die Treppe zum Untergeschoß hinunter. Es rumpelt weiter. Ich fühle mich erschreckend hilflos; sind wir wirklich in Gefahr, und in welcher? Noch ist der Strom nicht ausgefallen; sollen wir raus aus dem Haus? Vielleicht ins Auto und auf die Straße, bevor das Gebäude über uns zusammenbricht? Nicht nur der Grund bebt nun—mein Herz bebt mit. Ich drücke den Garagentoröffner und beobachte mit klitzekleiner Erleichterung, wie sich das Tor nach oben schiebt und unsere Auffahrt erscheint. Keine Risse im Asphalt… also nichts wie ins Freie?

Und da, als wäre nie etwas gewesen, ist die Ewigkeit vorbei, die tatsächlich weniger als eine Minute dauerte. Wir wagen uns hinaus; auf der anderen Seite des Hügels bellen wie wild einige Hunde. Sonst ist nichts zu sehen und zu hören; selbst die sonst immer munteren Vögel sind verstummt. Rita versucht mit ihrem Handy zu telefonieren: keine Verbindung. In der Küche, in der außer dem heruntergefallenen Brotbrett nichts Außergewöhnliches zu sehen ist, versuchen wir das Landtelefon: Es ist stumm. Fernseher: Einige Sender zeigen nur Rauschen, aber beim lokalen NBC-Programm ist die Seifenoper unterbrochen worden, und zwei Ansager erklären nervös, sie hätten gerade erfahren, das Epizentrum befände sich etwa dreißig Meilen östlich von uns; man wisse nicht, ob noch mit Nachbeben gerechnet werden müsse, oder dies gar erst die Ankündigung des Hauptbebens sei.

“Nie sowas mitgemacht,” sagt die Ansagerin; “du?”

“Nein,” sagt ihr Kollege; “ich dachte, wir sind hier sicher davor.”

“Neuigkeiten?” fragt die Ansagerin einen unsichtbaren Mitarbeiter hinter der Kamera.

“Wir schalten um nach Washington,” sagt eine Stimme; ich kann mich jetzt partout nicht mehr daran erinnern, ob sie männlich oder weiblich war.

Und schon sehen wir das Pentagon, vor dem sich Beamte scharen. “Bei Erdbeben soll man Gebäude sofort verlassen”, sagt der Reporter in die Kamera.

“Siehst du,” sagt Rita, “ich dachte es mir, war mir aber nicht sicher.”

Der Sender schaltet um nach New York. Auch dort hat’s gebibbert.

Rita versucht wieder zu telefonieren; weiterhin kommt sie weder auf Handy noch Hausanschluß durch. Währenddessen inspiziere ich unsere Wände und Flure; überall hängen Bilder schief. Vielleicht hingen sie ja schon vorher schief, und ich hatte nur nicht darauf geachtet? Zu sehen sind keine weiteren Schäden, und die Klimaanlagen surren wie immer selbstzufrieden vor sich hin. Vom Obergeschoß, aus meinem Arbeitszimmer, höre ich vertraute Skype-Töne klingeln. Nervös, zwei Stufen auf einmal, nehme ich die Treppe. Auf dem Bildschirm das Gesicht unserer Tochter.

“Was ist bei euch los?” fragt sie von ihrem Wohnort im fernen Colorado. “Hab gerade von eurem Erdbeben gehört und versucht, euch anzurufen, kam aber weder auf euren Handys noch dem normalen Anschluß durch.”

“Soweit alles in Ordnung”, sage ich. “Wer hätte gedacht, daß es hier mal Erdbeben geben könnte?”

“Weißt du nicht, daß es ganz in der Nähe eine Verwerfungslinie gibt?” fragt sie. “Ich hab das in der Schule gelernt, und vor ein paar Jahren, als ich noch in Charlottesville lebte, war da schon mal ein Erdbeben; ich hatte ziemliche Angst, weil alles zitterte. Rita und du reistet gerade in der Weltgeschichte herum; ich hab euch davon dann lang und breit erzählt.”

Ich erinnere mich dunkel und sehr abstrakt. Auch damals war nichts Folgenschweres passiert; und man muß wohl selbst dabeigewesen sein, daß sich einem so eine Erfahrung in die Erinnerung graviert. Japan vor ein paar Monaten—das waren zwar Fernsehbilder der Zerstörung und des Grauens, Schlagzeilen für den Schnellkonsum am heimischen Herd, aber körperlich gefühlt haben wir davon nichts. Dagegen—dieses vergleichsweise winzige Rülpsen der Erde jetzt steckt mir gewaltig in den Knochen, und es fühlt sich so an, als bliebe es darin stecken.

Draußen fangen die Vögel wieder an zu singen, als sei nie was gewesen. Gibt die Natur Entwarnung?

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